Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 15.09.1993, Az.: 4 L 3986/93

Erziehunghilfe; Äußerungsfrist; Herkunftsfamilie; Jugendamt; Erziehungsdefizit; Vormundschaft

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
15.09.1993
Aktenzeichen
4 L 3986/93
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 1993, 13653
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:1993:0915.4L3986.93.0A

Verfahrensgang

vorgehend
3 A 223/92.Hi

Tenor:

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - 3. Kammer Hildesheim - vom 11. Juni 1993 wird zurückgewiesen.

Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens. Der Beschluß ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 2.020,-- DM abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

1

Der Kläger begehrt Hilfe zur Erziehung für seine Mündel ... (geboren 1979) und ... (geboren 1982). Deren Eltern sind verstorben. Der Kläger war mit deren Mutter verlobt und ist Vater des 1986 geborenen gemeinsamen Kindes. Er betreut alle drei Kinder nach dem Tod der Mutter (Oktober 1989) allein und ist 1990 zum Vormund von ... und ... bestellt worden.

2

Mit Bescheid vom 21. Januar 1992 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers vom 17. April 1991 ab, ihm Hilfe zur Erziehung zu gewähren, und führte zur Begründung aus: Wirtschaftliche Jugendhilfe könne nur im Zusammenhang mit erzieherischer Hilfe gewährt werden. Diese sei hier nicht erforderlich.

3

Nach erfolglosem Widerspruch hat der Kläger Klage erhoben und beantragt,

4

den Bescheid der Beklagten vom 21. Januar 1992 und deren Widerspruchsbescheid vom 1. Juli 1992 aufzuheben sowie die Beklagte zu verpflichten, ihm Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege zu gewähren.

5

Die Beklagte hat beantragt,

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die Klage abzuweisen.

7

Das Verwaltungsgericht hat der Klage mit der angegriffenen Entscheidung stattgegeben und zur Begründung im wesentlichen den Inhalt des in gleicher Sache ergangenen Eilbeschlusses des Senats vom 25. August 1992 - 4 M 3647/92 - wiederholt.

8

Zur Begründung ihrer Berufung macht die Beklagte geltend: Die erstrebte Jugendhilfe könne nur gewährt werden, wenn ein erzieherischer, nicht jedoch, wenn allein ein wirtschaftlicher Notstand bestehe. Der letzte Fall sei hier gegeben. Außerdem scheitere der Klaganspruch daran, daß neben der Pflegeperson nicht - wie erforderlich - ein Personensorgeberechtigter existiere; beide Personen seien hier identisch. Die vom Senat in seiner Eilentscheidung geäußerte Auffassung führe daher dazu, daß jeder Vormund und jede Person, die Kinder und Jugendliche während eines Auslandsaufenthaltes der Eltern beaufsichtige, Anspruch auf Hilfe zur Erziehung hätten. Eine Klagestattgabe scheitere des weiteren daran, daß sie noch gar nicht entschieden habe, ob die Hilfe notwendig und geeignet sei, und daß sie das bei positiver Beurteilung dieser Frage eröffnete Ermessen noch nicht ausgeübt habe.

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Die Beklagte beantragt sinngemäß,

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das Urteil des Verwaltungsgerichts zu ändern und die Klage abzuweisen.

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Der Kläger beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

13

Er verteidigt die angegriffene Entscheidung.

14

Wegen der Einzelheiten von Vortrag und Sachverhalt wird auf den Inhalt dieser Gerichtsakte und der zum Aktenzeichen 3 B 8/92.Hi sowie des Verwaltungsvorganges der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe

15

Der Senat weist die Berufung durch Beschluß zurück, weil er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält; die Beteiligten sind unter Einräumung einer angemessenen Äußerungsfrist vorher angehört worden (§§ 130 a, 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO).

16

Der Senat nimmt Bezug auf den in gleicher Sache ergangenen Eilbeschluß vom 25. August 1992 - 4 M 3647/92 - und wiederholt dessen tragende Erwägungen, die bereits das Verwaltungsgericht auf S. 4 f. des Urteilsabdrucks wörtlich wiedergegeben hat, nicht erneut in voller Länge. Es sind - knapp zusammengefaßt - die folgenden: Die Art. 1 §§ 27 ff., namentlich §§ 33 und 38 KJHG regeln nur den "Modellfall", in dem eine Herkunftsfamilie noch existiert. Sie sind - wie Art. 1 § 33 Satz 1 KJHG ("... oder ... auf Dauer ...") zeigt - auch dann anzuwenden, wenn die Herkunftsfamilie nicht (mehr) besteht. Ein solcher Fall ist hier gegeben. Denn beide Eltern von ... und ... sind gestorben; durch die Bestellung des Klägers zum Vormund wurde seine Familie nicht zur Herkunftsfamilie im Sinne des Sozialgesetzbuches - Achtes Buch -.

17

Das Berufungsvorbringen rechtfertigt eine andere Beurteilung nicht. Es stellt im wesentlichen allein auf den vom Gesetz vorgesehenen Regel-("Modell"-)Fall ab, daß neben dem Personensorgeberechtigten eine mit ihm nicht identische Pflegeperson existiert. Es geht nicht mit durchgreifenden Gesichtspunkten auf die Erwägung des Senats ein, daß Art. 1 §§ 27 ff. KJHG auch/erst recht die Fälle erfaßt, in denen die Rückkehr in die Herkunftsfamilie ausgeschlossen ist, weil diese nicht mehr existiert. Gerade dann besteht das für die Anwendung der zitierten Vorschriften erforderliche sogenannte Erziehungsdefizit (vgl. OVG Hamburg, Beschl. v. 9. Aug. 1991, ZfSH/SGB 1992, 475, 476). Denn ohne einen Personensorgeberechtigten droht nicht nur ein Mangel an Erziehung, sondern ist eine Erziehung überhaupt nicht gewährleistet (Erziehungsdefizit in der Gestalt des "Totalausfalls"). Werden aus solchen "untergegangenen" Herkunftsfamilien stammende Kinder - wie hier - nicht adoptiert und soll die Heimunterbringung - die in mehrfacher Hinsicht einschneidendere, schlechtere der in Betracht kommenden Möglichkeiten - vermieden werden, muß die staatliche Gemeinschaft deren Lebensunterhalt jedenfalls in der Weise und dem Umfang sicherstellen, daß sie in der Lage sind, Personen zu finden, die anstelle der verstorbenen Eltern die Erziehungsaufgaben übernehmen (vgl. Regierungsentwurf zum KJHG, BT-Drucks. 11/5948, S. 76). Insoweit besteht eben doch ein Zusammenhang zwischen "bloß" wirtschaftlicher und der notwendigen Erziehungshilfe. Denn ohne entsprechendes Entgelt, d.h. bei einer Beschränkung der staatlichen Leistungen auf den notwendigen Lebensunterhalt werden sich nicht genügend Personen bereitfinden, in Vollzeitpflege nach Art. 1 § 33 KJHG die notwendige Erziehung sicherzustellen und dem Kind/Jugendlichen so die Erfahrungen einer Heimunterbringung zu ersparen.

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Ohne Erfolg trägt die Beklagte vor, sie habe die für die Gewährung der begehrten Hilfe erforderliche Eignung des Klägers bislang nicht geprüft. An dieser bestehen nach dem Bericht des Bezirkssozialdienstes der Beklagten vom 7. Januar 1992 über den Hausbesuch vom 11. Dezember 1991 ebensowenig Zweifel wie an der Notwendigkeit der Maßnahmen. Schon 1990 haben das Jugendamt der Beklagten und ihm folgend das Vormundschaftsgericht die Auffassung vertreten, die (weitere) Pflege in der Familie des Klägers entspreche dem Wohl der Kinder. Gesichtspunkte, welche die Richtigkeit des auf S. 2, Abs. 2 der angegriffenen Entscheidung weitgehend wörtlich wiedergegebenen Befundes für spätere Zeiträume in durchgreifende Zweifel ziehen könnten, hat die Beklagte nicht geltend gemacht und sind auch sonst nicht ersichtlich.

19

Gründe, die ausnahmsweise die begehrte Leistung ausschließen ("soll"), sind gleichfalls nicht zu erkennen.

20

Die Nebenentscheidungen folgen aus §§ 188 Satz 2, 154 Abs. 2, 167 Abs. 2 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

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Der Senat läßt die Revision gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zu.

22

Denn es ist von grundsätzlicher Bedeutung, ob. Art. 1 §§ 27, 33 KJHG auch die Fälle ergreift, in denen eine Herkunftsfamilie nicht mehr existiert; höchstrichterliche Rechtsprechung hierzu liegt - soweit ersichtlich - nicht vor.

23

Klay

24

Zeisler

25

Claus