Oberlandesgericht Oldenburg
Urt. v. 01.11.1995, Az.: 2 U 212/95

Grundlagen grober Fahrlässigkeit bei bloßem Einnicken am Steuer ohne besondere Umstände; Anforderungen an die Feststellung der groben Fahrlässigkeit; Durchschnittliche Wachzeit von 17 Stunden unter dem Aspekt einer groben Fahrlässigkeit beim Führen eines Kraffahrzeugs

Bibliographie

Gericht
OLG Oldenburg
Datum
01.11.1995
Aktenzeichen
2 U 212/95
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1995, 29053
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGOL:1995:1101.2U212.95.0A

Amtlicher Leitsatz

Fahrzeugversicherung: Keine grobe Fahrlässigkeit bei bloßem "Einnicken" am Steuer ohne besondere Umstände, auf Grund derer sich Tatsache der Übermüdung aufdrängen musste.

Gründe

1

Die Klägerin hat gegen den Beklagten keinen Schadenersatzanspruch gemäß §§ 823 Abs. 1 BGB, 67 Abs. 1 VVG, 15 Nr. 2 AKB; denn sie hat nicht bewiesen, dass der Versicherungsfall vom Beklagten grob fahrlässig verursacht worden ist. Es kann offen bleiben, ob der Unfall vom 03.05.1994 auf einer Übermüdung des Beklagten beruht.

2

Selbst wenn dies der Fall sein sollte, steht damit nicht fest, dass das Verhalten des Beklagten als grob fahrlässig zu bewerten ist.

3

Grob fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in hohem Maße außer Acht lässt und nicht beachtet, was unter den gegebenen Umständen jedem einleuchten müsste; dabei ist auch in subjektiver Hinsicht ein gegenüber einfacher Fahrlässigkeit gesteigertes Verschulden erforderlich (z. B. BGH VersR 1985, 440; BGH VersR 1989, 141 und 469). Sollte der Beklagte vor dem Unfall kurzzeitig eingeschlafen sein, gereicht die Nichterwartung eines solchen "Einnickens" zwar dem Beklagten zum Verschulden, weil er die Pflicht hat, Schwankungen seines physiologischen Leistungsvermögens ständig mit besonderer Sorgfalt zu beobachten (BGH NJW 1974, 948, 949) [BGH 05.02.1974 - VI ZR 52/72]. Die Feststellung der groben Fahrlässigkeit erfordert indessen die Überzeugung, dass der Kraftfahrer sich über Bedenken hinweggesetzt hat, die angesichts typischer Ursachen oder deutlicher Vorzeichen der Ermüdung sich jedem aufdrängen mussten.

4

Allein der Erfahrungssatz, dass ein Kraftfahrer vor dem Einschlafen stets deutliche Zeichen der Ermüdung wahrnimmt oder zumindest wahrnehmen kann, der Schlaf einen Fahrzeugführer also nicht ohne Vorankündigung überkommt, reicht zur Begründung der groben Fahrlässigkeit nach höchstrichterlicher Rechtsprechung, der der Senat folgt, nicht aus; erforderlich ist vielmehr, das besondere Umstände des gegenwärtigen Falls vorliegen, die den Schluss rechtfertigen, dass der Fahrzeugführer nicht nur die Pflicht zur ständigen Selbstkontrolle verletzt hat, sondern sich über Umstände, die die Gefahr des "Einnickens" erkennbar machten, in einer Weise hinweggesetzt hat, die sein Verhalten als besonders vorwerfbar erscheinen lassen (BGH a.a.O.; BGH VersR 1977, 619; OLG München VersR 1995, 288 [OLG München 28.01.1994 - 10 U 5785/93]).

5

Derartige Umstände sind hier nicht feststellbar. Eine übermäßig lange Wachzeit des Beklagten liegt nicht vor. Nach seinem unwiderlegten Vortrag ist er am Vortage des Unfalls gegen 5.30 Uhr aufgestanden, nachdem er sieben Stunden geschlafen hat. Von 6 Uhr bis 14 Uhr hat er sodann gearbeitet. Nicht widerlegt, sondern von der Zeugin W. sogar bestätigt, ist die Behauptung des Beklagten, er habe kurz nach 14 Uhr bis 16 Uhr einen Mittagsschlaf gehalten.

6

Danach beträgt bis zum Unfall am 03.05.1994 gegen 0.15 Uhr die Wachzeit des Beklagten ca. 19 Stunden, abzüglich der Zeit des Mittagsschlafes sogar nur etwa 17 Stunden. Angesichts einer durchschnittlichen Wachzeit von etwa 17 Stunden liegen hier keine Besonderheiten vor, die die Annahme rechtfertigen könnten, dem Beklagten hätte sich vor dem Unfall eine Übermüdung in besonderem Maße aufdrängen müssen.

7

Zudem haben - wie sich aus der im ersten Rechtszug durchgeführten Beweisaufnahme ergibt - vor dem Unfall die Zeugen B. und R. keine Müdigkeit des Beklagten festgestellt; auch nach dem Unfall haben die Polizeibeamten K. und W. keine Anzeichen der Übermüdung beim Beklagten bemerkt, obwohl sie diesen nach den Feststellungen am Unfallort noch nach hause brachten und ihnen deshalb eine Beobachtungszeit von etwa 45 Min. zur Verfügung stand.

8

Schließlich hat der Beklagte vor dem Unfall auch keine besonders lange Fahrt mit seinem Fahrzeug absolviert, sodass auch insoweit besondere Umstände fehlen, die die Annahme rechtfertigen könnten, dem Beklagten hätte sich eine Übermüdung aufdrängen müssen. Nach dem nicht widerlegten - von den Zeugen B. und R. im Wesentlichen vielmehr bestätigten - Vortrag des Beklagten fuhr dieser am 02.05.1994 gegen 23.15 Uhr von O. nach B. mit dem Fahrzeug des Zeugen R., welches auch von diesem geführt wurde, zurück. Der Zeuge B. stieg sodann in B. in das Fahrzeug des Beklagten, welcher den Zeugen zur Kaserne nach F. brachte, wo beide gegen 24 Uhr ankamen. Bis zum Unfallzeitpunkt gegen 0.15 Uhr am 03.05.1994 hatte der Beklagte damit lediglich eine Fahrtzeit von etwa 30 Min. selbst als Fahrzeugführer absolviert.

9

Unerheblich ist der Vortrag der Berufung, auf Grund des Alters des Beklagten im Unfallzeitpunkt von knapp 18 Jahren "müsse davon ausgegangen werden, dass der Unfall auch durch fehlende Fahrerfahrung des Beklagten maßgeblich beeinflusst worden sei". Zum einen handelt es sich dabei, wie aus der zitierten Formulierung ohne weiteres erkennbar ist, um eine bloße Vermutung der Klägerin. Zum anderen ist nicht ersichtlich, weshalb eine fehlende Erfahrung des Beklagten den Vorwurf der groben Fahrlässigkeit hier rechtfertigen könnte.

10

Die Auffassung der Klägerin, das Verhalten des Beklagten sei als grob fahrlässig zu bewerten, erweist sich auch unter Berücksichtigung der von ihr im ersten Rechtszug zitierten Entscheidungen als nicht zutreffend. In dem Urteil des Landgerichts Stuttgart (VersR 1993, 1350) sind im Gegensatz zum vorliegenden Fall gerade besondere Umstände festgestellt worden, die den Vorwurf der groben Fahrlässigkeit rechtfertigten. Im dortigen Fall lag nämlich eine besonders lange Fahrtätigkeit des Fahrzeugführers vor, weshalb dieser vor dem Unfall wiederholt anhalten musste und um den Wagen lief, um überhaupt wach bleiben zu können. Soweit die Entscheidung des OLG Frankfurt (NZV 1993, 32) dahingehend zu verstehen sein sollte, dass schon beim Auftreten erster Übermüdungserscheinungen stets ein grob fahrlässiges Verhalten vorliegt, falls der Fahrer die Fahrt fortsetzt, vermag der Senat sich dem nicht anzuschließen, da eine solche Rechtsauffassung in Widerspruch zu den genannten Entscheidungen des Bundesgerichtshofes steht.