Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 18.06.2015, Az.: 1 ME 77/15

Baugrenze; Nachbarschutz; Einblick; Grenzabstand; Rücksichtnahme; Rücksichtnahmegebot

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
18.06.2015
Aktenzeichen
1 ME 77/15
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2015, 45286
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 27.04.2015 - AZ: 2 B 16/15

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Auch im Bebauungsplan festgesetzte seitliche und rückwärtige Baugrenzen entfalten nur dann nachbarschützende Wirkung, wenn sich der Auslegung des Bebauungsplans Anhaltspunkte für einen entsprechenden planerischen Willen der Gemeinde entnehmen lassen; eine Vermutung für den Drittschutz gibt es nicht (Anschluss an Senatsbeschl. v. 15.11.2006 - 1 ME 194/06 - und v. 31.10.2007 - 1 ME 277/07).

Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme durch Errichtung eines vierstöckigen Mehrfamilienhauses mit Balkonen nahe einem Reihenhaus (hier verneint).

Tenor:

Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Lüneburg - 2. Kammer - vom 27. April 2015 wird zurückgewiesen.

Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens. Die Kosten der Beigeladenen sind erstattungsfähig.

Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 7.500,- € festgesetzt.

Gründe

Die Antragstellerin begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die Genehmigung eines Mehrfamilienhauses, von dem sie unzumutbare Einsichtmöglichkeiten auf ihr Reihenhausgrundstück befürchtet.

Die Antragstellerin ist Eigentümerin des südlichen Endgrundstücks einer in Nord-Süd-Richtung verlaufenden Reihenhauszeile. Auf dem weitläufigen, südlich davon gelegenen Flurstück E. sieht der Bebauungsplan „Alter Schützenplatz“ der Antragsgegnerin ein allgemeines Wohngebiet mit viergeschossiger Bauweise vor; festgesetzt sind zwei Baufenster, deren Abmessungen der Grundfläche eines auf dem südlich gelegenen Flurstück F. bereits vorhandenen, länglichen Mehrfamilienhauses entsprachen. Das nördliche Baufenster ist etwa im rechten Winkel zur Grundstücksgrenze der Antragstellerin angeordnet; die nördliche Schmalseite verläuft dabei in einem Abstand von 12 m parallel zur nördlichen Grundstücksgrenze, gegenüber dem östlichen Nachbargrundstück der Antragstellerin. In der Planbegründung heißt es unter anderem:

„2.3 Städtebaulicher Leitgedanke

Der reich differenzierte Bestand an Bauformen im Plangebiet sowie der wertvolle alte Baumbestand bestimmen den Charakter der Planung. In einer der jeweiligen Nachbarschaft angepaßten Abstufung der Bebauung soll ein abwechslungsreiches Wohnmilieu geschaffen werden.“

Am 11.9.2013 erteilte die Antragsgegnerin der Beigeladenen die Baugenehmigung zur Errichtung zweier Mehrfamilienhäuser mit vier Vollgeschossen und einem Dachgeschoss auf dem Flurstück E.. Das nördliche Gebäude sollte gegenüber dem oben beschriebenen Baufenster um ca. 13° entgegen dem Uhrzeigersinn gedreht und etwas nach Norden verschoben werden, so dass seine Nordwestecke ca. 10,4 m Abstand zur Grundstücksgrenze der Antragstellerin gehabt hätte; hierfür erteilte die Antragsgegnerin der Beigeladenen mit der Baugenehmigung eine Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans. Mit Nachtragsbaugenehmigung vom 11.9.2014 gestattete die Antragsgegnerin eine nochmalige leichte Drehung des Gebäudes entgegen dem Uhrzeigersinn, verbunden mit einer leichten Versetzung nach Südwesten. Die Nordwestecke liegt nunmehr nur geringfügig nordwestlich der Nordwestecke des Baufensters, die Nordostecke nähert sich freilich der Grenze des Nachbargrundstücks bis auf 7,90 m an. An der Westseite des Gebäudes sind im Norden, in der Mitte und im Süden Balkone vorgesehen.

Gegen die Baugenehmigung in Gestalt der Nachtragsbaugenehmigung hat die Antragstellerin Widerspruch erhoben und beim Verwaltungsgericht die Anordnung von dessen aufschiebender Wirkung beantragt. Das Verwaltungsgericht hat den Antrag mit der Begründung abgelehnt, die Genehmigung verletze voraussichtlich keine Rechte der Antragstellerin. Die Baugrenzen, von deren Einhaltung eine Befreiung erteilt worden sei, seien nicht mit drittschützender Wirkung festgesetzt. Drittschutz entfalteten Baugrenzen als Festsetzungen des Maßes der baulichen Nutzung nur dann, wenn sich ausdrückliche Anhaltspunkte für einen entsprechenden Willen des Plangebers fänden.  Das sei hier nicht der Fall. Das Gebot der Rücksichtnahme sei ebenfalls nicht verletzt. Das Vorhaben halte die Grenzabstände nach § 5 NBauO ein. Die im Plan festgesetzten Baugrenzen seien nur minimal überschritten. Es würden auch keine unzumutbaren Einsichtmöglichkeiten in das Grundstück der Antragstellerin geschaffen. Speziell im Gebiet der geschlossenen Bauweise müsse allgemein ein erhebliches Maß an gegenseitigen Einsichtnahmemöglichkeiten hingenommen werden; eine Verletzung des Rücksichtnahmegebotes komme nur in absoluten Ausnahmefällen in Betracht. An der Nordseite des Gebäudes lägen nur Bade- und Schlafzimmerfenster. Einsichtnahme sei lediglich von den Balkonen an der Nordwestecke des Gebäudes zu befürchten, jedoch nur, wenn sich die Nutzer gezielt in Richtung des Grundstücks der Antragstellerin drehten.

Die hiergegen erhobene Beschwerde, auf deren fristgemäß vorgetragene Gründe die Prüfung des Senats gem. § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, hat keinen Erfolg.

Die zur Begründung der Beschwerde vorgetragene Auffassung der Antragstellerin, die im Bebauungsplan „Alter Schützenplatz“ der Antragsgegnerin festgesetzte seitliche Baugrenze entfalte zu ihren Gunsten drittschützende Wirkung, teilt der Senat nicht. Zutreffend hat das Verwaltungsgericht darauf hingewiesen, dass die Festsetzung – auch seitlicher – Baugrenzen nach der Rechtsprechung des Senats nur dann als drittschützend anzusehen sind, wenn sich der Auslegung des Bebauungsplans Anhaltspunkte für einen entsprechenden planerischen Willen der Gemeinde entnehmen lassen; eine Vermutung für den Drittschutz gibt es nicht (Senatsbeschl. v. 15.11.2006 - 1 ME 194/06 -, NdsVBl. 2007, 136 = juris Rn. 8; v. 31.10.2007 - 1 ME 277/07 -, NdsVBl. 2008, 76 = juris Rn. 5, jeweils m.w.N.). Aussagekräftige Indizien für eine ausnahmsweise drittschützende Funktion liegen hier nicht vor. Der Bebauungsplan „Alter Schützenplatz“ setzt das Instrument der Baugrenze nicht nur dort ein, wo nachbarliche Interessengegensätze zumindest ansatzweise erkennbar sind; vielmehr werden flächendeckend, unabhängig vom Vorhandensein potentiell schutzbedürftiger Nachbarbebauung relativ enge Baufenster festgesetzt. Das lässt, da eine differenzierende Betrachtung der Baugrenzen in der Planbegründung nicht erfolgt, eher auf das Ziel, ein bestimmtes Ortsbild zu gestalten, als auf die Absicht, Nachbarinteressen zu wahren, schließen. Für die nördliche Baugrenze auf dem Beigeladenengrundstück gilt nichts anderes. Mit 12 m Abstand ist diese von der nördlichen Grundstücksgrenze gerade so weit entfernt, dass bei Ausnutzung der zwingend vorgesehenen viergeschossigen Bauweise der damals geltende Grenzabstand von 1 H eingehalten werden konnte. Die Baugrenze regelt zugunsten des Nachbarn also nichts, was nicht durch das seinerzeit geltende Bauordnungsrecht ohnehin vorgegeben war. Einen eigenen auf das nachbarschaftliche Austauschverhältnis bezogenen Gestaltungswillen des Plangebers lässt sie nicht erkennen. Die Form der Baufenster indiziert vielmehr, dass die planerische Absicht war, drei weitere dem vorgefundenen Haus Lilienweg 7 gleichende Baukörper, leicht versetzt, aber in etwa gleichen Abständen in Nord-Süd-Richtung auf die Flurstücke E. und F. zu verteilen. Dies ist ein offenkundig ortsbild- und nicht nachbarschaftsbezogenes Ziel. Angesichts dessen kann auch aus der Formulierung in der Planbegründung, es solle „in einer der jeweiligen Nachbarschaft angepaßten Abstufung der Bebauung“ ein abwechslungsreiches Wohnmilieu geschaffen werden, nicht auf den drittschützenden Charakter bestimmter Baugrenzen geschlossen werden. Vielmehr bezieht sich diese als „städtebaulicher Leitgedanke“ bezeichnete Erwägung offenbar auf die allgemeine Gliederung des Baugebiets mit Reihenhäusern im Norden und Westen, Mehrfamilienhausbebauung unterschiedlicher Größe im Süden und Osten.

Das Vorhaben verletzt nicht das Gebot der Rücksichtnahme. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird insoweit gem. § 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO auf die zutreffenden Gründe des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Bezug genommen. Mit Blick auf das Beschwerdevorbringen ist ergänzend auszuführen: Inwieweit durch die nochmalige leichte „Drehung“ des Baukörpers gegenüber der Baugenehmigung vom 11.9.2013, die neben dem Abrücken vom Antragstellergrundstück Gegenstand der Nachtragsbaugenehmigung vom 11.9.2014 war, zusätzliche Nachteile für die Antragstellerin entstanden sind, ist unerheblich, da die Baugenehmigung vom 11.9.2013 nicht die Grenze des nachbarrechtlich gerade noch Zumutbaren darstellt. Unabhängig davon dürfte sich diese Drehung eher zugunsten der Antragstellerin auswirken. Sie mag zwar bewirken, dass die Nordwestecke des Gebäudes geringfügig nach (Süd-)Westen verschoben wird, so dass die Nordfassade dem Grundstück der Antragstellerin auf einer geringfügig breiteren Fläche gegenüberliegt. An der Nordseite des Gebäudes liegen aber unstreitig mit Bade- und Schlafzimmern nur Räume, von denen aus eine Einsichtnahme in das Antragstellergrundstück eher selten zu erwarten ist. Die Westfassade mit den Balkonen wird durch die Drehung stärker vom Antragstellergrundstück abgekehrt; und je weiter sie nach Westen verschoben wird, desto geringer ist die Gefahr einer Einsichtnahme. Ohne Erfolg rügt die Antragstellerin auch, das Verwaltungsgericht habe unberücksichtigt gelassen, dass eine Einsichtmöglichkeit nicht nur von den auf der Nordseite des Hauses gelegenen Wohnungen Nr. 5, 10, 15, 20 und 25, sondern auch von den Balkonen der auf der Südseite des Hauses gelegenen Wohnungen bestehe. Zwar mag es mit einiger Anstrengung tatsächlich möglich sein, auch von diesen Balkonen aus den rückwärtigen Teil des Gartens der Antragstellerin einzusehen – obgleich gerade diese Möglichkeit durch die gegenüber dem festgesetzten Baufenster erfolgte Drehung des Gebäudes eingeschränkt wird. Mit Blick auf die erhebliche Entfernung zwischen diesen Balkonen und der Grundstücksgrenze konnte das Verwaltungsgericht bei seiner Zumutbarkeitsprüfung diese Einsichtsmöglichkeit indes außer Betracht lassen. Soweit die Antragstellerin schließlich die Zwischenlagerung von Sand an ihrer Grundstücksgrenze rügt, ist eine Relevanz für die Frage, ob das genehmigte Gebäude dem Gebot der Rücksichtnahme genügt, nicht zu erkennen; eine bestimmte Form der Baustelleneinrichtung ist nicht Gegenstand der angegriffenen Baugenehmigung.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1, 47 Abs. 1 Satz 1 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).