Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 25.11.2005, Az.: 6 A 260/05

Abschiebestopp; Abschiebungshindernis; Abschiebungsschutz; Asyl; Asylbewerber; Erlasslage; Gefahrenlage; Irak; politische Verfolgung; Verfolgung

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
25.11.2005
Aktenzeichen
6 A 260/05
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2005, 51029
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Die gegenwärtige Gefahrenlage im Irak könnte über eine verfassungskonforme Auslegung des § 60 Abs. 7 AufenthG zu einem Abschiebungsschutz führen.

Die hierauf gerichtete Klage kann gleichwohl keinen Erfolg haben, weil wegen des von der Innenministerkonferenz verfügten Abschiebestopps, auf dessen Beachtung das Nds.MI durch Erlass hingewiesen hat, eine dem § 60 a Abs.1 Satz 1 AufenthG vergleichbare Erlasslage besteht.

Tatbestand:

1

Mit der Klage begehrt der Kläger seine Anerkennung als Asylberechtigter.

2

Der 1981 in B. geborene Kläger ist irakischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit und moslemischen Glaubens. Er reiste nach seinen Angaben per Flugzeug von Istanbul nach Berlin am 14. Dezember 2001 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 17. Dezember 2001 in Halberstadt einen Asylantrag.

3

Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge am 10. Januar 2002 in Braunschweig machte er im wesentlichen folgende Angaben:

4

Er habe seinen 1999 dreimonatigen Grundwehrdienst abgeleistet und sich vom übrigen Militärdienst freigekauft. Er habe am 1. Dezember 2001 morgens auf dem Weg zum Bäcker ein altes Taxi gesehen. Auf der Straße habe auch ein ihm bekannter Hauptmann gestanden. Beim Bäcker habe ihm sein jüngerer Bruder gewarnt, nicht nach Hause zurückzukehren, weil alle Jugendlichen und Männer im Umkreis seines Hauses festgenommen worden seien. In dem Auto habe sich Sprengstoff befunden. Dieses habe möglicherweise einem General gehört, der den Hauptmann habe besuchen wollen. Seine Mutter habe die Familie des Hauptmanns mehrfach gebeten, man möge ihn in Ruhe lassen. Es habe aber nichts genützt, es sei vielmehr zu weiteren Festnahmen gekommen. Daraufhin habe er das Land verlassen und zwar zunächst per Lkw nach Istanbul und dann mit einem Flugzeug nach Berlin. Irgendwelche Unterlagen über den Flug habe er nicht mehr. Diese habe ihm der Schlepper abgenommen.

5

Mit Bescheid vom 12. Februar 2002 lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge den Asylantrag ab, stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG und Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen. Gleichzeitig wurde der Kläger aufgefordert die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen und für den Fall der Nichtbefolgung wurde ihm die Abschiebung in den Irak angedroht.

6

Nach Zustellung des Bescheides am 13. Februar 2002 hat der Kläger dann am 27. Februar 2002 die Klage erhoben.

7

Zur Begründung trägt er im wesentlichen vor, er sei vorverfolgt aus dem Irak ausgereist. Er habe keine inländische Fluchtalternative, weil er keine Verwandten in den nordirakischen Gebieten habe; vielmehr lebten diese in Bagdad, Makhmur, Kerkuk und Mosul. Da er auch über kein größeres Barvermögen verfüge, sei ein wirtschaftliches Existenzminimum nicht gewährleistet.

8

Der Kläger beantragt,

9

den Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 12. Februar 2002 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihn als Asylberechtigten anzuerkennen,

10

die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen,

11

hilfsweise,

12

dass Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen.

13

Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,

14

die Klage abzuweisen.

15

Durch Beschluss vom 22. März 2005 hat die Kammer den Rechtsstreit dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.

16

Durch Beschluss vom 14. April 2005 hat das Gericht den Prozesskostenhilfeantrag als unbegründet abgelehnt.

17

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten sowie der Ausländerbehörde verwiesen.

Entscheidungsgründe

18

Die zulässige Klage ist nicht begründet.

19

Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 12. Februar 2002 ist rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter. Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG liegen nicht vor. Ein Anspruch auf Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG besteht ebenfalls nicht.

20

Der Anspruch auf Zuerkennung des Asylgrundrechts scheitert im Falle des Klägers schon daran, dass der Einreiseweg unaufklärbar geblieben ist. Damit trägt der Asylbewerber die materielle Beweislast für seine Behauptung, ohne Berührung eines sicheren Drittstaates (Art. 16 a Abs. 2 GG, § 26 a AsylVfG) auf dem Luftweg nach Deutschland eingereist zu sein (BVerwG, DVBl. 2000, Seite 414). Diese Beweislast wirkst sich hier zu Lasten des Klägers aus. Seine minimalen Angaben sind unüberprüfbar und nicht glaubhaft. So hat er keinerlei Dokumente (Bordkarte oder ähnliches) vorlegen können, die seine Angabe belegen könnte. Lediglich die Flugdauer und den Landezeitpunkt zu benennen reicht nicht annähernd aus; diese Angaben sind jedem Flugplan zu entnehmen. Letztlich ist es auch völlig realitätsfern, dass der über eine solide Schulbildung verfügende Kläger nicht wissen will, auf welchen Namen der Pass ausgestellt war, den er zur Einreise benutzt haben will.

21

Auch die Vorschriften des § 60 AufenthG stehen einer Ausreise des Klägers nicht entgegen.

22

Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf ein Ausländer in Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge - Genfer Flüchtlingskonvention - nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Das Abschiebungsverbot nach dieser Vorschrift deckt sich in seinen Voraussetzungen im Wesentlichen mit denen der politischen Verfolgung i.S.d. Art. 16a Abs. 1 GG; die Vorschrift hat ihre besondere Bedeutung in den Fällen, in denen ein politisch verfolgter Asylsuchender nicht als Asylberechtigter anerkannt werden kann (z.B. wegen der Einreise aus einem sicheren Drittstaat) oder wenn subjektive Nachfluchtgründe vorliegen, die im Rahmen des Art. 16a Abs. 1 GG unbeachtlich sind. Seit dem Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes zum 1. Januar 2005 kommt hinzu, dass nach § 60 Abs. 1 Satz 3 und 4 AufenthG die geschlechtsspezifische und nunmehr auch - im Gegensatz zum bisherigen Recht (vgl. hierzu etwa BVerwG, Urt. v. 20.2.2001 - 9 C 20.00 -, NVwZ 2001, 815 m.w.N.) - die nichtstaatliche Verfolgung als abschiebungsschutzrechtlich relevanter Fluchtgrund anerkannt ist. Eine Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann danach neben dem Staat (a) und Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschen (b) auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern die unter den Buchstaben a) und b) genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder Willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine inländische Fluchtalternative.

23

Nach diesen Grundsätzen hat der Kläger in dem nach § 77 Abs. 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung keinen Anspruch auf die Gewährung von Abschiebungsschutz gem. § 60 Abs. 1 AufenthG. Dabei kann offen bleiben, ob der Kläger vorverfolgt ausgereist ist.

24

Die politische Lage im Irak hat sich durch die am 20. März 2003 begonnene und am 1. Mai 2003 durch die Erklärung des US-Präsidenten Bush als beendet erklärte Militäraktion grundlegend verändert. Das bis zum Kriegsausbruch herrschende maßgeblich von der irakischen Baath-Partei und dem persönlichen Einflussbereich der Familie des früheren Staatsoberhaupts Saddam Hussein geprägte Herrschaftssystem hat, namentlich nach der Festnahme Saddam Husseins im Dezember 2003, seine politische und militärische Herrschaft über den Irak vollständig verloren. Der Sturz des Regimes ist nach den vorliegenden Erkenntnissen eindeutig und unumkehrbar. Das gilt trotz der nach wie vor sehr angespannten Sicherheitslage. Eine Rückkehr der früheren Regierung wird nach den derzeitigen Verhältnissen und in Anbetracht der offenkundig veränderten politischen Gegebenheiten als ausgeschlossen angesehen. Inzwischen ist ein (Übergangs-)Parlament gewählt worden. Der Kurde Talabani wurde vom Parlament als Präsident gewählt. Auch eine Regierung ist inzwischen ernannt worden. Das Übergangsparlament hat einen Verfassungsentwurf erarbeitet, auf dessen Grundlage bis Ende 2005 Parlamentswahlen stattfinden sollen.

25

Durch den politischen Systemwechsel im Irak ist die vom früheren Regime Saddam Husseins ausgehende Gefahr einer politischen Verfolgung landesweit entfallen. Es ist nicht davon auszugehen, dass das frühere Regime wieder an die Macht gelangen und staatliche Verfolgungsmaßnahmen veranlassen kann. Verfolgungsmaßnahmen der Übergangsregierung des Iraks sind nicht zu erwarten. Die Errichtung eines irakischen Regimes vergleichbar dem des früheren Herrschaftssystems ist in absehbarer Zeit nicht zu prognostizieren. Demnach hat ein Verhalten, welches unter dem Regime Saddam Husseins zu einer Gefährdung hätte führen können, insbesondere die illegale Ausreise aus dem Irak, das illegale Verbleiben im Ausland und die dortige Asylantragstellung aber auch ein sonstiges, vom früheren Regime als feindselig empfundenes Verhalten vor der Ausreise aus dem Irak seine asylrechtliche Bedeutung verloren.

26

Nach der derzeitigen Erkenntnislage ist auch nicht feststellbar, dass dem Kläger zur Zeit oder in absehbarer Zukunft von Parteien oder Organisationen, die den Irak oder wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschen, oder von nichtstaatlichen Akteuren eine landesweit politische Verfolgung droht.

27

Ausreichende Anhaltspunkte für eine mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende gruppengerichtete Verfolgung fehlen gleichfalls.

28

Abschiebungshindernisse gem. § 60 Abs. 2 bis 5 AufenthG sind nicht ersichtlich.

29

Die Klage muss auch erfolglos bleiben, soweit der Kläger die Feststellung von Abschiebungshindernissen gem. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begehrt.

30

Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Gefahren in diesem Staat, denen die Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, werden gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG bei Entscheidungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG berücksichtigt. Nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann die oberste Landesbehörde aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland anordnen, dass die Abschiebung von Ausländern aus bestimmten Staaten oder von in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen allgemein oder in bestimmten Staaten für längstens sechs Monate ausgesetzt wird. Liegt eine derartige Erlasslage i.S.d. § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG vor, welche dem betroffenen Ausländer einen gleichwertigen Abschiebungsschutz wie § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vermittelt, scheidet ein Anspruch auf Feststellung von individuellen Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG wegen dieser Gefahren aus (vgl. zu § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG: BVerwG, Beschl. v. 28.8.2003 - 1 B 192/03 - Buchholz 402.240 § 54 AuslG Nr. 7). Dieses gilt aber auch für jede andere ausländerrechtliche Erlasslage, wenn dem Ausländer hierdurch ein vergleichbarer wirksamer Schutz vor Abschiebung gewährt wird (vgl. BVerwG, Urt. v. 12.7.2001 - 1 C 2/01 - BVerwGE 114, 379).

31

Im vorliegenden Fall besteht ein solcher gleichwertiger Abschiebungsschutz. Eine Abschiebung irakischer Staatsangehöriger droht gegenwärtig und in naher Zukunft nicht. Denn das Niedersächsische Ministerium für Inneres und Sport hat im Erlasswege mit Rundschreiben vom 19. Juli 2004 (Az.: 45.11-12235/12-6-5) darauf hingewiesen, dass nach dem Beschluss der Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder vom 7./8. Juli 2004 weiterhin eine tatsächliche Unmöglichkeit der zwangsweisen Rückführung vollziehbar ausreisepflichtiger irakischer Staatsangehöriger in den Irak besteht und verfügt, dass in diesen Fällen weiterhin Duldungen für die Dauer von sechs Monaten zu erteilen sind. Dieser Erlass hat weiterhin Gültigkeit und findet seitens der Ausländerbehörden Beachtung. Die Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder hat wiederholt, zuletzt am 24. Juni 2005, die Einschätzung des Bundes geteilt, dass ein Beginn von zwangsweisen Rückführungen in den Irak nicht möglich ist (vgl. Asylmagazin 2005/1 Seite 5). Damit sind die betroffenen Ausländer derzeit wirksam vor einer Abschiebung in den Irak geschützt, so dass ihnen nicht zusätzlich Schutz vor der Durchführung der Abschiebung nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren ist (vgl. ebenso VGH München, Urt. v. 3.3.2005 - 23 B 04.30734 - ; und zu § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG: VGH Mannheim, Urt. v. 16.9.2004 - A 2 S 471/02 - ; OVG Münster, Urt. v. 6.7.2004 - 9 A 1406/02.A - Veröffentlichung nicht bekannt).

32

Der Ausländer ist im Falle einer Änderung der Erlasslage nicht schutzlos gestellt, denn im Falle der Nichtverlängerung der sein Heimatland betreffenden Erlasslage kann er unter Berufung auf eine extreme Gefahrenlage jederzeit ein Wiederaufgreifen des Verfahrens bei dem Bundesamt verlangen und den geltend gemachten Anspruch gegebenenfalls gerichtlich weiter verfolgen (vgl. BVerwG, Urt. v. 12.7.2001 a.a.O.; Beschl. v. 28.8.2003 a.a.O.) und bei unmittelbar drohender Abschiebung gerichtlich gegen Abschiebmaßnahmen der Ausländerbehörde vorgehen.

33

Die Kammer weist vorsorglich darauf hin, dass ohne die vorgenannte Erlasslage Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren sein dürfte, da nach den vorliegenden Erkenntnisquellen Überwiegendes für die Annahme spricht, dass gegenwärtig für jeden in seine Heimat zurückkehrenden Iraker landesweit eine extreme allgemeine Gefahrenlage besteht. Zwar können Gefahren, wenn sie nicht nur den betreffenden Ausländer, sondern bestimmten Bevölkerungsgruppen oder der Bevölkerung des Abschiebezielstaats insgesamt drohen, grundsätzlich nur bei Entscheidungen der obersten Landesbehörde nach § 60a AufenthG berücksichtigt werden. Fehlt jedoch eine solche Anordnung, führen allgemeine Gefahren auch im Einzelfall unbeschadet der sonst geltenden Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG zu einem zwingenden Abschiebungshindernis nach Satz 1 der Regelung, wenn angesichts dieser Gefahren eine Abschiebung des betreffenden Ausländers unter Würdigung des in seinem Falle verfassungsrechtlich gebotenen Schutzes nicht verantwortet werden kann. Dies ist dann zu bejahen, wenn die oberste Landesbehörde trotz einer landesweit bestehenden extremen allgemeinen Gefahrenlage, die jeden einzelnen Ausländer im Falle seiner Abschiebung gleichsam sehenden Auges in den sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausliefern würde, einen generellen Abschiebestopp nicht verfügt hat (vgl. zu § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG: BVerwG, Urt. v. 12.7.2001 a.a.O.).

34

Der Sturz der ehemaligen Regierung und die Beseitigung der autoritären Zentralgewalt haben im Irak einen Machtkampf verschiedener Gruppierungen ausgelöst, der zum Teil gewaltsam ausgetragen wird. Aufständische kontrollieren Teile des irakischen Staatsgebietes, vor allem im Zentralirak. Eine effektive Herrschaftsgewalt der irakischen Übergangsregierung ist dort nicht vorhanden. Vor allem Personen, die sich um die Wiederherstellung von Sicherheit und Ordnung und den Wiederaufbau der hierzu erforderlichen staatlichen Strukturen im Irak bemühen, z.B. Polizisten, Richter, Rechtsanwälte, Verwaltungsangestellte und Mitarbeiter, aber auch tatsächliche oder vermeintliche Sympathisanten der irakischen Übergangsregierung, sind in besonderem Maße gefährdet, Opfer zielgerichteter Verfolgung solcher nicht staatlicher Akteure zu werden (UNHCR, Anm. zur Anwendung der Beendigungsklausel auf irakische und afghanische Flüchtlinge, 20.4.2005). Somit können auch heimkehrende Asylbewerber in erhöhtem Maße potentielle Opfer von Gewalttaten sein, weil sie durch die Tatsache ihrer Heimkehr zu erkennen geben, dass sie mit dem neuen, im Entstehen begriffenen Irak sympathisieren. Die allgemeine Sicherheitslage hat sich nach dem Ende der Hauptkampfhandlungen Ende Mai 2003 verschärft. Gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen militanten Oppositionellen und regulären Sicherheitskräften sowie terroristische Anschläge sind an der Tagesordnung. In dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom Mai 2005 wird ausgeführt, seit Juni 2004 seien nach Medienangaben mehr als 2.1000 irakische Polizisten getötet worden. Die Anzahl der Opfer unter den Zivilisten wurde danach auf weit über 15.000, zum Teil sogar auf 100.000 geschätzt.

35

Seit der Ernennung der neuen von Schiiten geführten Regierung am 28. April 2005 hat sich die Situation erneut verschärft. Während nach Presseberichten zwischen Ende Januar und Ende April 2005 bei Bombenanschlägen im ganzen Land über 600 Menschen starben, kamen seit der Vereidigung der neuen Regierung bis Ende Mai 2005 etwa 700 Menschen bei Terroranschlägen und Guerillakämpfen ums Leben (Die Zeit, 19.5.05; SZ 21.5.05; NZZ 25.5.05; Die Welt 1.6.05). Danach sind allein im Mai ca. 400 Anschläge pro Woche im Irak gemeldet worden. Insgesamt sind nach Berichten von Januar bis Juni 2005 insgesamt 1.594 Zivilisten, 620 Polizisten und 275 irakische Soldaten getötet worden (Nürnberger Zeitung 15.7.05).

36

Die Beratungen zum Entwurf einer Verfassung über die ursprünglich am 15. Oktober 2005 eine Volksabstimmung stattfinden sollte, haben zu erheblichen Differenzen zwischen den drei wichtigen Gruppierungen der Kurden, Schiiten und Sunniten geführt und wurden von weiteren Anschlägen und gewalttätigen Auseinandersetzungen begleitet. Die Anschläge auf Zivilisten verstärken sich, um die verfeindeten Gruppierungen noch weiter zu polarisieren. So wurden Mitte September mehrere verheerende Anschläge gegen Unbeteiligte, Kinder, Frauen und Männer, verübt. Die zur Zeit bestehende Gefahrenlage bedingt, dass die Deutsche Botschaft in Bagdad wegen der sich verschlechternden Sicherheitslage nut einen Notbetrieb aufrechterhält und keine Amtshilfeersuchen bearbeitet (vgl. Auskunft v. 6.4.2005 an das VG Sigmaringen). Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen ist davon auszugehen, dass es im Vorfeld der Parlamentswahl zu einer weiteren Eskalation der ohnehin schon extremen Gefahrenlage kommen kann. Der Irak insgesamt befindet sich am Rande eines Bürgerkrieges.

37

Weiterhin wird von einem starken Anstieg der allgemeinen Kriminalität in den Monaten nach dem Sturz des früheren Regimes berichtet, sie sei an manchen Orten weiterhin völlig außer Kontrolle (Lagebericht Auswärtiges Amt, Stand: Mai 2005). Eine Verfolgung von einzelnen Straftätern findet danach so gut wie nicht statt. Der Aufruf der Besatzungsmächte im Juni 2003, die Bevölkerung möge automatische und schwere Waffen abgeben, hatte kaum Erfolg. Wenngleich von begrenzten Erfolgen im Kampf gegen die allgemeine Kriminalität berichtet wird, so wird doch darauf hingewiesen, dass Überfälle und Entführungen noch immer an der Tagesordnung sind und sich die Sicherheitslage durch die im Oktober 2002 von Saddam Hussein verfügte total Amnesie, bei der über 100.000 Straftäter freigelassen worden sein sollen, nachteilig entwickelt hat. Es sei ein regelrechter Markt für Geiseln entstanden, der die Zahl der Entführungen von Ausländern, aber auch die Gefahr für die irakische Zivilbevölkerung erhöht habe.

38

Der UNHCR berichtet in seiner Auskunft an das Verwaltungsgericht Ansbach vom 2. August 2005 unter Berufung auf Angaben des World Food Program von einer insgesamt mangelhaften Ernährungssituation. Diese habe zu einer weiten Verbreitung krankhafter Ernährungsstörungen, insbesondere auch bei Kindern geführt. Jedes dritte Kind im Irak sei chronisch unterernährt oder nicht altersgerecht entwickelt; jedes achte Kind im Irak erreiche gegenwärtig nicht das achte Lebensjahr. Zugang zu sauberem Trinkwasser sei nicht ausreichend gewährleistet, Infektionskrankheiten wie Cholera und Typhus würden entstehen und sich ausbreiten. Neben der schlechten Ernährungssituation werde diese Entwicklung durch die vielerorts mangelhafte Trinkwasserversorgung und die fehlende Abwasseraufbereitung begünstigt.

39

Auch die Situation im Gesundheitswesen habe sich in den letzten Monaten wenig verbessert, der Zugang zu den Gesundheitseinrichtungen sei durch die lange anhaltende landesweite Unsicherheit und die daraus resultierenden Einschränkungen der Freizügigkeit in erheblichem Maße beeinträchtigt.

40

Unter Berücksichtigung der zunehmenden Unsicherheit im Land und der Verschärfung der Auseinandersetzungen zwischen den irakischen Gruppierungen aber auch in Anbetracht der schlechten Versorgungslage dürfte gegenwärtig von einer landesweiten extremen Gefahrenlage auszugehen sein. Eine Beschränkung der Auseinandersetzungen, Gewalt- und Terroraktionen, wie sie noch zu Beginn des Jahres angenommen worden ist, besteht nicht fort.

41

Die auf § 34 AsylVfG gestützte Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung im angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge ist ebenfalls nicht zu beanstanden. Das Vorliegen von Abschiebungshindernissen steht der Abschiebungsandrohung nicht entgegen (vgl. § 50 Abs. 3 Satz 1 AuslG a.F. bzw. § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG). Die Ausreisefrist von einem Monat ergibt sich aus § 38 Abs. 1 AsylVfG.

42

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83b AsylVfG. Die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.