Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 03.11.2005, Az.: 1 B 43/05

Abschiebehaft; Abschiebung; Billigkeit; Billigkeitsentscheidung; deutsche Staatsangehörigkeit; einwanderungspolitischer Belang; Erledigung; Familie; Grundrecht; Lebens- und Erziehungsgemeinschaft; Menschenrecht; Schutz der Familie; Sicherungsanordnung; Staatsangehörigkeit; Unterlassungsanspruch; Vater-Kind-Beziehung; Vietnam; vietnamesische Staatsangehörigkeit

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
03.11.2005
Aktenzeichen
1 B 43/05
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2005, 50871
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Gründe

1

Nachdem die Beteiligten den Rechtsstreit in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt haben, ist das Verfahren entsprechend § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen. Über die Kosten des Verfahrens ist gem. § 161 Abs. 2 VwGO unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes nach billigem Ermessen zu entscheiden. Hier entspricht es der Billigkeit, dem Antragsgegner die Verfahrenskosten aufzuerlegen.

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1. Der Beschluss des Amtsgerichts Walsrode in der Abschiebungshaftsache des Antragstellers vom 11. Juli 2005 - 6 XIV 605 B - ist inzwischen durch jenen vom 23. September 2005 aufgehoben, der Antragsteller aus der Haft entlassen worden. Anlass und Grund hierfür dürfte sein, dass die am 21. Februar 2005 geborene Tochter des Antragstellers - B. - nach Mitteilung des Antragsgegners (v. 14.9.2005, S. 2)

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„...neben der vietnamesischen Staatsangehörigkeit nach § 4 Abs. 3 Staatsangehörigkeitsgesetz (StAG) auch die deutsche Staatsangehörigkeit erworben haben“ dürfte.

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Damit entspricht es nach diesem Ablauf bereits der Billigkeit, die Kosten dem Antragsgegner aufzuerlegen.

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2. Die Verfahrenskosten waren im Übrigen auch deshalb dem Antragsgegner aufzuerlegen, weil bei überschlägiger Prüfung der Sach- und Rechtslage die Voraussetzungen für eine Sicherungsanordnung iSv § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO gegeben gewesen sein dürften, wenn das Verfahren nicht aufgrund übereinstimmender Erledigungserklärungen abgeschlossen worden wäre.

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Neben der hier eindeutigen Gefahr einer Vereitelung oder wesentlichen Erschwerung der Verwirklichung von Rechten, die es durch eine Sicherungsanordnung abzuwehren galt (Sicherungsgrund), bestand für den Antragsteller auch ein Sicherungsanspruch, also ein der Verwirklichung harrendes Recht, dessen Entwertung durch behördliche Eingriffe zu verhindern war. Dem Antragsteller stand und steht nämlich ein öffentlich-rechtlicher Unterlassungsanspruch analog den §§ 1004, 906 BGB zur Seite, der klageweise mit einer vorbeugenden Unterlassungs- oder Feststellungsklage verfolgt werden könnte. Im Verfahren der einstweiligen Anordnung (§ 123 VwGO) wird durch die Sicherungsanordnung der dafür erforderliche (Rechts-)Schutz vorab gewährt (vgl. dazu im Einzelnen Finkelnburg, NJW-Schriften Bd. 12, 4. Auflage, Rdn. 175 ff. / 177), u.zw. vor allem gegenüber behördlichen Eingriffen durch schlicht-hoheitliches Handeln und Verhalten sonstiger Art - auch wenn es sich dabei um ein Vorgehen im Wege der Amtshilfe handelt, wie der Antragsgegner betont hat (Schr. v. 14.9.05, S. 1 unten). Daher kann offen bleiben, ob nicht auch eine (eigene) Abschiebungsanordnung des Antragsgegners vorgelegen hat (vgl. insoweit jedoch den Beschluss des Amtsgerichts v. 11.7.2005).

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Hier standen Rechte des Antragstellers aus der Grundsatznorm des Art. 6 GG, aber auch aus der des Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) im Raum, deren Beeinträchtigung oder gar Vereitelung zu verhindern war. Vgl. dazu die nachfolgende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (NVwZ 2002, S. 849 f [BVerfG 30.01.2002 - 2 BvR 231/00]):

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"Die in Art. 6 I i.V. mit II GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, verpflichtet die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, d.h. entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dieser verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz der Familie entspricht ein Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 6 GG, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen seine familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen angemessen berücksichtigen (vgl. BVerfGE 76, 1 [49ff.] = NJW 1988, 626; BVerfGE 80, 81 [93] = NJW 1989, 2195 [BVerfG 18.04.1989 - 2 BvR 1169/84]). Ausländerrechtliche Schutzwirkungen entfaltet Art. 6 GG freilich nicht schon auf Grund formal-rechtlicher familiärer Bindungen. Entscheidend ist vielmehr die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern (vgl. BVerfGE 76, 1 [42f.] = NJW 1988, 626 [BVerfG 12.05.1987 - 2 BvR 1226/83; 2 BvR 101/84; 2 BvR 313/84]), wobei grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalls geboten ist (vgl. BVerfG, [1. Kammer des Zweiten Senats], NVwZ 2000, 59 = InfAuslR 2000, 67 [BVerfG 31.08.1999 - 2 BvR 1523/99]).

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Der Schutz des Art. 6 I i.V. mit II GG gilt zunächst und zuvörderst der Familie als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft; in der Familie und der elterlichen Erziehung findet die leibliche und seelische Entwicklung des Kindes eine wesentliche Grundlage (vgl. BVerfGE 80, 81 [90] = NJW 1989, 2195). Besteht eine solche Lebens- und Erziehungsgemeinschaft zwischen dem Ausländer und seinem Kind und kann diese Gemeinschaft nur in der Bundesrepublik Deutschland verwirklicht werden, etwa weil das Kind deutscher Staatsangehörigkeit und ihm wegen der Beziehungen zu seiner Mutter das Verlassen der Bundesrepublik nicht zumutbar ist, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück (vgl. BVerfG [3. Kammer des Zweiten Senats], InfAuslR 1993, 10 [11], und 1994, 394 [395]; vgl. auch BVerfGE 80, 81 [95] = NJW 1989, 2195 [BVerfG 18.04.1989 - 2 BvR 1169/84] zur Erwachsenenadoption). Dies kann selbst dann gelten, wenn der Ausländer vor Entstehung der zu schützenden Lebensgemeinschaft gegen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen verstoßen hat (vgl. BVerfG [3. Kammer des Zweiten Senats], NJW 1994, 3155 = InfAuslR 1994, 394 [395] [BVerfG 10.08.1994 - 2 BvR 1542/94]; BVerfG, [1. Kammer des Zweiten Senats], NVwZ 2000, 59 = NJW 2000, 1179 L = InfAuslR 2000, 67 [BVerfG 31.08.1999 - 2 BvR 1523/99] [68f.])."

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Diese Ausführungen gelten entsprechend auch für den leiblichen Vater und seine Beziehungen zu Mutter und Tochter, wobei - wie vom Bundesverfassungsgericht betont - die formal-rechtlichen Bindungen im Rahmen der Grund- und Menschenrechte geringere Bedeutung haben als die „gelebten“ Bindungen und die tatsächliche Verbundenheit der beteiligten Menschen. Dabei bedarf es keiner Betonung, dass Art. 6 GG (Art. 8 EMRK) auch für Ausländer gilt. Werden bei entsprechenden Fallkonstellationen (deutsche Staatsangehörigkeit des Kindes, hier der Tochter des Antragstellers) also einwanderungspolitische Belange von den genannten Grundsatznormen regelmäßig verdrängt, so ist hier außerdem zu berücksichtigen, dass es dem Antragsteller wegen seiner Verbundenheit mit seiner leiblichen Tochter nicht zuzumuten sein dürfte, in sein Heimatland aus- und in einem geordneten Visumsverfahren wieder einzureisen, nur um ein in Gesetzen unterhalb der Verfassung mit ihren Grundrechten als bloße Regel vorgesehenes Verfahren noch nachzuholen (vgl. VG Gelsenkirchen, InfAuslR 2003, S. 195, § 5 Abs. 1 AufenthG). Insoweit wirkt die Verfassung (Art. 6 GG) selbstverständlich unter Wertungs- und Zumutbarkeitsgesichtspunkten auf niederrangige Gesetze ein, u.zw. vor allem im Ermessensbereich, §§ 28 Abs. 1 Satz 2, 5 Abs. 1 AufenthG.

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3. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 3 Nr. 1, 52 Abs. 2 GKG iVm 8.3 des Streitwertkataloges (halber Auffangwert), vgl. Beschl. des Nds. OVG v. 27.6.2005 - 9 OA 192/05 -.