Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 22.11.2005, Az.: 1 B 51/05
Anordnungsanspruch; Anordnungsgrund; Auswahlentscheidung; Beförderungsauswahl; Beurteilung; Bewerberauswahl; dienstliche Beurteilung; Dringlichkeit; einstweilige Anordnung; Gesamtnote; Leistungsgrundsatz
Bibliographie
- Gericht
- VG Lüneburg
- Datum
- 22.11.2005
- Aktenzeichen
- 1 B 51/05
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2005, 50872
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 123 VwGO
- Art 33 Abs 2 GG
- § 7 BRRG
- § 8 Abs 1 BG ND
- § 26 Abs 4 Nr 2 BBesG
Gründe
I. Der Antragsteller und die Beigeladene bewarben sich neben 18 anderen Bewerbern um die in der Niedersächsischen Rechtspflege 2005, Seite 139 ausgeschriebene Stelle für eine Justizamtsrätin oder einem Justizamtsrat (Rechtspflegerin oder Rechtspfleger mit Funktionen gemäß § 2 Nr. 2 der VO zu § 26 Abs. 4 Nr. 2 BBesG) bei Gerichten im Landgerichtsbezirk L.
Der am C. geborene Antragsteller, der am 24. Mai 1988 zum Justizoberinspektor und am 3. Mai 1999 zum Justizamtmann ernannt wurde, ist beim Amtsgericht D. als Rechtspfleger für E. tätig. Seine letzte dienstliche Beurteilung vom 22. Juni 2005 für den Zeitraum 27. Mai 2004 bis 22. Juni 2005 und die vorangegangene Beurteilung vom 26. Mai 2004 für den Zeitraum 10. November 2000 bis 26. Mai 2004 endeten jeweils mit dem Gesamturteil „sehr gut (oberer Bereich)“. Die ihm zuvor erteilten Beurteilungen vom 10. November 2000 für den Zeitraum 25. Januar 2000 bis 10. November 2000 und die vom 24. Januar 2000 für den Zeitraum 25. Juni 1998 bis 24. Januar 2000 endeten mit dem Gesamturteil „sehr gut“ ohne einen Zusatz.
Die am F. geborene Beigeladene, die am 2. April 1990 zur Justizoberinspektorin und am 1. Juli 1998 zur Justizamtfrau ernannt wurde, ist bei dem Amtsgericht G. als Rechtspflegerin für H. sowie mit eigener Zuständigkeit in I. tätig. Ihre letzte dienstliche Beurteilung vom 6. Juli 2005 für den Zeitraum 14. Mai 2004 bis 6. Juli 2005 und die vorangegangenen Beurteilungen vom 13. Mai 2004 für den Zeitraum 1. September 2002 bis 13. Mai 2004 sowie vom 23. August 2002 für den Zeitraum 15. Oktober 1997 bis 23. August 2002 endeten jeweils mit dem Gesamturteil „sehr gut (oberer Bereich)“. Die ihr als Justizoberinspektorin erteilte Beurteilung vom 14. Oktober 1997 für den Zeitraum 6. September 1996 bis 14. Oktober 1997 endete ebenfalls mit dem Gesamturteil „sehr gut (oberer Bereich)“.
Auf Vorschlag der Präsidentin des Landgerichts L. entschied der Antragsgegner, der Beigeladenen die ausgeschriebene Stelle zu übertragen. Er teilte diese Entscheidung, der der Bezirkspersonalrat und die Vertreterin der Schwerbehinderten zugestimmt hatten, dem Antragsteller mit Schreiben vom 14. September 2005 mit.
Der Antragsteller wandte sich mit Schreiben vom 22. September 2005 gegen die getroffene Auswahlentscheidung. Mit Schreiben vom 26. September 2005 begründete der Antragsgegner dem Antragsteller die Auswahlentscheidung mit der besseren Leistungsentwicklung der Beigeladenen.
Am 14. Oktober 2005 hat der Antragsteller bei Gericht Klage erhoben (1 A 325/05) und gleichzeitig um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt dieser Gerichtsakte, den der Gerichtsakte 1 A 325/05 und den der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Antragsgegners Bezug genommen.
II. Der zulässige Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz hat keinen Erfolg.
Das Gericht kann gemäß § 123 Abs. 1 VwGO eine einstweilige Anordnung treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (§ 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO - Sicherungsanordnung). Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes zulässig, wenn die Regelung - insbesondere bei dauernden Rechtsverhältnissen - zur Abwendung wesentlicher Nachteile oder zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus anderen Gründen nötig erscheint (§ 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO - Regelungsanordnung). Beide Formen der einstweiligen Anordnung setzen voraus, dass sowohl ein Anordnungsgrund als auch ein Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht werden (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 14. Aufl. 2005, § 123 Rn. 6). Diese Voraussetzungen sind hier nicht insgesamt erfüllt.
1. Ein den Erlass einer einstweiligen Anordnung rechtfertigender Anordnungsgrund, die Dringlichkeit einer Eilentscheidung, ist allerdings gegeben. Denn durch die Übertragung der Planstelle an die Beigeladene und die beabsichtigte Ernennung der Beigeladenen würde der von dem Antragsteller geltend gemachte Anspruch auf fehlerfreie Auswahlentscheidung vereitelt werden. Mit Vollzug der beabsichtigten Übertragung der Planstelle wird zugleich die gerichtliche Überprüfung der schon getroffenen Auswahlentscheidung praktisch hinfällig.
2. Dem Antragsteller steht aber kein Anordnungsanspruch zur Seite. Die von dem Antragsgegner getroffene Auswahlentscheidung ist rechtlich nicht zu beanstanden.
Die Auswahlentscheidung des Dienstherrn unterliegt als Akt wertender Erkenntnis einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle: Die verwaltungsgerichtliche Nachprüfung beschränkt sich darauf, ob die Verwaltung den anzuwendenden Begriff oder den gesetzlichen Rahmen, in dem sie sich frei bewegen kann, verkannt hat oder ob sie von einem unrichtigen bzw. unvollständigen Sachverhalt ausgegangen ist, allgemeingültige Wertmaßstäbe nicht beachtet, sachwidrige Erwägungen angestellt oder gegen Verfahrensvorschriften oder mit höherrangigem Recht vereinbare Richtlinien (Verwaltungsvorschrift) verstoßen hat (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.8.2001 - 2 A 3.00 -, DVBl 2002, 132; OVG Lüneburg, Beschl. v. 27. 5. 2005 - 5 ME 57/05 und Beschl. vom 26. 8. 2003 - 5 ME - 162/03 -, jeweils m.w.N.).
Die Entscheidung des Dienstherrn über die Übertragung eines öffentlichen Amtes und bei der Beförderungsauswahl hat sich an dem Leistungsgrundsatz (Art. 33 Abs. 2 GG, § 7 BRRG und § 8 Abs. 1 NBG) zu orientieren, der besagt, dass die Auswahl unter den Bewerbern nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung vorzunehmen ist. Bei der Beurteilung der Frage, welcher der Bewerber am besten geeignet und befähigt sowie am leistungsstärksten ist, hat der Dienstherr in erster Linie auf unmittelbar leistungsbezogene Kriterien zurückzugreifen. Dies sind regelmäßig die aktuellsten Beurteilungen. Haben die Bewerber dabei als Gesamturteil auf der jeweiligen Notenskala unterschiedliche Notenstufen erreicht, ist grundsätzlich der Bewerber mit der besseren Gesamtnote auszuwählen. Sind die Bewerber mit der gleichen Gesamtnote beurteilt, ist für die Auswahlentscheidung zunächst auf weitere unmittelbar leistungsbezogene Kriterien zurückzugreifen. Diese können sich aus sogenannten Binnendifferenzierungen innerhalb der Notenstufe und/oder aus der Bewertung der einzelnen Beurteilungsmerkmale oder aus älteren dienstlichen Beurteilungen ergeben, deren zusätzliche Berücksichtigung geboten ist, wenn eine Stichentscheidung unter zwei oder mehr aktuell im Wesentlichen gleich beurteilten Bewerbern zu treffen ist. Als weitere unmittelbar leistungsbezogene Kriterien können auch die bei einem strukturierten, nach festgelegten Kriterien bewerteten Auswahlgespräch gewonnenen Erkenntnisse berücksichtigt werden und ausschlaggebend sein. Erst wenn alle diese unmittelbar leistungsbezogenen Erkenntnisquellen ausgeschöpft sind und die Bewerber immer noch im Wesentlichen gleich einzustufen sind, sind sogenannte Hilfskriterien heranzuziehen (vgl. hierzu im Einzelnen BVerwG, Urt. v. 21.8.2003 - 2 C 14.02 -, ZBR 2004, 101; Urt. v. 27.2.2003 - 2 C 16.02 -, NVwZ 2003, 1397; OVG Lüneburg, Beschl. v. 13. 4. 2005 - 5 ME 29/05 -, Beschl. v. 23.7.2004 - 5 ME 39/04 -; Beschl. v. 26.8.2003 - 5 ME 162/03 -, NVwZ-RR 2004, 197 [VG Oldenburg 03.11.2003 - 7 B 3797/03], jeweils m.w.N.).
Die hier angefochtene Auswahlentscheidung des Antragsgegners genügt den vorstehend dargelegten Anforderungen.
Der Antragsteller und die Beigeladene haben in ihren aktuellen Beurteilungen vom 22. Juni bzw. 6. Juli 2005 die gleiche Gesamtnote, nämlich „sehr gut“ erhalten. Auch die Binnendifferenzierung innerhalb der Gesamtnote, nämlich der Zusatz „oberer Bereich“, ist identisch. Diese Notendifferenzierung ist zwar nicht in der sogenannten Beurteilungs-AV des Ministeriums der Justiz vom 24. Oktober 1979 (Nds. Rpfl. S. 258) vorgesehen. Sie ist aber seit 1993 in der Justizverwaltung Niedersachsens üblich und bezeichnet neben den Zusätzen „unterer Bereich“ und „mittlerer Bereich“ Zwischenstufen innerhalb der Gesamtnote, die einen eindeutigen Aussagegehalt haben und deshalb zulässig sind (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.2.2003, a.a.O.). Schließlich sind der Antragsteller und die Beigeladene auch bei den einzelnen Beurteilungsmerkmalen der aktuellen Beurteilung identisch eingestuft worden. Wenn angesichts dieser Übereinstimmungen der Antragsgegner bei der Auswahlentscheidung dann auf das Ergebnis von älteren Beurteilungen abstellt, steht dies in Einklang mit den vom Bundesverwaltungsgericht in seinen Entscheidungen vom Februar und August 2003 präzisierten Auswahlgrundsätzen. Zutreffend ist der Antragsgegner hierbei davon ausgegangen, dass die Beigeladene bereits seit ihrer Ernennung zur Justizamtfrau am 1. Juli 1998 durchgehend bis heute mit der Note „sehr gut (oberer Bereich)“ beurteilt worden ist, während der Antragsteller, der erst am 3. März 1999 zum Justizamtmann ernannt wurde, zunächst für den Zeitraum vom 3. März 1999 bis zum 9. November 2000 noch die Note „sehr gut“ ohne Zusatz, was einem „sehr gut (mittlerer Bereich)“ entspricht, erhalten hat. Die Berücksichtigung dieses deutlichen - mehr als zwei Jahre langen - Unterschieds bei der Leistungsentwicklung im zuletzt innegehabten Stausamtes ist im Hinblick auf die vorstehend genannten Grundsätze nicht zu beanstanden. Wenn der Antragsgegner des Weiteren als Ausdruck für die bessere Leistungsentwicklung der Beigeladenen mit in den Blick genommen hat, dass diese bereits seit dem 6. September 1996, wenn auch damals bis zur Ernennung zur Justizamtfrau noch als Justizoberinspektorin, die bessere Note, nämlich „sehr gut (oberer Bereich)“ erhalten, ist dies nicht zu beanstanden. Denn hierdurch wird die bessere Gesamtentwicklung der Beigeladenen noch augenfälliger. Eine Fehlgewichtung der verschiedenen Beurteilungen der Beigeladenen durch den Antragsgegner ist hierbei nicht festzustellen. Bereits seiner Begründung der Auswahlentscheidung im Schreiben vom 26. September 2005 ist zu entnehmen, dass ihm bewusst war, dass die Beurteilung mit der Gesamtnote „sehr gut (oberer Bereich)“ ab 6. September 1996 zunächst in einem anderen, niedrigeren Statusamt begann, wenn dort wie folgt formuliert wird: „.... Zudem ist Frau J. im derzeitigen Amt...“
Die Beurteilungen des Antragstellers als auch der Beigeladenen, insbesondere die aktuellen, sind auch berücksichtigungsfähig und durften der Auswahlentscheidung zugrundegelegt werden.
Voraussetzung für eine Verwertung der dienstlichen Beurteilung ist, dass sie hinreichende Aussagekraft für die Beurteilung der Frage besitzt, in welchem Maße der Beurteilte den Anforderungen des ausgeschriebenen Dienstpostens gerecht zu werden vermag. Da für die Auswahlentscheidung hinsichtlich von Leistung und Eignung auf den aktuellen Stand abzustellen und der Grundsatz der Chancengleichheit zu beachten ist, müssen für alle Bewerber zeitnahe dienstliche Beurteilungen vorliegen, die noch einen aktuellen Leistungsvergleich ermöglichen (vgl. OVG Lüneburg, Beschl. v. 18.5.1995 - 5 M 1532/95 -, Nds.VBl. 1995, 212; Beschl. v. 5.8.1999 - 2 M 2045/99 -, Nds.VBl. 2000, 151, Beschl. v. 10.9.2004 - 5 ME 87/04 - und Beschl. vom 27.5.2005 - 5 ME 57/05 -). Hier sind die letzte Beurteilung des Antragstellers vom 22. Juni 2005 und die von der Beigeladenen vom 6 Juli 2005 im Zeitpunkt der Auswahlentscheidung im August 2005 hinreichend aktuell gewesen.
Die hinreichend aktuellen Beurteilungen des Antragstellers und der Beigeladenen sowie auch die älteren Beurteilungen sind auch inhaltlich verwertbar. Etwas anderes würde nur dann gelten, wenn der Auswahlentscheidung eine rechtswidrige dienstliche Beurteilung zugrunde läge. Hierfür hat der Antragsteller aber keine hinreichenden Anhaltspunkte glaubhaft gemacht. Soweit er im Ergebnis die Auffassung vertritt, beim Amtsgericht D. würde härter beurteilt als beim Amtsgericht G., was eine von dem Antragsgegner vorzulegende Beurteilungsstatistik belegen würde, und wofür die von ihm vorgelegte Auflistung der Beförderungen im Landgerichtsbezirk Lüneburg und die Anzahl der nach der Besoldungsgruppe A 12 BBesO besoldeten Rechtspfleger bei beiden Gerichten sprechen würden, kann er damit nicht durchdringen. Zum einen lässt sich derartigen Listen lediglich ein tatsächlicher Zustand entnehmen, ohne dass dadurch eine Ursache belegt wird. Für vorhandene oder mögliche Unterschiede sind zahlreiche Ursachen denkbar. Eine unterschiedliche Beurteilungspraxis wäre nur eine von mehreren denkbaren Ursachen. Zum anderen spricht gegen eine rechtlich relevante unterschiedliche Beurteilungspraxis bei den beiden Amtsgerichten, dass durch die Präsidentin bzw. früher dem Präsidenten des Landgerichts eine sogenannte Überbeurteilung stattfindet, die einen einheitlichen Beurteilungsmaßstab in der Regel hinreichend sicherstellt. Anhaltspunkte dafür, dass dies hier nicht der Fall ist oder gewesen ist, sind nicht feststellbar.
Der Auswahlentscheidung zugunsten der Beigeladenen steht schließlich nicht entgegen, dass die Stelle für Rechtspflegerinnen oder Rechtspfleger mit Funktionen gemäß § 2 Nr. 2 der Verordnung zu § 26 Abs. 4 Nr. 2 BBesG ausgeschrieben war. Die Beigeladene war und ist als Rechtspflegerin zur Hälfte ihres Aufgabenbereichs in H. tätig und damit in einer Funktion, die in § 2 Nr. 2 der Verordnung zu § 26 Abs. 4 Nr. 2 BBesG besonders aufgeführt ist. Nicht zu entnehmen ist der eindeutigen Stellenausschreibung als weiteres Anforderungskriterium, dass die besondere Funktion gemäß § 2 Nr. 2 der genannten Verordnung in einem bestimmten Umfang oder über eine bestimmte Dauer von dem Stellenbewerber ausgeübt worden sein muss. Damit war der Antragsgegner weder verpflichtet, die Beigeladene als Bewerberin unberücksichtigt zu lassen, noch war er entgegen der Ansicht des Antragstellers gehalten, beim Leistungsvergleich Umfang und Dauer der Wahrnehmung der besonderen Funktion zusätzlich zur aktuellen Beurteilung gesondert zu berücksichtigen. Darüber hinaus ist die Wahrnehmung dieser besonderen, in § 2 Nr. 2 der genannten Verordnung aufgeführten Funktionen bereits bei Erstellung der dienstlichen Beurteilung berücksichtigt worden, was einer nochmaligen Berücksichtigung entgegensteht.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus §§ 53 Abs. 3, 52 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Sätze 2 und 1 GKG.