Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 02.11.2005, Az.: 3 B 78/05

Verlegung des Kundgebungsortes einer angemeldeten Versammlung; Umfang des aus Art. 8 Abs. 1 GG abzuleitenden Selbstbestimmungsrechts des Veranstalters einer Versammlung; Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
02.11.2005
Aktenzeichen
3 B 78/05
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2005, 34095
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGLUENE:2005:1102.3B78.05.0A

In der Verwaltungsrechtssache
hat das Verwaltungsgericht Lüneburg - 3. Kammer -
am 2. November 2005
beschlossen:

Tenor:

  1. 1.

    Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wird abgelehnt

    Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.

  2. 2.

    Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 5.000,00EUR festgesetzt.

Gründe

1

Der Antrag hat keinen Erfolg, unabhängig davon, ob der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO oder nach § 123 VwGO zu beurteilen ist.

2

Es kann dahinstehen, ob für die Zulässigkeit eines Antrages nach § 80 Abs. 5 VwGO die Klageerhebung Voraussetzung ist in dem Fall, dass ein Widerspruchsverfahren nicht vorgesehen ist, denn der Antrag ist unbegründet.

3

Die Verfügung der Antragsgegnerin vom 31. Oktober 2005, mit der diese die vom Antragsteller für den 5. November 2005 angemeldete Versammlung und den angemeldeten Aufzug unter Auflagen bestätigt hat, ist offensichtlich rechtmäßig.

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Der Antragsteller hat die Verfügung nur insoweit angegriffen, als sie die Verlegung des Kundgebungsortes vom Platz Am Sande in den Clamartpark betrifft, und soweit ein abweichender Routenverlauf des Demonstrationszuges festgelegt worden ist.

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1. Verlegung des Kundgebungsortes

6

Die Verlegung des Kundgebungsortes vom Platz Am Sande in den Clamartpark ist nicht zu beanstanden.

7

Rechtsgrundlage der Regelung ist § 15 Abs. 1 Versammlungsgesetz - VersG -. Danach kann die zuständige Behörde die Versammlung oder den Aufzug verbieten oder von bestimmten Auflagen abhängig machen, wenn nach den zurzeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges unmittelbar gefährdet ist.

8

Durch diese Vorschrift wird das Grundrecht des Art. 8 GG, wonach alle Deutschen das Recht haben, sich friedlich und ohne Waffen zu versammeln, eingeschränkt.

9

Die Antragsgegnerin ist aufgrund des aus Art. 8 Abs. 1 GG abzuleitenden Selbstbestimmungsrechtes des Veranstalters über Ort, Zeitpunkt, Art und Inhalt der Veranstaltung (BVerfG, Beschl. v. 14.05.1985 - 1 BvR 233, 341/81 - BVerfGE 69, 315, 343) an der angefochtenen Auflage nicht gehindert. Aus dem Selbstbestimmungsrecht folgt nämlich nur, dass der Veranstalter sein Demonstrationsinteresse eigenständig konkretisieren darf. Kollidiert sein Grundrecht der Versammlungsfreiheit aber mit anderen Rechtsgütern, steht ihm nicht auch ein Bestimmungsrecht darüber zu, wie gewichtig diese Rechtsgüter in die Abwägung einzubringen sind und wie die Interessenkollision rechtlich bewältigt werden kann. Insoweit bleibt ihm nur die Möglichkeit, seine Vorstellungen im Zuge einer Kooperation mit der Verwaltungsbehörde einzubringen (BVerfG, Beschl. v. 26.01.2001 - 1 BvQ 8/01 -). Mit anderen Worten: Veranstalter und Teilnehmer einer Demonstration haben nicht das ausschließliche, gleichsam souveräne Recht zur Bestimmung von Versammlungsort und -zeit. Den Behörden bleibt es überlassen, ihnen im Falle der Erfolglosigkeit von Kooperationsgesprächen im Wege der Auflage nach § 15 Abs. 1 Versammlungsgesetz gewisse Abweichungen von ihren ursprünglichen Wünschen zuzumuten. In einem solchen Falle handelt es sich nicht um ein irgendwie geartetes Verbot der Versammlung oder der Demonstration, sondern lediglich um eine Beschränkung der Gestaltungsfreiheit. Eine zeitliche oder örtliche Verschiebung der Versammlung kommt nur dann einem Verbot gleich, wenn das mit der Versammlung verbundene Anliegen von einem bestimmten symbolhaften Zeitpunkt oder Ort unlösbar abhängig ist, sodass sie bei zeitlicher oder örtlicher Verlegung ihren Sinn verliert (vgl. Dietel/Gintzel/Kniesel, Demonstrations- und Versammlungsfreiheit, 13. Aufl. 2004, § 15 RdNr. 47).

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Bei einer beschränkenden Auflage - wie der vorliegenden Verfügung über die Gestaltungsfreiheit der Versammlung - ist ebenso wie bei einem Verbot der Versammlung Voraussetzung, dass nach den zurzeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges unmittelbar gefährdet ist. Dies folgt aus dem Wortlaut des § 15 Abs. 1 Versammlungsgesetz direkt. Es müssen erkennbare Umstände dafür vorliegen, dass eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, was nachweisbare Tatsachen als Grundlage der Gefahrenprognose voraussetzt, bloße Vermutungen reichen insoweit nicht aus (BVerfG, Beschl. v. 21.04.1998 - 1 BvR 2311/94 - NVWZ 1998 S. 834). Die grundrechtlich geschützte Versammlungsfreiheit hat insgesamt nur dann zurückzutreten, wenn eine Güterabwägung unter Berücksichtigung der Bedeutung des Freiheitsrechts ergibt, dass dies zum Schutz gleichwertiger anderer Rechtsgüter notwendig ist. Bloße Belästigungen werden Dritte im Allgemeinen ertragen müssen.

11

Bereits ausgehend von den in der Anmeldung der Versammlung angegebenen erwarteten ca. 5.000 Teilnehmern ist der störungsfreie Verlauf der Versammlung mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht gewährleistet. Nach einer Stellungnahme der Polizeiinspektion Lüneburg vom 2. November 2005 erwartet die Polizei nach jetziger Lagebewertung die Teilnahme von bis zu 200 Personen aus dem gewaltorientierten autonomen Spektrum, von denen zu erwarten ist, dass sie an den für Sonnabend angemeldeten Kundgebungen und Aufzügen teilnehmen, um aus der Deckung der sie schützenden Menschenmasse gegen Einsatzkräfte oder Reizobjekte wie Justiz- oder Verwaltungsgebäude zu agieren. Daneben sind Kleingruppenaktionen von 5 bis 50 Personen zählenden Gruppen losgelöst von friedlichen Demonstrationen zu erwarten, in denen gewalttätig die Auseinandersetzung mit der Polizei gesucht wird. Diese Einschätzung der Polizei beruht auf den Aufrufen verschiedener autonomer Gruppen zur Teilnahme an der Demonstration in Lüneburg im Internet, den Kommentaren zur Nachbereitung der Demonstration der NPD in Göttingen am 29. Oktober 2005, verbunden mit Erfahrungswerten aus Vorveranstaltungen in Lüneburg sowie im Zuständigkeitsbereich der Polizeiinspektion Lüneburg im Zusammenhang mit den Castortransporten. An der Richtigkeit der von der Polizei angestellten Gefahrenprognose zu zweifeln, besteht für die Kammer kein Anlass. Dass gewaltsame Ausschreitungen Autonomer - wie bei der Demonstration der NPD in Göttingen am 29. Oktober 2005 - zu befürchten sind, ergibt sich insbesondere aus der Nachbereitung dieser Demonstration im Internet, in der es heißt: "...Vergesst nicht am 5. 11. nach Lueneburg zu kommen. Denn da werden wir hoffentlich ein zweites Goettingen erleben. Gegen Atom und Nazis". Als weiteres beispielhaft zu nennendes Indiz für die zu erwartende Gewaltbereitschaft von Demonstrationsteilnehmern ist eine ebenfalls im Internet veröffentlichte Abbildung einer unter der Überschrift - "Kein Castor! Kein Atomstaat! Kein Polizeistaat! Überhaupt kein Staat!" - einen Schlagstock schwingenden Person zu erwähnen, unterhalb derer auf die "Auftaktdemo 5.11.2005 Lüneburg" hingewiesen wird. Aus diesen und weiteren - von der Polizeiinspektion Lüneburg genannten und dem Gericht vorgelegten - Äußerungen ist zu entnehmen, dass gewalttätige Aktionen seitens der Autonomen zu befürchten sind, obwohl die Durchführung der Demonstration in Lüneburg selbst ein Feindbild -wie in Göttingen - wahrscheinlich nicht bietet.

12

Den zu befürchtenden Gefahren durch Autonome kann auf dem Platz Am Sande nicht hinreichend begegnet werden. Wie die Polizeiinspektion Lüneburg in ihrer Stellungnahme dargelegt hat, braucht die Polizei ausreichenden Raum, um unter Umständen Einsatzkräfte zielorientiert zuzuführen und mit besonderen Ergreifungstaktiken Personen aus der Menschenmenge herauszuholen. Dafür - so die Stellungnahme - sei der Platz Am Sande, gefüllt mit 5.000 oder mehr Versammlungsteilnehmern und einer Nutzung einer zentralen Bühne in der Platzmitte, wenig geeignet, wohingegen der Clamartpark an drei Seiten von Straßen erschlossen werde. Diese Einschätzung einer erschwerten Zuführung von Polizeikräften zu dem Platz Am Sande ist für die Kammer nachvollziehbar, weil der Platz lang und schmal ist und eng von Gebäuden umstanden ist, und Polizeikräfte nur über die von ihm abgehenden vier Straßen zugeführt werden können.

13

Soweit vorgetragen wird, dass auf dem Platz auch Stadtfeste etc. veranstaltet werden, so ist die Sachlage hier insoweit anders, als dort Anhaltspunkte für gewaltsame Aktionen der Teilnehmer in der Regel nicht gegeben sind.

14

Im Hinblick auf die Gefahr von Ausschreitungen gewaltbereiter Demonstranten, denen auf dem Platz Am Sande von der Polizei nicht ausreichend effektiv begegnet werden kann, wird durch die von der Antragsgegnerin verfügte Auflage das Versammlungsrecht nur geringfügig beschränkt, dies auch unter Berücksichtigung dessen, dass der Antragsteller eine friedliche Versammlung veranstalten will. Es kann dabei dahingestellt bleiben, ob der Antragsteller als Anmelder schon verpflichtet wäre, ein "Sicherheitskonzept" zu entwickeln und deutliche "Signale" auszusenden hätte, dass gewaltsame Aktionen aus der von ihm veranstalteten Versammlung nicht geduldet werden (vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 11. 11. 2001 -11 MA 367/01), denn die Abwägung des Rechtsgutes der Versammlungsfreiheit mit den Rechtsgütern der Gesundheit unbeteiligter Dritter und von Polizisten und des Eigentumsrechts der Hauseigentümer und Gewerbetreibenden gebieten hier eine Verlegung des Kundgebungsortes als milderes Mittel zu einem Verbot der Kundgebung insgesamt. Das ist mit der Verlegung der Kundgebung zum Clamartpark geschehen, auf dem den zu erwartenden Gefahren ausreichend Rechnung getragen werden kann. Angesichts seiner Größe ist dieser geeignet, die erwartete Teilnehmerzahl aufnehmen zu können. Ebenfalls sind Rettungsmöglichkeiten gewährleistet.

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Der Platz Am Sande hat selbst keine unlösbare symbolische Bedeutung für die Demonstration unter dem angegebenen Motto "Atomkraft - Nein Danke! Erneuerbare Energien jetzt!", auch nicht deshalb, weil sich dort die Industrie- und Handelskammer sowie einige Banken befinden. Angesichts dessen kommt die Verlagerung der Großkundgebung nicht einem Verbot gleich. Der Clamartpark befindet sich nur gut 200 m vom Platz Am Sande entfernt und ist noch dem Innenstadtbereich zuzurechnen. Der Zweck der Demonstration kann auch auf diesem Platz erreicht werden.

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2. Festsetzung einer von der mit dem Eilantrag begehrten abweichenden Route für den Aufzug

17

Aus den vorstehenden Gründen ist die in der angefochtenen Verfügung vorgegebene Route für den Aufzug ebenfalls offensichtlich rechtmäßig. Auf der vom Antragsteller begehrten Route für den Aufzug sind gleichfalls Gefährdungen der öffentlichen Sicherheit (der Gesundheit unbeteiligter Dritter und Polizisten und des Eigentums der anliegenden Wohn- und Geschäftshäuser) zu erwarten, die von den voraussichtlich anreisenden autonomen Demonstranten ausgehen. Diesen Gefahren kann die Polizei aufgrund der Enge der Straßen und der Anzahl der in der Anmeldung angegebenen erwarteten Demonstrationsteilnehmer von ca. 5000 Personen nicht effektiv begegnet werden, wie der Stellungnahme der Polizeiinspektion Lüneburg vom 2. November 2005 zu entnehmen ist. Denn aufgrund der Vielzahl von Personen wird der Demonstrationszug eine erhebliche Länge haben und voraussichtlich die gesamte Breite der Straßen einnehmen. Den befürchteten Gefahren kann nach Einschätzung der Polizei auf der von der Antragsgegnerin festgelegten Route deutlich besser begegnet werden, ohne den Zweck des Aufzuges unverhältnismäßig einzuschränken.

18

Aus den oben genannten Gründen besteht auch ein öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung der Verfügung.

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

Streitwertbeschluss:

Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 5.000,00EUR festgesetzt.

Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 53 Abs. 3, 52 Abs. 1 und 2 GKG.

Siebert
Malinowski
Sandgaard