Landessozialgericht Niedersachsen
Urt. v. 12.06.2001, Az.: L 8 AL 300/00

Rücknahme der Bewilligung von Arbeitslosenhilfe; Rechtswidriger Verwaltungsakt nach Bestandskraft; Bestimmung des Vermögens zur Alterssicherung ("Alterssicherungswille"); Erstattung von Arbeitslosenhilfe nach § 50 Abs. 1 SGB X

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen
Datum
12.06.2001
Aktenzeichen
L 8 AL 300/00
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2001, 15878
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2001:0612.L8AL300.00.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Oldenburg - 27.06.2000 - S 4 AL 425/99

Prozessführer

B.

Prozessgegner

Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg, vertreten durch den Präsidenten des Landesarbeitsamtes Niedersachsen-Bremen, Altenbekener Damm 82, 30173 Hannover,

Der 8. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen in Celle

hat auf die mündliche Verhandlung

vom 12. Juni 2001

durch die Richter

D. - Vorsitzender -, E. und F.

sowie die ehrenamtlichen Richter G. und H.

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 27. Juni 2000 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

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Zwischen den Beteiligten streitig ist die Rücknahme der Bewilligung von Arbeitslosenhilfe (Alhi) vom 28. November 1996 bis zum 29. Dezember 1997 sowie eine Erstattungsforderung der Beklagten.

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Der am 30. September 1938 geborene Kläger war bis zum 31. März 1994 bei der Firma J. in K. beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis wurde einvernehmlich gegen Zahlung einer Abfindung von 102.059,00 DM aufgelöst. Ab 1. April 1994 bezog der Kläger Arbeitslosengeld (Alg), ab 28. November 1996 Alhi laufend bis zum Beginn der Altersrente ab 1. Oktober 1998.

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In den Anträgen auf Alhi vom 30. Oktober 1996 und vom 15. Oktober 1997 hatte der Kläger die Frage, ob er über Vermögen verfügt und ob er Freistellungsaufträge für Kapitalerträge erteilt habe, verneint. Am 3. Juni 1999 wurde der Beklagten durch eine Anzeige des Finanzamtes L. bekannt, dass der Kläger einen Teil der erhaltenen Abfindung im Ausland angelegt hatte. Aus den überreichten Depotauszügen ging hervor, dass der Kläger zunächst am 30. April 1994 91.000,00 DM bei der M. in N. anlegte und nach zwischenzeitlichen Gewinnausschüttungen und Auszahlung am 18. August 1994 86.000,00 DM auf die O. in P. umbuchte. Hiervon waren am 1. April 1997 noch 80.445,00 DM vorhanden.

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Mit Schreiben vom 11. Juni 1999 hörte die Beklagte den Kläger zu dem nicht angezeigten Vermögen sowie zu der dadurch entfallenden Bedürftigkeit an. Der Kläger teilte mit, dass die Abfindung den Lebensstandard bis zum Erreichen der Altersrente habe sichern sollen. Er sei sich keines schuldhaften Verhaltens bewusst, weil er nach den Gesprächen mit der Firma Q. davon ausgegangen sei, dass die erhaltene Abfindung bei der Berechnung des Alg und der Alhi unberücksichtigt bliebe. Die Annahme des Auflösungsvertrages sei ihm ferner durch die Gewerkschaft und den Betriebsrat empfohlen worden.

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Mit Bescheid vom 2. Juli 1999 nahm die Beklagte die Bewilligung von Alhi für die Zeit vom 28. November 1996 (für den im Bescheid angegebenen 27. November 1996 war keine Alhi gezahlt worden) bis zum 29. Dezember 1997 wegen fehlender Bedürftigkeit zurück. Das Vermögen des Klägers in Höhe von 87.611,00 DM führe nach Abzug des Gesamtfreibetrages in Höhe von 26.000,00 DM zu einem Ruhenszeitraum von 57 Wochen. Gleichzeitig verlangte die Beklagte die Erstattung der in diesem Zeitraum gezahlten Alhi in Höhe von 22.058,60 DM sowie der darauf gezahlten Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von 7.136,00 DM (insgesamt 29.194,60 DM). Der hiergegen gerichtete Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 30. Juli 1999, zugegangen am 2. August 1999).

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In dem am 1. September 1999 eingeleiteten Klageverfahren berief sich der Kläger erstmalig mit Schriftsatz vom 13. April 2000 darauf, dass die erhaltene und angelegte Abfindung zur Aufrechterhaltung einer angemessenen Alterssicherung diene, was nach dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 22. Oktober 1998 unberücksichtigt bleiben müsse. Auf der Basis dieser Argumentation sowie unter Anwendung der mit Wirkung vom 29. Juni 1999 geänderten Arbeitslosenhilfe-Verordnung (Alhi-VO) hat das Sozialgericht (SG) Oldenburg mit Urteil vom 27. Juni 2000 der Klage stattgegeben und die angefochtenen Bescheide aufgehoben.

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Gegen dieses Urteil hat die Beklagte am 24. Juli 2000 Berufung eingelegt. Sie trägt vor, die subjektive Zweckbestimmung des Vermögens als Alterssicherung sei nicht durch objektive Begleitumstände nachgewiesen bzw

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glaubhaft gemacht worden. Die Geldanlage in P. habe spekulativen Charakter gehabt und lasse eine Vermögensdisposition zur Alterssicherung nicht erkennen. Der Kläger habe zudem einen Teil dieses Vermögens für Renovierungen an seinem Haus verwendet.

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Die Beklagte beantragt,

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das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 27. Juni 2000 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

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Der Kläger beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

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Der Kläger erwidert, er habe von Anfang an den überwiegenden Teil der Abfindung langfristig für die Alterssicherung angelegt. Bis auf die Ausgaben für notwendige Renovierungsarbeiten an seinem Wohnhaus sei das Kapital bis heute unangetastet geblieben. Er habe sich im Übrigen auf die im Verwaltungsverfahren vorgelegte und durch den Arbeitgeber gefertigte Aufstellung verlassen, aus der er entnommen habe, dass die Abfindung nicht auf die Alhi angerechnet werde.

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Wegen des weiteren Vorbringens wird auf die Gerichtsakten sowie auf den Verwaltungsvorgang des Arbeitsamtes L. (Stamm-Nr.: R.) verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Berufung der Beklagten ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des sozialgerichtlichen Urteils. Der Kläger war im Zeitraum vom 28. November 1996 bis zum 29. Dezember 1997 nicht bedürftig. Er ist zur Erstattung von 29.194,60 DM verpflichtet.

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Gemäß § 330 Abs 2 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) iVm § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) ist ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er bestandskräftig geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, ohne dass sich der Begünstigte auf einen Vertrauenstatbestand berufen kann, wenn der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Der Rücknahmebescheid der Beklagten vom 2. Juli 1999 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Juli 1999 ist deshalb rechtlich nicht zu beanstanden.

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Die Bewilligung von Alhi im Anschluss an den erschöpften Anspruch auf Alg ab 28. November 1996 (Bescheid vom 6. November 1996) und für den neuen Bewilligungsabschnitt ab 28. November 1997 (Bescheid vom 24. Oktober 1997) beruhten auf den Angaben des Klägers in den jeweiligen Antragsformularen, dass er über kein Vermögen verfügt. Diese Angaben waren objektiv falsch. Der Kläger konnte anhand des erhaltenen Merkblattes ohne Weiteres erkennen, dass die Alhi - anders als das Alg - eine bedarfsabhängige Sozialleistung ist und deswegen vorhandenes Vermögen angezeigt werden muss. Das gilt erst recht, wenn der Kläger anhand der mit dem Arbeitgeber anlässlich seines Ausscheidens geführten Gespräche angenommen haben könnte, dass die Abfindung nicht auf die Alhi angerechnet wird. In diesem Fall gibt es keinen plausiblen Grund, das Vermögen gegenüber der Beklagten zu verschweigen.

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Das in P. angelegte Geld ist nicht als Schonvermögen iS des § 6 Abs 3 Satz 2 Nr 3 Alhi-VO privilegiert. Danach ist die Verwertung von Vermögen unzumutbar, wenn dieses zur Aufrechterhaltung einer angemessenen Alterssicherung bestimmt ist. Eine derartige Zweckbestimmung lässt sich im vorliegenden Fall jedoch nicht feststellen.

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Da es sich bei der Bestimmung des Vermögens zur Alterssicherung um einen subjektiven inneren Vorgang handelt, muss der "Alterssicherungswille” aus den gesamten objektivierbaren Umständen erkennbar sein. Der Arbeitslose muss, ausgehend von den Verhältnissen zum Zeitpunkt der Antragstellung (BSG vom 22. Oktober 1998, SozR 3-4220 § 6 Nr 6 und BSG vom 25. März 1999, SozR 3-4220 § 6 Nr 7), bereits vor Entstehung des Anspruchs auf Alhi eine Vermögensdisposition getroffen haben, aus der ohne Zweifel abgeleitet werden kann, dass das Vermögen erst nach dem Eintritt in den Ruhestand zur Sicherung des Lebensstandards verwendet werden soll. Spätere Ereignisse können zusätzlich herangezogen werden, falls diese für oder gegen die subjektive Zweckbestimmung sprechen könnten. Erforderlich ist aber immer, dass die subjektive Zweckbestimmung sich spätestens mit Beginn des Alhi-Bezuges realisiert haben muss. Dies ergibt sich unmittelbar aus dem Wortsinn des Begriffes "Aufrechterhaltung der Alterssicherung” im Privilegierungstatbestand des § 6 Abs 3 Satz 2 Nr 3 Alhi-VO (BSG aaO). Ein anderer Maßstab wäre mit Sinn und Zweck dieser Regelung nicht vereinbar. Denn der rechtmäßig handelnde Arbeitslose gibt bei der Antragstellung vorhandenes Vermögen an, sodass dessen Einordnung als Schonvermögen nur perspektivisch von diesem Zeitpunkt aus erfolgen kann.

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Der Kläger hat erst im Laufe des Klageverfahrens, nämlich durch Schriftsatz vom 13. April 2000, sich auf die Bestimmung des Vermögens zur Alterssicherung berufen. Diese späte Einlassung ist nicht geeignet, einen von Anfang an bestehenden Alterssicherungswillen glaubhaft zu machen. Hätte der Kläger tatsächlich bereits zu Beginn des Alhi-Bezuges eine entsprechende Zweckbestimmung vorgenommen, hätte er diese spätestens mit dem Anwaltschreiben vom 15. Juni 1999 der Beklagten mitgeteilt. Stattdessen beruft sich der Kläger in diesem Schreiben darauf, dass die vom Arbeitgeber angebotene Abfindung den Einkommensverlust bis zum Erreichen der Altersrente ausgleichen sollte und deswegen nicht auf die Alhi anzurechnen sei. In diesem Zusammenhang legte der Kläger die Berechnung des Arbeitgebers vor, dass er mit der Nettoabfindung neben den Lohnersatzleistungen der Beklagten für die verbleibenden 54 Monate bis zum Erreichen des 60. Lebensjahres ca 3.300,00 DM zur Verfügung haben würde, was in etwa dem vorherigen monatlichen Nettoeinkommen entsprochen hätte. Die Zweckbestimmung der erhaltenen Abfindung als Absicherung für die Zeit nach Beginn der Altersrente ist deshalb anhand der objektiven Umstände nicht feststellbar. Für den Senat stellt sich der Sachverhalt so dar, dass die im Ausland angelegte Abfindung als finanzielles Polster für die Zeit ab Beginn der Arbeitslosigkeit vorgehalten werden sollte. Der Kläger hat in der Folgezeit bei Bedarf auf dieses Geld mehrmals zurückgegriffen, zB um notwendige Renovierungsarbeiten am eigenen Haus zu finanzieren.

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Zum Beginn des Bezuges von Alhi am 28. November 1996 verfügte der Kläger über verwertbares Vermögen in Höhe von 87.611,00 DM. Nach Abzug der Freibeträge von insgesamt 26.000,00 DM (zweimal 8.000,00 DM gemäß § 6 Abs 1 Alhi-VO und 10.000,00 DM gemäß § 7 Abs 1 Alhi-VO) verbleibt ein Vermögen von 61.611,00 DM, welches geteilt durch das Leistungsbemessungsentgelt von 1.070,00 DM wöchentlich (§ 9 Alhi-VO) Bedürftigkeit für 57 volle Wochen ausschließt. In der Zeit vom 28. November 1996 bis zum 29. Dezember 1997 war der Kläger folglich nicht bedürftig iS des § 134 Abs 1 Satz 1 Nr 3 iVm § 137 Abs 2 Arbeitsförderungsgesetz (AFG).

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Nach Aufhebung der Leistungsbewilligung ist die für die Zeit vom 28. November 1996 bis zum 29. Dezember 1997 erhaltene Alhi in Höhe von 22.058,60 DM gemäß § 50 Abs 1 SGB X zu erstatten. Die darauf abgeführten Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung in der von der Beklagten zutreffend ermittelten Höhe von insgesamt 7.136,00 DM sind gemäß § 157 Abs 3a AFG (§ 335 SGB III) zurückzuzahlen.

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Da der Kläger mit seinem Begehren unterlegen ist, braucht die Beklagte seine außergerichtlichen Kosten nicht zu tragen.