Landessozialgericht Niedersachsen
Urt. v. 28.06.2001, Az.: L 8 AL 295/00
Umfang der Anwartschaftszeit bei dem Anspruch auf Arbeitslosengeld; Beitragsfreiheit von geringfügig beschäftigten Arbeitnehmern im Rahmen der Anwartschaft auf einen Anspruch auf Arbeitslosengeld; Bedeutung einer kurzzeitigen Beschäftigung bei der Ermitllung der Dauer der beitragspflichtigen Beschäftigung für den Anspruch auf Arbeitslosengeld; Berücksichtigung von urlaubsbedingter Vertretung bei der Ermittlung der beitragspflichtigen Beschäftigungsdauer
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen
- Datum
- 28.06.2001
- Aktenzeichen
- L 8 AL 295/00
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2001, 24866
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2001:0628.L8AL295.00.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Hannover - 16.06.2000 - AZ: S 9 AL 323/98
Prozessführer
A.,
Prozessgegner
Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg,
vertreten durch den Präsidenten des Landesarbeitsamtes Niedersachsen-Bremen, Altenbekener Damm 82, 30173 Hannover,
Der 8. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen in Celle
hat ohne mündliche Verhandlung am 28. Juni 2001
durch
die Richter B. - Vorsitzender -, C. und D. sowie
die ehrenamtlichen Richter E. und F.
für Recht erkannt:
Tenor:
Das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 16. Juni 2000 sowie der Bescheid der Beklagten vom 26. Januar 1998 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. April 1998 werden geändert.
Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin ab dem 1. September 1997 für 208 Tage (berechnet nach § 106 AFG) Arbeitslosengeld zu zahlen.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt Arbeitslosengeld (Alg) vom 1. September 1997 bis zum 31. Dezember 1998. Streitig ist, ob sie die erforderliche Anwartschaftszeit erfüllt hat.
Seit 1965 arbeitete die im Januar 1939 geborene Klägerin als Raumpflegerin bei der Firma H.. Bis April 1996 erfolgte die Reinigung durch drei Raumpflegerinnen, die sich gegenseitig vertraten. Die Arbeitszeit betrug 3 Stunden täglich bei einer 5-Tage-Woche. Ab Mai 1996 erfolgte die Reinigung nur noch durch die Klägerin und eine Kollegin, Frau I., die nunmehr täglich 3 1/2 Stunden bei einer 5-Tage-Woche arbeiteten und sich gegenseitig im Urlaubs- und Krankheitsfall vertraten. Ab April 1997 führte die Firma H. Sozialversicherungsbeiträge für die Klägerin ab. Die Klägerin erhielt einen Stundenlohn von zuletzt 19,41 DM.
Mit Schreiben vom 21. Januar 1997 kündigte die Firma H. das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin und Frau I. fristgerecht zum 31. August 1997; die Klägerin erhielt eine Abfindung nach einem Sozialplan in Höhe von 16.600,00 DM. Am 21. August 1997 meldete sich die Klägerin bei der Beklagten arbeitslos und beantragte die Zahlung von Alg ab dem 1. September 1997. Mit Bescheid vom 26. Januar 1998 lehnte die Beklagte die Alg-Bewilligung ab mit der Begründung, die Klägerin habe die erforderliche Anwartschaftszeit nicht erfüllt. Widerspruch und Klage blieben erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 1. April 1998, Urteil des Sozialgerichts - SG - Hannover vom 16. Juni 2000). Mit ihrer am 27. April 1998 eingegangenen Klage hatte die Klägerin insbesondere darauf hingewiesen, dass ihre Kollegin bei gleicher Arbeitszeit Alg von der Beklagten erhalten habe.
Am 19. Juli 2000 hat die Klägerin Berufung gegen das am 12. Juli 2000 abgesandte Urteil des SG eingelegt. Sie vertritt die Auffassung, dass ihr - ebenso wie ihrer Kollegin - Alg zustehe, zumal für sie Beiträge für die Arbeitslosenversicherung gezahlt worden seien.
Sie beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen,
- 1.
das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 16. Juni 2000 sowie den Bescheid der Beklagten vom 26. Januar 1998 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. April 1998 aufzuheben,
- 2.
die Beklagte zu verurteilen, ihr vom 1. September 1997 bis zum 31. Dezember 1998 Arbeitslosengeld zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie vertritt die Auffassung, dass die Klägerin bis März 1997 nur kurzzeitig und damit beitragsfrei beschäftigt gewesen sei und damit einen Anspruch auf Alg nicht erworben habe.
Außer den Gerichtsakten lag ein Band Verwaltungsakten der Beklagten J. sowie ein Heft Personalakten der Firma H., jeweils die Klägerin betreffend, vor. Sie waren Gegenstand des Verfahrens. Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten und der Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten beider Rechtszüge und der Beiakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Der Senat entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).
Die zulässige Berufung ist im Wesentlichen begründet. Die Klägerin hat die erforderliche Anwartschaftszeit für den Bezug von Alg für 208 Tage erfüllt, die entgegenstehenden Bescheide der Beklagten und das Urteil des SG sind insoweit zu ändern. Für die restliche Zeit hat die Klägerin ggf, soweit sie einen Antrag stellt und bedürftig war, Anspruch auf Arbeitslosenhilfe (Alhi).
Zu entscheiden ist über eine kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 4 SGG), wobei der Senat gemäß § 130 Satz 1 SGG die Beklagte zur Leistung nur dem Grunde nach verurteilt.
Die Anspruchsvoraussetzungen für die Zahlung von Alg ab dem 1. September 1997 liegen vor. Die Klägerin war in der gesamten streitigen Zeit arbeitslos, hatte sich beim Arbeitsamt arbeitslos gemeldet und Alg beantragt und stand der Arbeitsvermittlung zur Verfügung (§ 100 des bis zum 31. Dezember 1997 geltenden Arbeitsförderungsgesetzes - AFG -). Entgegen der Auffassung der Beklagten und der Vorinstanz hat die Klägerin auch die erforderliche Anwartschaftszeit (§ 104 AFG) erfüllt. Die Anwartschaftszeit hatte gemäß § 104 Abs 1 Satz 1 AFG erfüllt, wer in der Rahmenfrist 360 Kalendertage in einer die Beitragspflicht begründenden Beschäftigung (§ 168 AFG) gestanden hatte. Die Rahmenfrist betrug 3 Jahre (§ 104 Abs 3 AFG) und ging dem ersten Tag der Arbeitslosigkeit unmittelbar voraus, an dem die sonstigen Voraussetzungen für den Anspruch auf Alg erfüllt waren (§ 104 Abs 2 AFG).
In der hier maßgebenden Rahmenfrist vom 1. September 1994 bis 31. August 1997 stand die Klägerin insgesamt 488 Tage in einer die Beitragspflicht begründenden Beschäftigung. Beitragspflichtig waren nach § 168 Abs 1 Satz 1 AFG Personen, die als Arbeiter oder Angestellte gegen Entgelt oder zu ihrer Berufsausbildung beschäftigt waren, soweit sie nicht nach den §§ 169 bis 169c AFG oder einer Rechtsverordnung nach § 173 Abs 1 AFG beitragsfrei waren. Für die Prüfung der Beitragsfreiheit ist im vorliegenden Fall zu unterscheiden zwischen der Zeit bis zum 31. März 1997 sowie der danach liegenden Zeit. Ab dem 1. April 1997 waren gemäß § 169a Abs 1 AFG in der Fassung des Arbeitsförderungs-Reformgesetzes - AFRG - vom 24. März 1997 (BGBl I S. 594) Arbeitnehmer in einer geringfügigen Beschäftigung iS des § 8 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch - SGB IV - beitragsfrei. Die Grenze für eine geringfügige Beschäftigung liegt gemäß § 8 Abs 1 Nr 1 SGB IV bei 15 Stunden in der Woche; die Klägerin hat unstreitig eine längere Beschäftigung von mindestens 17,5 Stunden in der Woche ausgeübt und war demnach nicht geringfügig beschäftigt.
Die Klägerin war darüber hinaus auch in der Zeit vom 1. Mai 1996 bis 31. März 1997 beitragspflichtig beschäftigt. Für diesen Zeitraum bestimmte § 169a AFG in der bis zum 31. März 1997 geltenden Fassung des Gesetzes zur Änderung des AFG und zur Förderung eines gleitenden Übergangs älterer Arbeitnehmer in den Ruhestand vom 20. Dezember 1988 (BGBl I S. 2343) als beitragsfrei Arbeitnehmer in einer kurzzeitigen Beschäftigung iS von § 102 AFG, hier ebenfalls in der Fassung des Änderungsgesetzes vom 20. Dezember 1988. Als kurzzeitig galt danach eine Beschäftigung, die auf weniger als 18 Stunden wöchentlich der Natur der Sache nach beschränkt zu sein pflegte oder im Voraus durch einen Arbeitsvertrag beschränkt war. Gelegentliche Abweichungen von geringer Dauer blieben unberücksichtigt (§ 102 Abs 1 AFG).
Die Prüfung, ob Kurzzeitigkeit der Beschäftigung vorliegt oder nicht, ist bei Beginn oder Änderung der Beschäftigung vorzunehmen. Entscheidend ist die voraussichtliche Gestaltung des Arbeitsverhältnisses im Zeitpunkt seiner Begründung (ständige Rechtsprechung des Senats; vgl auch Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 15. Dezember 1999 - B 11 AL 53/99 R -). Das bedeutet im vorliegenden Fall, dass grundsätzlich von einer durch Arbeitsvertrag geregelten Beschäftigungsdauer von 17,5 Stunden wöchentlich ab dem 1. Mai 1996 auszugehen ist. Ab diesem Tag hatte sich die Arbeitszeit der Klägerin von 3 auf 3,5 Stunden wöchentlich erhöht, weil eine der drei bis dahin tätigen Raumpflegerinnen ausgeschieden war. Zusätzlich zu der durch Arbeitsvertrag festgelegten Arbeitsdauer hat die Klägerin jedoch seit Aufnahme ihrer Beschäftigung im Jahr 1965 ihre Kolleginnen im Falle deren Verhinderung vertreten. Dies hat sie im Erörterungstermin vor dem Berichterstatter ausdrücklich noch einmal bestätigt; auch aus den Aufstellungen über die geleisteten Arbeitszeiten sowohl der Klägerin als auch ihrer Kollegin Frau I. ergibt sich die Vertretung. Bereits bei einer Urlaubsdauer von 6 Wochen jährlich ohne Berücksichtigung von Vertretungen im Krankheitsfall erhöht sich damit die wöchentliche Arbeitszeit von 17,5 Stunden auf 19,5 Stunden (17,5 × (52 + 6): 52). Eine solche Arbeitszeit wird auch durch die Gegenüberstellung der geleisteten Arbeitsstunden in der Zeit vom 1. Mai 1996 bis 31. März 1997 bestätigt: Die Klägerin hat in dieser Zeit 122,5 Stunden und damit durchschnittlich pro Woche 2,6 Stunden vertretungsweise gearbeitet, ihre Kollegin (wegen Krankheitszeiten der Klägerin) 203 Stunden entsprechend 4,3 Stunden wöchentlich.
Bei diesen Vertretungszeiten handelt es sich nicht um gelegentliche Abweichungen von geringer Dauer, die gemäß § 102 Abs 1 Satz 2 AFG unberücksichtigt bleiben. Der Begriff "von geringer Dauer" ist auf die Gesamtdauer der Beschäftigung zu beziehen. Wird diese auf unbestimmte Zeit ausgeübt, so ist sie zumindest bei vorhersehbaren Abweichungen von 6 Wochen als von nicht geringer Dauer anzusehen (vgl hierzu Urteil des BSG vom 14. Juli 1988 SozR 4100 § 115 Nr 2). Darüber hinaus waren die wechselseitigen Vertretungen auch nicht nur gelegentlich, sondern regelmäßig zum Zeitpunkt des Urlaubs der jeweiligen anderen Raumpflegerin. Insoweit ist dieser Fall anders zu beurteilen, als der vom Senat mit Urteil vom 22. Juni 2000 (L 8 AL 28/00) entschiedene Fall, bei dem ohne konkrete Absprache teilweise Mehrarbeit geleistet wurde, die zudem zusammen mit der vereinbarten Arbeitszeit insgesamt bei weniger als 18 Stunden wöchentlich gelegen hat. In der Zeit bis zum 30. April 1996 war die Klägerin nicht beitragspflichtig beschäftigt. Hier lag ihre wöchentliche Arbeitszeit bei 15 Stunden zuzüglich der bereits erwähnten Vertretungen. Diese konnten jedoch bei einer vorausschauenden Betrachtungsweise nicht weitere 3 Stunden wöchentlich betragen. Unter Berücksichtigung der obigen Berechnung ergibt sich eine durchschnittliche Vertretungsdauer von 1,7 Stunden wöchentlich. Selbst unter Berücksichtigung von durchschnittlichen krankheitsbedingten Fehlzeiten, die nach Angaben der Klägerin ebenfalls zu vertreten waren, konnten die erforderlichen 18 Stunden für eine betragspflichtige Beschäftigung nicht erreicht werden.
Bei insgesamt 488 Kalendertagen in einer beitragspflichtigen Beschäftigung vom 1. Mai 1996 bis 31. August 1997 ergibt sich gemäß § 106 Abs 1 Satz 3 AFG in der Fassung des AFRG eine Anspruchsdauer von 208 Tagen für jeweils 6 Wochentage (§ 114 AFG). Ab dem 1. Januar 1998 erhöht sich der Restanspruch um jeweils 1 Tag für jeweils 6 Tage (§ 427 Abs 4 Sozialgesetzbuch - Arbeitsförderung - (SGB III).
Ob der Klägerin für die Zeit nach Erschöpfen des Alg-Anspruchs Alhi zusteht, wird die Beklagte, falls die Klägerin einen entsprechenden Antrag stellt, zu entscheiden haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG. Der Senat hat dabei berücksichtigt, dass die Klägerin im Wesentlichen obsiegt hat.
Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 SGG) liegen nicht vor. Der Senat weicht nicht von einer obergerichtlichen Entscheidung ab. Unter Berücksichtigung der Entscheidung des BSG vom 14. Juli 1988 (aaO) hält der Senat die Auslegung der Begriffe "gelegentliche Abweichung" und "geringe Dauer" auch für nicht weiter klärungsbedürftig.