Sozialgericht Osnabrück
Urt. v. 29.01.2018, Az.: S 24 AS 586/17

Klage gegen die endgültige Festsetzung von Leistungen aufgrund nicht fristgerecht vorgelegter Unterlagen

Bibliographie

Gericht
SG Osnabrück
Datum
29.01.2018
Aktenzeichen
S 24 AS 586/17
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2018, 11928
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

Der Bescheid vom 6. Juli 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. September 2017 wird ohne Entscheidung in der Sache aufgehoben. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. Der Beklagte hat den Klägern die außergerichtlichen Kosten zur Hälfte zu erstatten.

Tatbestand

Die Kläger wenden sich gegen eine endgültige Festsetzung von Leistungen für die Monate April bis Juni 2016 aufgrund nicht fristgerecht vorgelegter Unterlagen.

Die Kläger beantragten im November 2015 Leistungen. Daraufhin bewilligte der Beklagte Leistungen für die Monate Januar bis Juni 2016 in Höhe von 1.351 EUR (Bescheid vom 14. Dezember 2015). Bis auf Kindergeld wurde kein Einkommen angerechnet. Mit Änderungsbescheid vom 28. April 2015 reagierte der Beklagte auf einen von der Klägerin zu 1. vorgelegten Arbeitsvertrag ab dem 2. Mai 2016 und bewilligte die Leistungen ab Juni 2016 nur noch vorläufig. Zwischenzeitlich hatte der Kläger ein Gewerbe angemeldet. Es handelte sich um einen Handel mit KfZ ab dem 1. April 2016. Nachdem der Beklagte davon erfahren hatte, stellte er die Zahlungen zunächst vorläufig ein. Sodann bewilligte er mit Bescheid vom 14. Juni 2016 die Leistungen für die Monate April bis Juni 2016 vorläufig (Bescheid vom 14. Juni 2016).

Mit Schreiben vom 17. Mai 2017 forderte der Beklagte Unterlagen für die endgültige Feststellung des Leistungsanspruchs für die Monate April bis Juni 2016 an und setzte eine Frist bis zum 2. Juni 2017. Dabei wies der Beklagte darauf hin, dass bei nicht fristgerechtem vollständigen Nachweis die bewilligten Leistungen vollständig zu erstatten seien.

Mit Bescheid vom 6. Juli 2017 stellte der Beklagte fest, dass für die Monate April bis Juni 2016 ein Leistungsanspruch nicht bestand, weil die Unterlagen nicht innerhalb der Frist eingereicht worden seien.

Die Kläger legten mit Schreiben vom 15. Juli 2017 (Eingang am 19. Juli 2017) Widerspruch ein. Sie machten geltend, dass die im Libanon lebende Mutter mehrere Schlaganfälle gehabt habe. Dadurch sei die Frist versäumt worden. Sie legten dazu einen ausgefüllten EKS-Bogen, Kontoauszüge und einige Rechnungen vor.

Mit Widerspruchsbescheid vom 27. September 2017 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Die Frist für die Vorlage der Unterlagen sei angemessen gewesen und sei abgelaufen. Die Nachholung der Mitwirkung sei im Fall des § 41a Abs. 3 SGB II nicht vorgesehen.

Am 5. Oktober 2017 haben die Kläger zu 1. und 2. ohne anwaltliche Vertretung zur Niederschrift beim Urkundsbeamten Klage erhoben. Dazu legten sie den Widerspruchsbescheid vor, der keine Hinweise auf die Kläger zu 3. und 4. enthielt. Weiterhin legten sie Kontoauszüge vor.

Sie tragen vor, dass die Unterlagen im Widerspruchsverfahren schließlich vorgelegt worden seien und dass im Übrigen der Erstattungsbetrag nicht nachvollzogen werden könne.

Sie beantragen,

den Bescheid vom 6. Juli 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. September 2017 aufzuheben und den Klägern einschließlich der Kinder Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe zu bewilligen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er trägt vor:

Bei Ausgabe des Antrages sei auf die alten Fristen hingewiesen worden (2 Monate ab Ende des Bewilligungszeitraums). Hier habe man sich schon Gedanken über die Länge der Frist gemacht. Die Unterlagen hätten ja eigentlich laufend geführt werden müssen (z. B. das Kassenbuch). Weiterhin sei zu berücksichtigen, dass zwischen der Anhörung und der endgültigen Entscheidung fast zwei Monate gelegen hätten.

Die Kammer hat die Verwaltungsakte beigezogen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig. Das gilt auch für die Klage der Kläger zu 3. und 4. Jedenfalls waren ihnen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 67 SGG zu gewähren. Dem steht nicht entgegen, dass die Rechtsbehelfsbelehrung richtig war und dass nach der ständigen Rechtsprechung des BSG Klagen eines oder einzelner Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft nicht ohne weiteres als Klagen aller Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft aufgefasst werden können (BSG, Urteil vom 07. November 2006 - B 7b AS 8/06 R -, BSGE 97, 217-230, SozR 4-4200 § 22 Nr. 1, Rn. 12). Zu berücksichtigen ist, dass die Kläger anwaltlich nicht vertreten sind. Die Kinder sind etwa 12 bzw. 10 Jahre alt und damit minderjährig. Der Bescheid ist, was an sich richtig ist, nur an die Kläger zu 1. und 2. gerichtet. Daraus ziehen heute, mehr als 10 Jahre nach der zitierten Entscheidung des BSG und nach Ablauf der dort formulierten Übergangsfrist, noch immer Anwälte und Verbände den falschen Schluss, dass die Klage im Namen der gesetzlichen Vertreter genügt. Nach dem Eindruck der Kläger, den die Kammer im Termin von ihnen gewonnen hat, waren sie vom Erfordernis der Klageerhebung auch im Namen der Kinder völlig überrascht und konnten dies letztlich auch nicht Gänze erfassen. Angesichts dessen waren sie ohne ihr Verschulden gehindert, die Klagefrist für ihre Kinder einzureichen.

Die Klage ist teilweise begründet. Der angegriffene Bescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (1). Da weitere Sachaufklärung zur Ermittlung des Anspruchs erforderlich ist, hat die Kammer von der Möglichkeit des § 131 Abs. 5 SGG Gebrauch gemacht und verzichtet im Übrigen auf eine Entscheidung in der Sache (2).

1.

Der angegriffene Bescheid ist rechtswidrig, weil die Voraussetzungen für eine Feststellung des Nichtbestehens des Leistungsanspruchs nach § 41 Abs. 3 S. 3 und S. 4 SGB II n. F. nicht erfüllt sind. Denn der Beklagte hat keine angemessene Frist für die Vorlage der Unterlagen gesetzt (§ 41 Abs. 3 S. 3 SGB II n. F.). Eine Frist von zwei Wochen ist jedenfalls im vorliegenden Fall zu kurz. Welche Frist angemessen ist, ist eine Frage des Einzelfalles (Grote-Seifert in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Aufl. 2015, § 41a, Rn. 48; SG Augsburg, Urteil vom 03. Juli 2017 - S 8 AS 400/17 -, juris, Rn. 24; SG Berlin, Urteil vom 25. September 2017 - S 179 AS 6737/17 -, juris, Rn. 64). Allerdings dürfte ein Rahmen von einem Monat bis jedenfalls zwei Monaten anzunehmen sein:

Die Bundesagentur geht regelmäßig von einer Frist von zwei Monaten aus (https://con.arbeitsagentur.de/prod/apok/ct/dam/download/documents/FW-SGB-II-41a ba012896.pdf, S. 10). Dabei knüpft sie offenbar an die Vorschrift des § 3 Abs. 7 Alg-II-VO a. F. an.

Daran wird auch in Literatur und Rechtsprechung angeknüpft (Grote-Seifert in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Aufl. 2015, § 41a, Rn. 48; SG Augsburg, Urteil vom 03. Juli 2017 - S 8 AS 400/17 -, juris, Rn. 24). Dabei wird durchaus berücksichtigt, dass die Frist von zwei Monaten vom Ende des Bewilligungszeitraums an zu laufen begann. Allerdings wird vom SG Augsburg zu Recht darauf hingewiesen, dass die Folgen des § 41a Abs. 3 SGB II sehr einschneidend sind.

Das SG Berlin ist der Auffassung des SG Augsburg insoweit nicht gefolgt, als es regelmäßig Fristen zwischen einem Monat und zwei Monaten für angemessen hält (SG Berlin, Urteil vom 25. September 2017 - S 179 AS 6737/17 -, juris, Rn. 64).

Unabhängig davon, welcher Auffassung man hier folgt, ist eine Frist von zwei Wochen jedenfalls im vorliegenden Fall zu kurz. Zu berücksichtigen ist, dass im Verwaltungsrecht im Allgemeinen Rechtsbehelfsfristen von einem Monat gelten, und zwar nur für die Einlegung eines Rechtsbehelfs, nicht für seine Begründung. Da die Rechtsordnung für das Abfassen eines Einzeilers regelmäßig eine Frist von einem Monat zugesteht, spricht einiges dafür, dass für das Zusammenstellen von Belegen und Kontoauszügen sowie das Ausfüllen der entsprechenden Formulare mindestens diese Frist gelten müsste. Dem steht nicht entgegen, dass der Beklagte zu Recht darauf hinweist, dass Kassenbücher etc. laufend geführt werden müssen. Dabei lässt der Beklagte außer Acht, dass diese Unterlagen nicht selten von Steuerberatern oder Buchhaltern angefordert werden müssen. Dabei sind Postlaufzeiten und Bearbeitungszeiten einzuplanen. Außerdem müssen die Formulare des Beklagten ausgefüllt werden. Diese sind zwar nicht umfangreich. Das Ausfüllen nimmt aber durchaus Zeit in Anspruch, diese Arbeiten sind neben der "normalen" Arbeit und zusätzlich zur sonstigen Buchhaltung zu erledigen. Hier kommt hinzu, dass zwischenzeitlich der Bewilligungszeitraum schon fast ein Jahr zurücklag. Regelmäßig sind dann Unterlagen schon bei Steuerberatern oder bei den Finanzämtern.

Nicht nur der Bearbeitungsumfang, sondern auch die Verfahrensführung der Behörde ist für die Beurteilung der Angemessenheit der Frist von Bedeutung. In der Literatur zu § 106a SGG bzw. § 87b VwGO, die insoweit vergleichbare Regelungsinhalte wie § 41a Abs. 3 haben, wird ebenfalls nur darauf abgestellt, ob angesichts der bisherigen Bearbeitungsdauer und dem Umfang der vorzutragenden Tatsachen die Frist angemessen ist (Hauck, in: Hennig, SGG, 18. EL September 2010, § 106a SGG Rn. 7; B. AB., in: Meyer-Ladewig, 12. Auflage, § 106a SGG, Rn. 5; Schoch/Schneider/Bier/Ortloff/Riese, 33. EL Juni 2017, VwGO § 87b Rn. 22). Dies ist ein objektiver Maßstab.

Eine Frist von zwei Wochen kann nach diesem Maßstab im Einzelfall dann ausreichend sein, wenn es zuvor einen entsprechenden Vorlauf gab. Wurde schon mehrfach auf die Vorlage der Unterlagen gedrängt oder fehlt nur noch ein Beleg, kann diese Frist durchaus genügen. Wenn aber fast ein Jahr nach Ablauf des Bewilligungszeitraums erstmals diese Frist gesetzt wird, ist dies angesichts des Arbeitsaufwandes für die Zusammenstellung der Unterlagen und dem Ausfüllen der Formulare und unter Berücksichtigung der einschneidenden Folgen schlicht nicht verhältnismäßig.

Unerheblich ist, dass sich die Kläger im konkreten Fall auf die vorgenannten Umstände nicht berufen haben. Die Frist muss objektiv angemessen sein. Die für die Beurteilung der Angemessenheit maßgeblichen Umstände (Verfahrensführung der Behörde, regelmäßig zu erwartender Bearbeitungsumfang, Vergleich mit den Rechtsbehelfsfristen) sind objektive Umstände. Sie gelten unabhängig davon, ob sich Betroffene darauf berufen.

Weiterhin ist es unerheblich, dass ca. 6 Wochen nach Unterlagenanforderung diese immer noch nicht vorlagen. Die Setzung einer unangemessen kurzen Frist kann nicht dadurch geheilt werden, dass bis zum Entscheidungszeitraum keine Unterlagen eingehen.

Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass der Beklagte über den konkludent im Widerspruchsschreiben gestellten Fristverlängerungsantrag gem. § 26 Abs. 7 S. 2 SGB X gar nicht entschieden hat. § 26 Abs. 7 S. 2 SGB X erlaubt die rückwirkende Verlängerung einer bereits abgelaufenen Frist, wenn es unbillig wäre die durch den Fristablauf eingetretenen Folgen bestehen zu lassen. Diese Regelung gilt für alle behördlichen Fristen und mithin auch für die Fristen nach § 41a Abs. 3 SGB II. Angesichts des Verfahrensablaufs (erstmalige Unterlagenanforderung fast ein Jahr nach dem Ablauf des Bewilligungszeitraums mit kurzer Frist von zwei Wochen) hätte unabhängig davon, wie überzeugend der vorgetragene Grund war, mindestens über den Antrag entschieden werden müssen.

2.

Die Kammer macht von der Möglichkeit des § 131 Abs. 5 SGG Gebrauch. In der Sache sind noch weitere Ermittlungen erforderlich, weil offensichtlich nicht alle Belege vorhanden sind (Kassenbuch und Fahrtenbuch fehlen).

Die Zurückverweisung an die Beklagte ist auch sachdienlich und mit den Interessen der Beteiligten vereinbar.

Der Beklagte hat sich durch eine zu kurze Frist seiner Pflicht entzogen, den Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären. Es ist nicht Sache des Gerichts, bei diesem Verfahrensgang die Ermittlungen nachzuholen. Dem Beklagten entstehen dadurch keine Nachteile. Auch bei fortgesetzter Klage könnte er aufgrund der aufschiebenden Wirkung der Klage die Erstattungsforderung nicht vollstrecken. Ggf. kann er sogar schneller als das Gericht ermitteln.

Damit ist diese Entscheidung auch mit den Interessen der Kläger vereinbar. Es geht um einen vergangenen Leistungszeitraum, für den sie bereits Leistungen erhalten haben. Angesichts des möglichen Einkommens aus selbständiger Tätigkeit und der Möglichkeit die Vollstreckbarkeit einer Erstattungsforderung durch Widerspruch und Klage zunächst abzuwenden, ist es unerheblich, ob die Ermittlungen durch das Gericht oder den Beklagten erfolgen.

Die Frist von 6 Monaten nach Eingang der Akten ist gewahrt. Die Klage ist am 5. Oktober 2017 eingegangen, die Entscheidung erfolgte in weniger als 4 Monaten nach Klageeingang.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und berücksichtigt, dass die Aufhebung des angegriffenen Bescheides ohne Entscheidung in der Sache erfolgt. Eine endgültige Entscheidung über die Höhe der tatsächlich zustehenden Leistungen liegt nach wie vor nicht vor.