Sozialgericht Osnabrück
Urt. v. 14.11.2018, Az.: S 34 KR 281/17
Kostenübernahme für eine Gowing Armorthese als erforderliches Hilfsmittel zum unmittelbaren Behinderungsausgleich
Bibliographie
- Gericht
- SG Osnabrück
- Datum
- 14.11.2018
- Aktenzeichen
- S 34 KR 281/17
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2018, 40744
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlage
- § 33 SGB V
Tenor:
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 5. September 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. September 2017 verurteilt, den Kläger mit einer mikroprozessorgesteuerten Armorthese Gowing entsprechend dem Kostenvoranschlag des A. zu versorgen. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger verlangt die Kostenübernahme für eine Gowing Armorthese.
Beim Kläger (geb. am 7. Dezember 2005) besteht eine Muskeldystrophie Typ Duchenne.
Der Kläger wurde rollstuhlpflichtig. Außerdem setze ein Kraftschwund in den oberen Extremitäten ein. Dem Kläger wurde unter dem 25. Mai 2016 eine dynamische Armorthese Gowing verordnet. Damit soll nach der Verordnung das selbständige Essen und Trinken sowie das einfache Benutzen von verschiedenen Alltagsgegenständen ermöglicht werden. Ein Erprobungs-video liege vor.
Die Beklagte forderte das Video an und lehnte gleichwohl den Antrag zunächst ab (Bescheid vom 11. Juli 2016). Sie führte ergänzend aus, dass nach Vorlage der Unterlagen eine weitere Prüfung eingeleitet werde.
Von Amts wegen forderte die Beklagte erneut das Video an. Sodann teilten die Eltern des Klägers mit, dass das Video bereits übersandt worden sei. Es lag jedenfalls am 1. August 2016 bei der Beklagten vor. Ob es schon vorher vorlag, ist zwischen den Beteiligten streitig.
Am 1. August 2016 forderte die Beklagte ein MDK-Gutachten an und informierte den Kläger darüber. In seinem Gutachten vom 22. August 2016 führte der MDK aus, dass letztlich insbesondere die Aufnahme von Nahrungsmitteln auch mittels Orthese nur teilweise eigenständig möglich sei. Inwieweit die Teilermöglichung eine Leistungspflicht der Krankenkasse auslöse, sei leistungsrechtlich zu würdigen. Er verwies auf eine Entscheidung des BSG zu B 3 KR 12/05 R.
Mit Bescheid vom 5. September 2016 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Der Bescheid enthielt keine Rechtsmittelbelehrung.
Mit Schreiben vom 12. September 2016 legte der Kläger Widerspruch ein. Er machte geltend, dass das Hilfsmittel dem unmittelbaren Behinderungsausgleich diene und dass in diesem Zusammenhang der Ausgleich möglichst weitgehend zu erfolgen habe.
Der MDK kam in seinem Gutachten vom 10. Februar 2017 zum Ergebnis, dass hier mittelbarer Behinderungsausgleich vorliege. Nicht die Armfunktion selbst, die Bewegung der Gelenke und des Greifens werde ermöglicht oder erleichtert, sondern die fehlende Funktion mit Greiffunktion und Bewegung des Armes durch die Externe mikroprozessorgesteuerte Orthese durch einfache Beuge-Streckbewegung unterstützt. Die entsprechende Orthese stelle die Arm-funktion des Patienten weder wieder her, noch könne sie sie stärken. Dies stelle sich so dar wie beim Rollstuhl, der das Gehen nicht ermögliche. Die Gebrauchsvorteile seien im Übrigen nicht wesentlich.
Der Kläger hat am 15. Juli 2017 Klage erhoben.
Der Kläger hat zunächst aus einer geltend gemachten Genehmigungsfiktion heraus auf Leistung geklagt und Untätigkeitsklage erhoben. Mit Widerspruchsbescheid vom 15. September 2017 hat die Beklagte den Widerspruch unter Bezugnahme und Wiederholung der Ausführungen des MDK zurückgewiesen. Nunmehr beantragt der Kläger, wie folgt zu erkennen:
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 5. September 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. September 2017 verurteilt, den Kläger mit einer mikroprozessorgesteuerten Armorthese Gowing entsprechend dem Kostenvoranschlag des A. zu versorgen.
hilfsweise:
Die Beklagte zu verurteilen, den Kläger mit einer mikroprozessorgesteuerten Armorthese Gowing entsprechend dem Kostenvoranschlag des A. zu versorgen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Kammer hat die Verwaltungsakte beigezogen und ein Gutachten des Dr. E. vom 9. Mai 2018 eingeholt, worauf Bezug genommen wird (Bl. 53 ff. der Gerichtsakte).
Entscheidungsgründe
Die Klage ist begründet. Der angegriffene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Er hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Versorgung mit der Orthese, weil es sich um ein erforderliches Hilfsmittel zum unmittelbaren Behinderungsausgleich handelt (§ 33 SGB V). Es handelt sich weder um einen alltäglichen Gebrauchsgegenstand, noch um ein ausgeschlossenes Hilfsmittel.
Vorliegend ist der unmittelbare Behinderungsausgleich einschlägig.
Ausgangspunkt der Abgrenzung zwischen mittelbarem und unmittelbarem Behinderungsausgleich ist, ob die Restfunktionalität ersetzt bzw. verstärkt wird (unmittelbarer Behinderungsausgleich) oder ob bei fehlender Restfunktionalität lediglich die Folgen einer Behinderung ohne Beteiligung des betroffenen Funktionssystems ausgeglichen werden (mittelbarer Behinderungsausgleich). Nach diesem Maßstab liegt z. B. mittelbarer Behinderungsausgleich vor, wenn einem gehörlosen Informationen, die ansonsten über Töne oder Geräusche transportiert werden (Türklingel), durch visuelle Reize übermittelt werden. Ähnlich ist es bei einem Rollstuhl, weil der Betroffene nicht mehr selbst geht und die Beine für die Fortbewegung auch nicht mehr aktiv eingesetzt werden. Vielmehr erfolgt die Fortbewegung durch Benutzung der Hände wie bei einem Aktivrollstuhl oder über eine elektrische Steuerung.
In diesem Sinne ist die beantragte Orthese dem unmittelbaren Behinderungsausgleich zuzuordnen. Sie ermöglicht nämlich dem Kläger das Greifen mit seiner eigenen Hand, indem die beim Kläger vorhandene Restfunktionalität verstärkt wird. Der Kläger ergreift Gegenstände mit seiner eigenen Hand, so wie ein Prothesennutzer mit seinen eigenen Beinen (bzw. dem vorhandenen Rest) selbständig geht. Die Orthese bildet mit dem Arm des Klägers ein zusammenhängendes Funktionssystem. Die Bedienung ist nur mit der verbleibenden Armkraft des Klägers möglich und durch Dritte (wie bei einem Rollstuhl oder wie bei Roboterarmen, vgl. S 34 KR 691/16, Urteil vom 25. April 2018). Sie setzt eine verbleibende Restfunktionalität voraus und verstärkt diese. Angesichts dessen ist die Versorgung gerade nicht mit einem Rollstuhl, sondern (um bei Gehbehinderungen zu bleiben) mit einem Rollator vergleichbar.
Völlig unerheblich ist, in welchem Ausmaß der unmittelbare Behinderungsausgleich erfolgt. Jedoch erlaubt sich die Kammer den Hinweis, dass der Gebrauchsvorteil jedenfalls im Sinne des unmittelbaren Behinderungsausgleichs wesentlich ist. Gerade das selbständige Essen ist für ein Leben in Würde und für ein selbstbestimmtes Leben von besonderer Bedeutung. Dass eine Aufsicht erforderlich ist, um bei Verschlucken reagieren zu können, steht dem nicht entgegen. Eine Aufsicht löst weniger pflegerischen Aufwand aus als füttern. Außerdem behält der Betroffene bei einer bloßen Aufsicht zur Verhinderung von Verschlucken ein größeres Maß an Autonomie als würde er gefüttert werden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.