Sozialgericht Osnabrück
v. 31.05.2018, Az.: S 34 KR 423/17

Kostenübernahme für eine Mutter-Kind-Kur hinsichtlich Schwächung der Gesundheit

Bibliographie

Gericht
SG Osnabrück
Datum
31.05.2018
Aktenzeichen
S 34 KR 423/17
Entscheidungsform
Gerichtsbescheid
Referenz
WKRS 2018, 18177
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 24. Januar 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. September 2017 verurteilt, die Kosten für eine Mutter-Kind-Maßnahme für die Klägerin zu übernehmen. Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand

Die Klägerin verlangt die Kostenübernahme für eine Mutter-Kind-Kur.

Die Klägerin beantragte unter dem 9. Dezember 2016 eine Mutter-Kind-Kur. Der Antrag ist am 28. Dezember 2016 von der Beklagten gescannt worden. Dem Antrag lag ein Befundbericht der behandelnden Ärztin D. bei. Wegen der Einzelheiten wird auf den Antrag und den Befundbericht Bezug genommen (Bl. 8-1 der Verwaltungsakte; im Folgenden bedeuten Klammerzusätze mit Seitenzahlen Bezugnahmen auf die entsprechenden Aktenteile). Die Beklagte teilte am Tage des Scans mit, dass die Unterlagen dem MDK zur Prüfung vorgelegt würden.

Der MDK sprach sich in seinem Gutachten vom 23. Januar 2017 gegen eine Kostenübernahme aus (Bl. 17-15 der Verwaltungsakte).

Unter Berufung auf dieses Gutachten lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 24. Januar 2017 den Antrag ab. Die Frist von vier Jahren nach Ablauf der letzten Kurmaßnahme sei noch nicht abgelaufen und es liege keine psychosoziale Problemsituation in einem Maße vor, das sich von anderen Familien absetze.

Dagegen legte die Klägerin im Februar 2017 Widerspruch ein und schilderte im Detail ihre Beschwerden und ihre soziale Belastungssituation, namentlich ihre trotz OP persistierenden Rückenbeschwerden und die mangelnde Unterstützung durch ihren Partner (Bl. 23-21 der Verwaltungsakte).

Daraufhin holte die Beklagte eine erneute Stellungnahme des MDK vom 17. März 2017 ein (Bl. 39-36 der Verwaltungsakte).

Sodann vertiefte die Klägerin ihre Widerspruchsbegründung und machte geltend, dass ihre Beschwerden in wesentlicher Hinsicht als Mutter verursacht oder aufrechterhalten werden.

Der MDK blieb in seinem Gutachten vom 22. Mai 2017 (Bl. 55-53 der Verwaltungsakte) bei seiner Auffassung.

Mit Widerspruchsbescheid vom 19. September 2017 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück, weil Maßnahmen am Wohnort ausreichend seien und verwies auf die Stellungnahmen des MDK.

Die Klägerin hat am 16. Oktober 2017 Klage erhoben.

Sie beantragt, die Beklagte zu verurteilen, den Bescheid vom 24. Januar 2017 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 19. September 2017 abzuändern und der Klägerin eine Mutter-Kind-Kur zu gewähren. Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Die Kammer hat die Verwaltungsakte der Beklagten beigezogen, einen Befundbericht von Frau D. vom 27. Februar 2018 beigezogen (Bl. 23 ff. der Gerichtsakte) und die Beteiligten zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört.

Entscheidungsgründe

Die Kammer konnte durch Gerichtsbescheid entscheiden, weil die Sache keine Schwierigkeiten rechtlicher oder tatsächlicher Art aufweist, der Sachverhalt geklärt ist und die Beteiligten gehört worden sind (§ 105 SGG).

Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage auszulegen (§ 123 SGG), nämlich mit dem Antrag, die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 24. Januar 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. September 2017 zu verurteilen, die Kosten für eine Mutter-Kind-Maßnahme für die Klägerin zu übernehmen. Die Fassung als Verpflichtungsklage dahingehend, die angegriffenen Bescheide abzuändern und die Leistung nur zu bewilligen wird als Versehen gedeutet, das keinen Unterschied in der Sache macht.

Anspruchsberechtigt ist nur die Klägerin als Mutter auch soweit es um die Mitnahme des Kindes geht. Dies folgt aus dem Wortlaut des § 24 Abs. 1 S. 1 SGB V, der überschrieben ist mit "Vorsorgemaßnahmen für Mütter und Väter".

Die Klage ist begründet. Der angegriffene Bescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Beklagte durfte die Leistung nicht versagen, weil die Klägerin nach § 24 Abs. 1 S. 1, § 23 Abs. 1 SGB V einen Anspruch auf Vorsorgeleistungen als Mutter-Kind-Maßnahme hat.

Bei der Klägerin liegt gem. § 23 Abs. 1 Nr. 2 SGB V eine Schwächung der Gesundheit vor, die in absehbarer Zeit voraussichtlich zu einer Krankheit führen würde (1.) und die begehrte Maßnahme ist aus medizinischen Gründen im Sinne von § 24 Abs. 1 i. V. m. § 23 Abs. 1 Nr. 2 SGB V erforderlich, um diese Schwächung zu beseitigen (2.). Aufgrund einer Ermessensreduktion auf Null durch die Umstände des Einzelfalles ist ein Anspruch auf Leistungserbringung in Form einer Mutter-Kind-Maßnahme gegeben (3.).

1.

Bei der Klägerin lagen im Zeitpunkt der Antragstellung jedenfalls eine Schwächung der physischen Gesundheit (a.) und psychischen Gesundheit (b.) vor und dies ist auch noch im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung der Fall (c.):

a.

Die behandelnde Ärztin schilderte im Rahmen der Antragstellung, dass die Klägerin erschöpft sei, nicht ausreichend belastbar sei, an rezidivierenden grippalen Infekten litt, Ende 2016 zusätzlich Herpes auftrat, ein bekanntes LWS-Syndrom mit Zustand nach Operation vorlag und dass Herzrhythmusstörungen vorlagen.

b.

Hinzu kommt die Schilderung der Belastungssituation durch die Klägerin im Widerspruchsschreiben im Sinne einer Schwächung der psychischen Gesundheit. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass sich die dort geschilderte Situation zwischenzeitlich nachhaltig geändert hätte. Die Schilderung durch die Klägerin, wonach trotz OP persistierende LWS-Beschwerden verbleiben und diese in Verbindung mit der psychosozialen Belastungssituation erheblich ihr Allgemeinbefinden verschlechtern, ist ohne weiteres glaubhaft. Insbesondere der Umstand, dass der Partner sich kaum in die Erziehung einbringt, ist aufgrund seiner nachvollziehbar geschilderten Arbeitssituation glaubhaft. Hinzu kommt die Nebentätigkeit der Klägerin durch eine geringfügige Beschäftigung, die offenbar auch finanziell nicht verzichtbar ist.

c.

Die letzten Befunde stehen dieser Würdigung nicht entgegen. In ihrem aktuellen Befundbericht teilte die Ärztin mit, dass keine höhergradigen Herzrhythmusstörungen vorlägen. Im Blutbild seien lediglich die Eisenspeicherwerte teilweise auffällig. Die Beschwerden seien im Kern auf die LWS-Beschwerden zurückzuführen.

Diese Umstände sind deswegen unbeachtlich, weil § 23 Abs. 1 Nr. 1 SGB V auf eine Schwächung der Gesundheit abstellt, die sich in absehbarer Zeit in einen Krankheitszustand entwickeln könnte. Das Vorliegen einer Krankheit ist danach nicht erforderlich, so dass die Einholung von AU-Bescheinigungen oder die Inanspruchnahme ärztlicher Behandlung gerade nicht erforderlich ist.

Der Annahme, dass sich in absehbarer Zeit eine Krankheit entwickeln könnte, steht nicht entgegen, dass die Klägerin aktuell nicht bei ihrer Ärztin in Behandlung ist (letzte Behandlung im August 2017 wegen einer Impfung) und dass sich zwischen Antragstellung und letztem Arztbesuch im August 2017 (mehr als ein halbes Jahr) keine (weitere) Krankheit entwickelt hat. Aufgrund der nachvollziehbar geschilderten Belastungssituation ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Belastungsgrenze überschritten ist. Hinzu kommt gerade bei psychischen Belastungssituationen, dass sich die Krankheitseinsicht häufig erst sehr spät einstellt. Dass die Klägerin deswegen derzeit nicht in Behandlung ist, bedeutet nicht, dass die Krankheitsschwelle nicht schon überschritten ist.

Weiterhin ist die vom MDK offenbar bevorzugte multimodale Schmerztherapie (Gutachten vom 17. März 2017) mit den Schwierigkeiten verbunden, dass die Klägerin ländlich wohnt und sowohl die Therapieeinheiten selbst als auch die dazugehörigen Eigenübungen unter dem Vorbehalt der Kinderbetreuung stehen. Aus der Nichtinanspruchnahme dieser Therapiemöglichkeit kann daher nicht auf das Nichtvorhandensein der entsprechenden Krankheit geschlossen werden, wobei die Belastungssituation nicht allein schmerzbedingt ist.

2.

Dass grundsätzlich der Zustand der Klägerin medizinische Maßnahmen erfordert, wird auch vom MDK nicht in Zweifel gezogen. Die Begründungen des MDK für die Ablehnung einer Mutter-Kind-Maßnahme sind jedoch nicht überzeugend. Erstens wird nicht das Tatbestandsmerkmal der Schwächung des Gesundheitszustandes geprüft (a.). Zweitens wird rechtlich unzutreffend eine Kausalität zwischen familiärer Belastungssituation und Krankheit verlangt (b.) und drittens werden psychosoziale Belastungsfaktoren ausgeblendet (c.). Auf ambulante Maßnahmen muss sich die Klägerin bei Vorsorgeleistungen ohnehin nicht verweisen lassen (d.). Ein besonderes Maß familiärer Belastung ist keine Leistungsvoraussetzung (e.).

a.

Auch im Gutachten vom 17. März 2017 legt der MDK den Schwerpunkt auf die aktuell bestehenden Gesundheitsstörungen. Bei einer medizinischen Vorsorgeleistung kann jedoch nicht darauf abgestellt werden. Denn schon der Begriff der Vorsorge und im Übrigen der Wortlaut des § 23 Abs. 1 Nr. 1 (Schwächung der Gesundheit, die in absehbarer Zeit zu einer Krankheit führen würde, ) verdeutlichen, dass es auf eine Prognose ankommt. Dafür genügt ein Abstellen auf den aktuellen Gesundheitszustand nicht.

b.

Im Kern spricht sich der MDK gegen eine Kostenübernahme aus, weil die Gesundheitsstörungen nicht in engem Zusammenhang mit der Erziehungsverantwortung stünden und deswegen eine mütterspezifische Komplextherapie nicht notwendig sei (Gutachten vom 23. Januar 2017). Auch in seinem Gutachten vom 22. Mai 2017 stellt der MDK die Schmerzsymptomatik ihn den Vordergrund und verlangt weiter, dass diese durch die familiäre Belastungssituation bedingt sein müssten.

Erstens ist die Verengung auf die orthopädisch bedingte Schmerzsymptomatik unzutreffend (s. o, Punkt 2.a. und 1.b.). Zweitens sieht das Gesetz nicht vor, dass ein Kausalzusammenhang zwischen den Krankheiten dahingehend besteht, dass eine Krankheit durch die familiäre Situation verursacht wird (LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21. Juni 2012, Az.: L 5 KR 34/12, juris, Rn. 13). Außerdem stellt das Gesetz ohnehin nicht allein auf Krankheiten ab, sondern lässt einen geschwächten Gesundheitszustand genügen. Zur Gesundheit gehört auch die psychische Gesundheit. Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass die familiäre Situation es der Klägerin auch erheblich erschwert, diesbezügliche Therapiemaßnahmen in Anspruch zu nehmen und die Eigenübungen durchzuführen. Immerhin ist sie weitestgehend allein für Haushalt und Kind zuständig.

c.

Das Gutachten vom 17. März 2017 ist zudem widersprüchlich bzw. unvollständig, weil auf S. 3 f. unter Berufung auf die Begutachtungsleitlinien unter anderem auf

• beeinträchtigte Mutter-Vater-Kind-Beziehung;

• mangelnde Unterstützung bei der Kinderziehung;

• fehlende Anerkennung der Mutter-Vater-Rolle nicht gleichberechtigte Stellung der Frau/des Mannes in der Familie

abgestellt wird, diese Umstände aber überhaupt nicht geprüft werden, obwohl diese Umstände nach der Schilderung im Widerspruchsschreiben mehr als Nahe liegen und nach Auffassung der Kammer auch zu bejahen sind:

Die Klägerin ist in der Kindererziehung im Wesentlichen auf sich gestellt, insbesondere auf Großeltern kann nicht ergänzend zurückgegriffen werden. Der Mann bringt sich aus Gründen, die aus seiner Sicht verständlich sind, nicht in die Erziehung ein. Der Kammer erschließt sich nicht, was sonst vorliegen müsste, um von mangelnder Unterstützung bei der Kindererziehung auszugehen.

Aus der Schilderung der Klägerin lässt sich weiterhin eine beeinträchtigte Beziehung der Klägerin zu ihrem Mann ablesen. Denn offenbar geht ihr Mann nicht auf die Probleme der Klägerin ein, indem er sein Verhalten ändert. Gleichzeitig lässt sich dies als fehlende Anerkennung der Mutter-Rolle deuten bzw. auf mangelnde Gleichberechtigung in der Beziehung.

Diese psychosoziale Belastungssituation, gepaart mit den vom MDK anerkannten LWS-Beschwerden, stellt ein komplexes mütterspezifisches Problemfeld dar.

d.

Der Grundsatz "ambulant vor stationär" gilt im Rahmen von § 24 Abs. 1 SGB V nicht, was aus § 24 Abs. 4 S. 1 SGB V folgt (LSG Nds. Bremen, L 4 KR, 10/12 B ER, juris, Rn. 29).

e.

Schließlich lässt sich dem Gesetz nicht entnehmen, dass die Belastung der Mutter im Vergleich zu anderen Familien überdurchschnittlich sein müsse oder ein besonderes Maß erreichen müsse (so der Ausgangsbescheid in diesem Sinne auch LSG für das Saarland, Urteil vom 21. Oktober 2015, Az.: L 2 KR 27/15, juris, Rn. 24).

Der Wortlaut sieht nur vor, dass bei einer medizinischen Erforderlichkeit, die an § 23 Abs. 1 SGB V zu messen ist, der Anspruch gegeben ist. Die in § 23 Abs. 1 SGB V genannten Voraussetzungen "Schwächung der Gesundheit, Krankheit, " enthalten kein qualifizierendes Merkmal wie "besonders schwerwiegend", "erheblich", "überdurchschnittlich" etc. Das Gesetz stellt genau genommen überhaupt nicht auf das Ausmaß der Belastungssituation ab, sondern auf den Zustand der Mutter bzw. des Vaters. Liegt eine Schwächung der Gesundheit vor, kann diese nicht deswegen verneint werden, weil möglicherweise der betroffene Elternteil unterdurchschnittlich belastbar ist. Der Sinn einer Vorsorgemaßnahme ist es ja gerade, diese Belastbarkeit wiederherzustellen. Vielmehr ist das individuelle Belastetsein der Maßstab.

Eine entsprechende Qualifizierung kann auch nicht im Tatbestandsmerkmal der "Erforderlichkeit" aus § 24 Abs. 1 S. 1 SGB V verortet werden. Erstens lässt sich die "durchschnittliche" Belastungssituation, nach hier vertretener Auffassung das "durchschnittliche" Belastetsein, kaum empirisch fassen. Zweitens lässt sich dieses Argument ad absurdum führen: Man würde schließlich nicht eine Therapiemaßnahme für Rückenschmerzen (ein Volksleiden) deshalb verneinen, weil die Rückenschmerzen im Landesvergleich nur durchschnittlich oder gar unterdurchschnittlich sind. Das würde dazu führen, dass die Krankenkassen umso weniger Leistungen erbringen müssen, je kranker in einer Gesamtbetrachtung die Bevölkerung ist.

3.

Weiterhin ist eine Ermessensreduktion auf Null, nämlich auf eine Mutter-Kind-Maßnahme gegeben: Aufgrund der familiären Situation und der räumlichen Lage der Wohnung der Klägerin ist nicht denkbar, wie ohne eine "Auszeit" für Mutter und Kind diese Problematik angegangen werden könnte. Denn wie soll die Klägerin ambulante Maßnahmen wahrnehmen und die zugehörigen Eigenübungen durchführen, wenn sich niemand außer ihr um das Kind kümmern kann? Weiterhin kann das Kind nicht versorgt werden, wenn die Klägerin das Kind nicht mitnehmen kann.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.