Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 15.05.2015, Az.: 4 ME 61/15
Ausbildungsförderung; unwirksame Bestimmung; Eltern; Kind; Rücksicht; Unterhalt; Vorausleistung
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 15.05.2015
- Aktenzeichen
- 4 ME 61/15
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2015, 45025
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 12.02.2015 - AZ: 2 B 387/14
Rechtsgrundlagen
- § 36 Abs 3 BAföG
- § 36 Abs 1 BAföG
- § 1612 Abs 2 S 2 BGB
- § 1612 Abs 2 S 1 BGB
- Art 6 Abs 1 GG
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Im Rahmen der Anwendung von § 36 Abs. 3 BAföG hat das Ausbildungsförderungsamt selbst umfassend zu prüfen, ob eine Unterhaltsbestimmung, die die Eltern des Auszubildenden gemäß § 1612 Abs. 2 Satz 1 BGB getroffen haben, deshalb unwirksam ist, weil sie nicht die gebotene Rücksicht auf die Belange des Kindes nimmt.
2. Eine Unterhaltsbestimmung der Eltern nimmt nicht die gebotene Rücksicht auf die Belange des Kindes, wenn sie darauf angelegt ist, die familiäre Lebensgemeinschaft, die zwischen dem unterhaltsberechtigten volljährigen Kind sowie dessen Partner und dem gemeinsamen Kind der beiden besteht, auseinanderzureißen.
Tenor:
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Göttingen - Einzelrichter der 2. Kammer - vom 12. Februar 2015 wird zurückgewiesen.
Der Antragsgegner trägt die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
I.
Die heute 27-jährige Antragstellerin lebt gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten und einem gemeinsamen Kind in D.. Im August 2014 stellte sie einen Antrag auf Vorausleistung von Ausbildungsförderung für die Aufnahme einer Ausbildung zur Sozialassistentin an einer Berufsfachschule in D.. Die im Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners lebenden Eltern der Antragstellerin erklärten im Rahmen des Verwaltungsverfahrens, dass ihre Tochter 2008 ohne ihre Zustimmung nach D. gezogen sei. Die gewünschte Ausbildung könne von der Antragstellerin auch in C. aufgenommen werden. Sie - die Eltern - seien für diesen Fall bereit, der Antragstellerin und deren Kind in ihrem Haus freie Unterkunft sowie freie Verpflegung anzubieten. Daraufhin gewährte der Antragsgegner der Antragstellerin mit Bescheid vom 30. Dezember 2014 für den Bewilligungszeitraum August 2014 bis Juli 2015 Vorausleistungen in Höhe von monatlich 373,-- EUR. Dabei ging er davon aus, dass der monatliche Bedarf von 651,-- EUR anteilig in Höhe von 278,-- EUR aufgrund der Bereitschaft der Eltern, Naturalunterhaltsleistungen an die Antragstellerin zu erbringen, gemäß § 36 Abs. 3 BAföG i.V.m. § 1612 Abs. 2 BGB als gedeckt anzusehen sei.
Mit dem Beschluss, gegen den sich die Beschwerde des Antragsgegners richtet, hat das Verwaltungsgericht diesen im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig Ausbildungsförderung im Wege der Vorausleistung in Höhe von monatlich 651,-- EUR, beginnend ab November 2014, zu gewähren. Ein Anordnungsgrund sei gegeben, da die Antragstellerin existenzsichernde Leistungen begehre, die ihr der Antragsgegner teilweise vorenthalte. Einen Anordnungsanspruch habe die Antragstellerin ebenfalls glaubhaft gemacht. Es spreche alles dafür, dass der Antragsgegner bei der Vorausleistung von Ausbildungsförderung zu Unrecht von den Eltern der Antragstellerin (angeblich) angebotene Sachunterhaltsleistungen auf den Bedarf angerechnet habe. Die Eltern der Antragstellerin hätten keine wirksame Unterhaltsbestimmung gemäß § 1612 Abs. 2 Satz 1 BGB zur Leistung von Naturalunterhalt getroffen. Das gelte zum einen, weil es sich bei der Unterhaltsbestimmung gegenüber dem unterhaltsberechtigten Kind um eine empfangsbedürftige Willenserklärung handele, die Eltern ihre Bereitschaft zur Leistung von Naturalunterhalt aber nicht gegenüber der Antragstellerin, sondern nur gegenüber von Mitarbeitern des Antragsgegners erklärt hätten. Unabhängig hiervon sei die Unterhaltsbestimmung der Eltern deshalb unwirksam, weil sie nicht in der gebotenen Weise auf die Belange der Antragstellerin Rücksicht nehme. Da die Antragstellerin mit ihrem Lebensgefährten und einem gemeinsamen Kind in einer familiären Gemeinschaft lebe, sei es ihr nicht zumutbar, für die Aufnahme einer Ausbildung zurück nach C. in den Haushalt ihrer Eltern zu ziehen. Dies müsse bei der Entscheidung über die Gewährung von Vorausleistungen auch berücksichtigt werden, ohne dass die Antragstellerin darauf zu verweisen sei, zuvor in einem familiengerichtlichen Verfahren eine Abänderung der von ihren Eltern getroffenen Unterhaltsbestimmung zu erwirken.
II.
Die Beschwerde des Antragsgegners hat keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat dem Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zu Recht stattgegeben. Das Beschwerdevorbringen des Antragsgegners, auf dessen Prüfung sich der Senat nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO zu beschränken hat, rechtfertigt keine andere Entscheidung.
Es kommt insoweit nicht darauf an, ob - wie der Antragsgegner im Beschwerdeverfahren vorträgt - die Eltern ihre Bereitschaft zur Erbringung von Naturalunterhaltsleistungen auch gegenüber der Antragstellerin erklärt haben. Denn das Verwaltungsgericht hat die angefochtene Entscheidung selbständig tragend auch darauf gestützt, dass die Unterhaltsbestimmung der Eltern deshalb unwirksam ist, weil sie nicht in der gebotenen Weise auf die Belange der Antragstellerin Rücksicht nimmt. Diese Ansicht teilt der Senat.
Gemäß § 36 Abs. 3 BAföG wird Ausbildungsförderung nicht geleistet, soweit die Eltern bereit sind, Unterhalt entsprechend einer gemäß § 1612 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches getroffenen Bestimmung zu leisten. Die Anrechnung von Unterhaltsleistungen auf den ausbildungsförderrechtlichen Bedarf erfolgt somit nur für den Fall, dass der Auszubildende Unterhaltsleistungen nicht in Anspruch nimmt, die ihm seine Eltern auf der Grundlage einer gemessen an § 1612 Abs. 2 BGB wirksamen Unterhaltsbestimmung anbieten (vgl. Rothe/Blanke, BAföG, Stand: 37. Ergänzungslieferung 2014, § 36 Rdnr. 19.3).
Gemäß § 1612 Abs. 2 Satz 1 BGB können Eltern, die einem unverheirateten Kind Unterhalt zu gewähren haben, bestimmen, in welcher Art und für welche Zeit im Voraus der Unterhalt gewährt werden soll, wobei auf die Belange des Kindes die gebotene Rücksicht zu nehmen ist. Dieses Unterhaltsbestimmungsrecht der Eltern, das sich auch auf die Frage bezieht, ob der Unterhalt in bar oder in Naturalleistungen gewährt werden soll, findet seine Grenze in der gebotenen Rücksichtnahme auf die Belange des Kindes. Eine Unterhaltsbestimmung, die die gebotene Rücksicht auf die Belange des Kindes nicht nimmt, ist unwirksam (vgl. Westermann, in: Erman, BGB, 14. Aufl. 2014, § 1612 Rdnr. 22; Viefhues, in: jurisPK-BGB, 7. Aufl. 2014, § 1612 Rdnr. 65). Sie führt in diesem Fall - wie das Verwaltungsgericht zutreffend entschieden hat - nicht zu einer Anrechnung der angebotenen Unterhaltsleistungen auf den ausbildungsförderungsrechtlichen Bedarf gemäß § 36 Abs. 3 BAföG (ebenso VG München, Urt. v. 20.9.2012 - M 15 K 12.18 -).
Ohne Erfolg macht der Antragsgegner demgegenüber gestützt auf Ziffer 36.3.1 Satz 3 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföGVwV) geltend, dass bei der Bewilligung einer Vorausleistung die Unterhaltsbestimmung der Eltern so lange zu Lasten des Auszubildenden zu beachten sei, bis dieser vor dem Familiengericht eine Abänderung der Unterhaltsbestimmung erwirke. Die vom Antragsgegner angeführte Regelung der BAföGVwV bindet den Senat als norminterpretierende Verwaltungsvorschrift nicht. Sie steht auch nicht mehr im Einklang mit dem geltenden Gesetzesrecht, sondern gibt die frühere Rechtslage wieder.
Bis zum 31. Dezember 2007 war dem § 1612 Abs. 2 Satz 1 BGB ein Satz 2 angefügt, wonach das Familiengericht aus besonderen Gründen auf Antrag des Kindes die Unterhaltsbestimmung der Eltern ändern kann. Diese Regelung des früheren Rechts hatte zur Folge, dass eine Unterhaltsbestimmung der Eltern auch dann zunächst wirksam und infolge dessen auch für Gerichte und Behörden bindend war, wenn sie nicht die gebotene Rücksicht auf die Belange des Kindes nahm. Diese Bindungswirkung entfiel - abgesehen vom Extremfall einer Unwirksamkeit der Unterhaltsbestimmung wegen einer tatsächlichen oder rechtlichen Undurchführbarkeit derselben - erst durch eine erfolgreiche Anstrengung des in § 1612 Abs. 2 Satz 2 BGB a.F. geregelten familiengerichtlichen Abänderungsverfahrens. Dieses Abänderungsverfahren konnte nach dem ausdrücklichen Wortlaut der Regelung nur auf Antrag des Kindes, nicht aber auf Antrag eines Dritten und somit auch nicht durch ein Ausbildungsförderungsamt, das einen Unterhaltsanspruch des Kindes gemäß § 37 BAföG auf sich übergeleitet hatte, in Gang gesetzt werden (vgl. zu alledem BGH, Urt. v. 3.12.1980 - IVb ZR 537/80 -, FamRZ 1981, 143).
Diese frühere Rechtslage hat der Gesetzgeber mit der Aufhebung von § 1612 Abs. 2 Satz 2 BGB a.F. sowie einer geringfügigen Umformulierung des Wortlautes von Satz 1 der Regelung bewusst geändert. Dabei war es erklärtes Ziel, die bisherige Unterscheidung zwischen der Wirksamkeit einer Unterhaltsbestimmung nach Satz 1 der Regelung sowie deren Abänderbarkeit auf gesonderten familiengerichtlichen Antrag des Kindes gemäß des bisherigen Satzes 2 der Vorschrift zu beseitigen. Während nach dem bisherigen Recht die fehlende Rücksichtnahme der Eltern auf Belange des Kindes bei der Unterhaltsbestimmung erst im Rahmen des Abänderungsverfahrens zu prüfen war, soll nach dem neuen Recht eine Unterhaltsbestimmung von vornherein nur dann wirksam sein, wenn die gebotene Rücksicht auf die Belange des Kindes genommen wird (vgl. BT-Drs. 16/1830, S. 26; siehe auch Westermann, in: Erman, BGB, 14. Aufl. 2014, § 1612 Rdnr. 22, 25).
Da eine gegenüber dem Auszubildenden rücksichtslose Unterhaltsbestimmung seiner Eltern nach dem heutigen Recht von vornherein nicht mehr wirksam und daher auch für das Ausbildungsförderungsamt bei der Entscheidung über die Gewährung einer Vorausleistung nicht mehr bindend ist, gibt es somit keinen sachlichen Grund mehr, den Auszubildenden vor der Bewilligung der Vorausleistung auf eine familiengerichtliche Auseinandersetzung mit seinen Eltern zu verweisen. Denn der allgemeine Zweck des § 36 BAföG liegt gerade darin, dem Empfänger der Vorausleistung die Aufnahme der Ausbildung zu ermöglichen, ohne dass er zunächst zu deren Finanzierung seine Eltern auf Unterhalt verklagen muss (vgl. Rothe/Blanke, BAföG, Stand: 37. Ergänzungslieferung 2014, § 36 Rdnr. 4.1). Entsprechend ist dem Verwaltungsgericht darin beizustimmen, dass die Wirksamkeit der Unterhaltsbestimmung der Eltern somit nunmehr eine familienrechtliche Vorfrage ist, die das Ausbildungsförderungsamt im Rahmen der Anwendung von § 36 Abs. 3 BAföG in eigener Kompetenz inzident umfassend zu prüfen hat (ebenso VG München, Urt. v. 20.9.2012 - M 15 K 12.18 -).
Diese Prüfung ergibt hier, dass die Unterhaltsbestimmung der Eltern unwirksam ist, weil sie nicht die gebotene Rücksicht auf die Belange der Antragstellerin nimmt.
Die Frage, ob eine elterliche Unterhaltsbestimmung gegenüber dem Kind rücksichtslos und somit unwirksam ist, entscheidet sich anhand einer Zumutbarkeitsprüfung (vgl. Westermann, in: Erman, BGB, 14. Aufl. 2014, § 1612 Rdnr. 27). Da das in § 1612 Abs. 2 Satz 1 BGB geregelte Unterhaltsbestimmungsrecht gerade der wirtschaftlichen Entlastung des Unterhaltspflichtigen dienen soll, haben bei dieser Zumutbarkeitsprüfung die Belange des Kindes nur in Ausnahmefällen Vorrang gegenüber den wirtschaftlichen Interessen der Eltern, wenn schwerwiegende Gründe ein Zusammenleben mit den Eltern bzw. die sonstige Entgegennahme der durch das Bestimmungsrecht vorgegebenen Unterhaltsleistungen entgegenstehen (vgl. OLG Brandenburg, Beschl. v. 21.5.2008 - 9 BF 116/08 -, NJW 2008, 2722 [OLG Brandenburg 21.05.2008 - 9 WF 116/08]; Viefhues, in: jurisPK-BGB, 7. Aufl. 2014, § 1612 Rdnr. 96). Entscheidend sind für diese Bewertung die heutigen Verhältnisse. Denn es ist allgemein anerkannt, dass eine zunächst wirksame Unterhaltsbestimmung der Eltern bei einer Änderung der tatsächlichen Gegebenheiten später unwirksam werden kann (vgl. Westermann, a.a.O., Rdnr. 31; Viefhues, a.a.O., Rdnr. 91).
Bei Anwendung dieses Maßstabs ergibt sich, dass die Unterhaltsbestimmung der Eltern der Antragstellerin nach den heutigen Verhältnissen nicht (mehr) wirksam ist. Die Antragstellerin lebt heute mit ihrem Lebensgefährten und einem gemeinsamen Kind zusammen in D.. Unter diesen Umständen kann ihr eine Rückkehr in den elterlichen Haushalt nach C. zur Aufnahme einer Ausbildung nicht zugemutet werden. Das gilt namentlich deshalb, weil sich aus der Verhandlungsniederschrift im Verwaltungsverfahren vom 30. Oktober 2014 (Bl. 50 d. Beiakte A) und aus dem vom Antragsgegner im Beschwerdeverfahren vorgelegten Vermerk vom 26. Februar 2015 ergibt, dass die Eltern nur der Antragstellerin selbst und deren Kind, nicht aber dem Lebensgefährten der Antragstellerin, Naturalunterhalt in der Form von Unterkunft und Verpflegung angeboten haben. Die Unterhaltsbestimmung der Eltern ist somit darauf angelegt, die unter dem Schutz von Art. 6 Abs. 1 GG stehende familiäre Lebensgemeinschaft zwischen der Antragstellerin, ihrem Partner und dem gemeinsamen Kind auseinanderzureißen. Eine derartige Unterhaltsbestimmung muss die Antragstellerin nicht hinnehmen.
Soweit der Antragsgegner in seinem Beschwerdevorbringen demgegenüber darauf abstellen will, dass die Antragstellerin sich ihrerseits treuwidrig und rücksichtslos gegenüber den wirtschaftlichen Interessen ihrer Eltern verhalten habe, indem sie gegen deren Willen 2008 nach D. verzogen sei, vermag dies an der Bewertung des Falles nichts zu ändern. Denn entscheidend dafür, dass die Unterhaltsbestimmung der Eltern aus heutiger Sicht als unwirksam anzusehen ist, ist nicht der Umzug der Antragstellerin nach D., sondern die mit der Geburt des gemeinsamen Kindes einhergehende Gründung einer Familie durch die Antragstellerin und ihren Lebensgefährten. Dass die Gründung einer eigenen Familie als von Art. 6 GG und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht geschützte Freiheitsbetätigung nicht als treuwidriges und rücksichtsloses Verhalten der Antragstellerin gegenüber ihren unterhaltspflichtigen Eltern gewertet werden kann, versteht sich von selbst und bedarf daher keiner vertieften Begründung.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2, 188 VwGO.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).