Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 11.10.2023, Az.: 7 U 120/22

Anspruch auf Schadensersatz wegen des Erwerbs eines PKW mit einer illegalen automatischen Abgasabschalteinrichtung

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
11.10.2023
Aktenzeichen
7 U 120/22
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2023, 52561
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
LG Hannover - AZ: 6 O 110/21

Redaktioneller Leitsatz

Ein Unternehmen kann sich im Zusammenhang mit der konkreten Bedatung des Temperaturbereichs des Thermofensters nicht darauf berufen, dass ihm eine Offenlegung unzumutbar sei. Da entsprechende Angaben auch von anderen Herstellern in Bezug auf die von ihnen verwendeten Thermofenster regelmäßig erfolgen, ist nicht ersichtlich, warum im Einzelfall dringende Geheimhaltungsinteressen betroffen sein sollten.

[Gründe]

Im Hinblick auf die Stellungnahmen der Parteien vom 6. Oktober 2023 weist der Senat ergänzend auf Folgendes hin:

1. Die Beklagte ist nach wie vor einem vom Kläger nunmehr nur noch geltend gemachten Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV auf Ersatz des sog. Differenzschaden im Zusammenhang mit dem im Fahrzeug unstreitig implementierten Thermofenster nicht ausreichend entgegengetreten.

a) Dem Senat ist als entsprechendem Fachsenat aus den zahlreichen "Dieselverfahren" bekannt, dass alle Fahrzeuge mit Dieselmotor und Abgasrückführung über eine temperaturbedingte AGR-Regelung ("Thermofenster") verfügen. Danach ist die Verwendung eines "Thermofensters" als solches gemäß § 291 ZPO nicht beweisbedürftig. Vor diesem Hintergrund genügt die Klagepartei ihrer Darlegungslast, wenn sie die Bedatung des Temperaturbereichs des Thermofensters behauptet. Diesem Erfordernis ist der Kläger bereits in der Klageschrift nachgekommen, indem er vorgetragen hat, dass außerhalb des Temperaturbereichs von 17°C bis 33 °C die Abgasreinigung deutlich reduziert und unter -11 °C vollständig deaktiviert werde.

Ein ausreichendes Bestreiten der Beklagten hierzu liegt nach wie vor nicht vor. Dabei kann sich die Beklagten im Zusammenhang mit der konkreten Bedatung des Temperaturbereichs des Thermofensters auch nicht darauf berufen, dass ihr eine Offenlegung unzumutbar sei. Da entsprechende Angaben auch von anderen Herstellern in Bezug auf die von ihnen verwendeten Thermofenster regelmäßig erfolgen, ist nicht ersichtlich, warum hier dringende Geheimhaltungsinteressen der Beklagten betroffen sein sollten. Jedenfalls fehlt es an ausreichendem Vortrag der Beklagten dazu, aufgrund dessen ein - berechtigtes - Geheimhaltungsinteresse bejaht werden könnte.

b) Die Beklagte hat trotz der sie insoweit treffenden Darlegungs- und Beweislast (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, juris Rn. 53) bislang auch nicht ausreichend dargetan, dass diese Abschalteinrichtung zulässig sei.

aa) Nach der Rechtsprechung des EuGH hat der Unionsgesetzgeber bei der Festlegung der Grenzwerte für Schadstoffemissionen die wirtschaftlichen Interessen der Automobilhersteller und insbesondere die Kosten, die den Unternehmen durch die erforderliche Einhaltung dieser Werte auferlegt werden, berücksichtigt. Es sei somit Sache der Hersteller, sich anzupassen und technische Vorrichtungen anzuwenden, mit denen diese Grenzwerte eingehalten werden können, wobei diese Verordnung keineswegs den Einsatz einer bestimmten Technologie vorschreibe (vgl. EuGH, Urteil vom 8. November 2022 - C-873/19, Rn. 92 mwN). Das angestrebte Ziel eines hohen Umweltschutzniveaus wäre in Frage gestellt, würde eine Abschalteinrichtung allein deshalb zugelassen, weil z. B. die Kosten für die Forschung hoch sind, die technische Ausrüstung teuer ist oder für den Nutzer häufigere und kostspieligere Wartungsarbeiten am Fahrzeug anfallen (vgl. EuGH, aaO Rn. 93 mwN). Notwendig im Sinne der Verordnung ist eine Abschalteinrichtung daher nur dann, wenn zum Zeitpunkt der EGTypgenehmigung dieser Einrichtung oder des mit ihr ausgestatteten Fahrzeugs keine andere technische Lösung unmittelbare Risiken für den Motor in Form von Beschädigung oder Unfall, die beim Fahren eines Fahrzeugs eine konkrete Gefahr hervorrufen, abwenden kann (vgl. EuGH, aaO Rn. 95).

Nach diesen Grundsätzen kommt der Aspekt des Motorschutzes im Grunde nur in Betracht, wenn während einer Fahrt Gefahr für den sicheren Betrieb eintreten würde. Die Verschmutzung und der Verschleiß des Motors können nicht als "Beschädigung" oder "Unfall" im Sinne der genannten Bestimmung angesehen werden können, denn sie sind im Prinzip vorhersehbar und der normalen Funktionsweise des Fahrzeugs inhärent (vgl. EuGH, Urteil vom 17. Dezember 2020 - C-693/18, ECLI:EU:C:2020:1040 Rn. 110; Urteil vom 14. Juli 2022 - C-128/20, ECLI:EU:C:2022:570 Rn. 54). Infolgedessen sind nur unmittelbare Beschädigungsrisiken, die zu einer konkreten Gefahr während des Betriebs des Fahrzeugs führen, geeignet, die Nutzung einer Abschalteinrichtung zu rechtfertigen (vgl. EuGH, Urteil vom 14. Juli 2022 - C-128/20, ECLI:EU:C:2022:570 Rn 56). Ablagerungen, die erst durch ihre Kumulation über mehrere Fahrten eine Gefahr für den sicheren Betrieb begründen genügen nicht, wenn und soweit sie durch Wartungsarbeiten - und sei es nach jeder Fahrt - beseitigt werden könnten. Dass dies möglicherweise unwirtschaftlich wäre oder Kunden an einem solch wartungsintensiven Fahrzeug kein Interesse haben könnten, ist von dem Uniongesetzgeber offenbar bedacht worden (vgl. hierzu auch VG Schleswig, Urteil vom 20. Februar 2023 - 3 A 113/18, juris Rn. 362 ff.).

bb) Diese Voraussetzungen hat die Beklagte für das Thermofenster nicht dargelegt.

Dabei lässt sich eine Steuerungsmaßnahme, die im Grunde genommen ständig zum Einsatz kommt - und hiervon muss mangels hinreichendem Bestreitens des Temperaturbereichs des Thermofensters durch die Beklagte im Streitfall ausgegangen werden - schon von Vornherein nicht mit Gründen des Motorschutzes rechtfertigen, da eine Abschalteinrichtung, die unter normalen Betriebsbedingungen den überwiegenden Teil des Jahres funktionieren müsste, damit der Motor vor Beschädigung oder Unfall geschützt und der sichere Betrieb des Fahrzeugs gewährleistet ist, nach der Rechtsprechung des EuGH nicht unter die in Art. 5 Abs. 2 Buchst. a der VO (EG) 715/2007 vorgesehene Ausnahme fallen kann (EuGH, Urteil vom 14. Juli 2022 - C-128/20 Rn. 70, juris).

Im Übrigen hat die Beklagte auch nicht dargetan, dass ihr andere technische Möglichkeiten für die Gewährleistung des "Motorschutzes" nicht zur Verfügung gestanden hätten.

c) Die sich aus der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung ergebende Verschuldensvermutung hat die Beklagte auch weiterhin nicht widerlegt.

Insoweit fehlt es bereits im ersten Schritt an der Darlegung, auf der Grundlage welchen Normverständnisses die Beklagte davon ausgegangen wäre, die Verwendung einer parametergesteuerten Abschalteinrichtung in Form eines Thermofensters sei trotz der Bestimmungen in Art. 5 Abs. 2 VO (EG) 715/2007 zulässig. Vor diesem Hintergrund ist nicht ersichtlich, dass sich die Beklagte in einem Verbotsirrtum befunden hätte. Eines solchen Irrtums bedarf es jedoch auch für den Fall der sog. hypothetischen Genehmigung, da letztere lediglich dazu dient zu belegen, dass der Verbotsirrtum unvermeidbar war (vgl. BGH, VIa ZR 335/21, juris Rn. 64 ff.).

Darüber hinaus mangelt es an entsprechenden Beweisangeboten, denn der Kläger behauptet ein vorsätzliches Handeln der Beklagten.

2. Vorsorglich weist der Senat vor dem Hintergrund der Ausführungen der Beklagten zu einer Aufzehrung des Differenzschadens darauf hin, dass die Nutzungsvorteile und der Restwert des Fahrzeugs im Wege der Vorteilsausgleichung nur anspruchsmindernd anzurechnen sind, soweit sie den tatsächlichen Wert des Fahrzeugs bei Abschluss des Kaufvertrags übersteigen.

Der Restwert ist der aktuelle Wert einer Sache nach Ablauf einer bestimmten Nutzungsdauer unter Berücksichtigung ihrer Nachfrage am Markt; aus diesem Grund bestehen aus Sicht des Senats für die Schätzung dieses Werts nach § 287 ZPO keine Bedenken, auf einschlägige Bewertungsportale wie DAT oder Schwacke bzw. Verkaufsportale wie mobile.de oder autoscout 24 zurückzugreifen.

3. Soweit der Kläger neben dem Zahlungsantrag auch Feststellung der Ersatzpflicht für künftige weitere Schäden begehrt, ist darauf hinzuweisen, dass ein solcher Antrag nur aus § 826 BGB begründet sein kann. Ein allein nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV und nicht auch nach §§ 826, 31 BGB geschuldeter Schadensersatz kann aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nicht höher sein als 15% des gezahlten Kaufpreises (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, juris Rn. 75). Bereits aus diesem Grund scheidet die Feststellung eines weitergehenden Schadensersatzes neben dem nunmehrigen Antrag zu I. aus. Im Übrigen gilt insoweit auch nichts Anderes als beim "kleinen Schadensersatz"(vgl. BGH, Urteil vom 6. Juli 2021 - VI ZR 40/20, juris Rn. 34; Urteil vom 5. Oktober 2021 - VI ZR 136/20, juris Rn. 17). Der Feststellungsantrag dürfte daher bereits unzulässig sein. Darüber hinaus erweist er sich auch als unbegründet, weil der Kläger damit das Erfüllungsinteresse geltend macht, das er nur aus Kaufvertrag verlangen könnte; dem Kläger steht jedoch nur ein Ersatz seines negativen Interesses zu.

4. Was den Kostenfeststellungantrag des Klägers zur Frage der Kostenverteilung betrifft, dürfte sich dieser als unbegründet erweisen. Denn dieser hätte nur Aussicht auf Erfolg, wenn der auf § 826 BGB gestützte und nunmehr fallen gelassene Anspruch des Klägers auf "großen" Schadensersatz zulässig und begründet gewesen wäre. Dass eine Haftung der Beklagten wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung in Betracht käme, steht jedoch im Streitfall gerade nicht fest - insoweit wird auf die Hinweise des Senats vom 8. August 2023 unter Ziff. I.1. verwiesen - und bedarf infolge der Umstellung des klägerischen Begehrens auf den Differenzschaden auch keiner Aufklärung mehr.

Vor diesem Hintergrund steht die Antragsumstellung auf den - vom Streitwert her geringeren - Differenzschaden der teilweisen Berufungsrücknahme gleich mit der Folge, dass der Kläger selbst im Fall eines Obsiegens mit seinem nunmehr gestellten Antrag zu I. anteilig die Verfahrenskosten zu tragen hätte. Denn der Kläger hätte sein Begehren auch nur hilfsweise auf den Differenzschaden umstellen und auf diese Weise eine Entscheidung über den von ihm zunächst verfolgten "großen" Schadensersatzanspruch herbeiführen können. Soweit er hiervon abgesehen hat, kann dieser Umstand nicht zu Lasten der Beklagten gehen.

5. Gleichermaßen dürfte sich auch der Antrag des Klägers auf Erstattung vorgerichtlicher Rechtsverfolgungskosten als unbegründet erweisen; denn der Kläger hat außergerichtlich ausschließlich die Rückabwicklung beansprucht und ein Anspruch auf Ersatz des Differenzschadens war nicht Gegenstand der außergerichtlichen Rechtsverfolgung.

II.

Dem Kläger wird aufgegeben, bis zum 25. Oktober 2023 die aktuelle Laufleistung des streitgegenständlichen Fahrzeugs mitzuteilen und lichtbildlich zu belegen.

III.

Die Parteien erhalten Gelegenheit zu den Hinweisen des Senats und ergänzendem Vortrag bis zum 20. November 2023.

Dabei mögen die Parteien binnen der vorgenannten Frist auch mitteilen, ob mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren Einverständnis besteht.