Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 31.08.2022, Az.: 12 B 3409/22
Asylantrag; Erbil; Flüchtlingseigenschaft; Kurdistan-Irak; offensichtlich unbegründet; subsidiärer Schutz
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 31.08.2022
- Aktenzeichen
- 12 B 3409/22
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2022, 59711
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 3 Abs 1 AsylVfG 1992
- § 30 Abs 1 AsylVfG 1992
- § 4 Abs 1 AsylVfG 1992
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Aufgrund der Sicherheitslage in der Provinz Erbil in der Region Kurdistan-Irak ist die Gewährung subsidiären Schutzes für Antragsteller aus dieser Provinz nicht von vornherein ausgeschlossen.
Tenor:
Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers (Az. E.) gegen die Abschiebungsandrohung in Nr. 5 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 4. August 2022 wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.
Gründe
Der Antrag des Antragstellers,
die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen die Abschiebungsanordnung (richtig: Abschiebungsandrohung) des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 4. August 2022 anzuordnen,
hat Erfolg.
Er ist zulässig, insbesondere nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 75 Abs. 1, § 36 Abs. 1 AsylG statthaft.
Er ist auch begründet.
Im Fall der durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt/BAMF) verfügten Ablehnung eines Asylantrages als offensichtlich unbegründet im Sinne von § 30 AsylG ordnet das Gericht nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO i.V.m. § 36 Abs. 4 AsylG die aufschiebende Wirkung der Klage hinsichtlich der gemäß § 36 Abs. 3, § 75 Abs. 1 AsylG sofort vollziehbaren Abschiebungsandrohung an, wenn das persönliche Interesse des Asylbewerbers, von der sofortigen Aufenthaltsbeendigung vorerst verschont zu bleiben, das öffentliche Interesse an ihrer sofortigen Durchsetzung überwiegt. Die Aussetzung der Abschiebung darf gemäß § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen. Dies ist der Fall, wenn unter Zugrundelegung der gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme - hier die der sofortigen Aufenthaltsbeendigung zugrunde liegende Ablehnung des Asylantrages als offensichtlich unbegründet - einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (vgl. BVerfG, Urt. v. 14.05.1996 - 2 BvR 1516/93 -, juris Rn. 99). So liegt der Fall hier.
Nach § 30 Abs. 1 AsylG, auf den das Bundesamt sein Offensichtlichkeitsurteil stützt, ist ein Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen, wenn die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter und die Voraussetzungen für die Zuerkennung des internationalen Schutzes offensichtlich nicht vorliegen. Dies ist der Fall, wenn nach vollständiger Erforschung des Sachverhalts im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung vernünftigerweise kein Zweifel an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen bestehen kann und sich bei einem solchen Sachverhalt die Ablehnung des Antrags nach dem Stand von Rechtsprechung und Lehre geradezu aufdrängt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 02.05.1984 - 2 BvR 1413/83 -, juris Rn. 27; Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 30 AsylG Rn. 3; Heusch, in: BeckOK Ausländerrecht, 28. Edition, Stand: 01.07.2022, § 30 AsylG Rn. 14 m.w.N.).
Zwar sind diese Voraussetzungen hinsichtlich des Antrages des Antragstellers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gegeben. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Gegenüber dem Bundesamt hat der Antragsteller zur Begründung seines Asylantrages im Wesentlichen ausgeführt, mit seiner Einreise in die Bundesrepublik habe er sich einen Traum habe erfüllen wollen. Im Irak herrsche Ungerechtigkeit. So habe er aufgrund des Verhaltens seiner Lehrer und der Schulleitung vor zwei Jahren die Schule verlassen und eine Arbeit aufnehmen müssen. Nur für reiche Leute gebe es im Irak keine Hindernisse. Zwar sei ihm persönlich nichts passiert, wenn er etwas gefordert haben würde, wäre ihm jedoch sein Weg versperrt worden. Dieses Vorbringen enthält nach den zutreffenden Ausführungen des Bundesamtes keine Anhaltspunkte für eine dem Antragsteller im Irak drohende Verfolgung und hat daher offensichtlich keine flüchtlingsrechtliche Relevanz.
Im Hinblick auf den subsidiären Schutzstatus bestehen jedoch erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit einer qualifizierten Ablehnung des Asylantrages nach § 30 Abs. 1 AsylG.
Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). Bezugspunkt für die Gefahrenprognose ist bei einer nicht landesweiten Gefahrenlage in der Regel die Herkunftsregion des Ausländers, in die er typischerweise zurückkehren wird (vgl. Nds. OVG, Urt. v. 24.09.2019 - 9 LB 136/19 -, juris Rn. 76 zu § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG). Hier ist es nicht von vornherein ausgeschlossen, dass dem Antragsteller bei einer Rückkehr in die Provinz Erbil ein ernsthafter Schaden in Form einer ernsthaften individuellen Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts droht.
Nach den zutreffenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts Braunschweig in dessen Beschluss vom 26. Januar 2022 (- 2 B 18/22 -, juris Rn. 10) setzt die Klärung dieser Frage angesichts der im Nordirak nach wie vor schwelenden multiplen religiösen sowie ethnischen Konflikte komplexe, auf aktuelle Erkenntnisse gestützte Feststellungen zur dortigen politisch-militärischen Lage sowie zur Gefahrendichte für die Zivilbevölkerung in dem fraglichen Gebiet voraus. Dieser Umstand lässt ein Offensichtlichkeitsurteil nach § 30 Abs. 1 AsylG aller Voraussicht nach nicht zu (so auch bereits VG Hannover, Beschl. v. 10.02.2022 - 12 B 403/22 -, n.v.). Dies gilt nicht nur für die Provinz Ninive, sondern auch für die Provinz Erbil in der Region Kurdistan-Irak.
Nach den Auswertungen des Armed Conflict Location & Event Date Project (ACLED) war dort im Zeitraum von August 2020 bis Oktober 2021 nach der Provinz Dohuk (vgl. zur dortigen Sicherheitslage VG Braunschweig, Beschl. v. 04.05.2022 - 2 B 78/22 -, juris Rn. 19 ff.) die zweithöchste Zahl von Sicherheitsvorfällen im gesamten Irak zu verzeichnen (vgl. European Union Agency for Asylum [EUAA], COI Report, Iraq Security Situation, Januar 2022, S. 220). Ein Großteil dieser Vorfälle (399) ereignete sich im Zusammenhang mit den bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der Türkei und der PKK. Nach türkischen Berichten sollen zwischen Januar und Juli 2021 1.581 PKK-Kämpfer getötet worden sein (vgl. EUAA, a.a.O., S. 220 f.). Diese Auseinandersetzungen dauern weiter an. So haben am 15. Mai 2022 PKK-Kämpfer eine türkische Militärbasis im Bezirk Sidakan in Erbil angegriffen. Dabei kamen mindestens vier PKK-Anhänger ums Leben (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 23.05.2022, S. 5). Die anhaltenden Kämpfe haben auch erhebliche Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung (vgl. EUAA, a.a.O., S. 221). Laut Angaben lokaler Behörden sollen allein in Erbil in den letzten 30 Jahren 212 Dörfer aufgegeben worden sein (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 23.05.2022, S. 5). Am 21. Mai 2022 wurden bei türkischen Drohnenangriffen auf kurdische Kämpfer im Nordirak mindestens sechs Menschen, darunter drei Zivilisten, getötet. Die Drohnenangriffe zielten u.a. auf das in der Provinz Erbil gelegene Flüchtlingslager Machmur (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 23.05.2022, S. 5). Bereits am 7. Februar 2022 waren infolge türkischer Luftangriffe auf die Umgebung des Flüchtlingslagers sowie auf Stellungen der PKK in Sindjar Zivilpersonen verletzt worden (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 07.02.2022, S. 6).
Auch die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) ist in der Provinz Erbil, insbesondere im Distrikt Machmur, nach wie vor präsent. Im August 2021 entführten IS-Kämpfer zwischen Erbil und Machmur neun Zivilpersonen. Im September 2021 wurden bei einem Anschlag des IS im Distrikt Machmur vier Personen - darunter auch Zivilisten - getötet (vgl. EUAA, a.a.O., S. 222 f. m.w.N.). Zu zahlreichen sicherheitsrelevante Vorfällen kommt es in der Provinz Erbil außerdem im Zusammenhang mit Aktivitäten des Iran (vgl. EUAA, a.a.O., S. 222). Am 13. März 2022 schlugen mehrere von dort abgefeuerte Raketen in eine private Wohnanlage in Erbil ein (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 14.03.2022, S. 4). Am 6. April und am 1. Mai 2022 wurde unweit von Erbil eine Ölraffinerie mit Raketen beschossen. Für den Beschuss wurden pro-iranische Milizen verantwortlich gemacht (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 11.04.2022 und v. 02.05.2022, jeweils S. 5). Am 11. Mai 2022 führte die iranische Revolutionsgarde Luftangriffe auf Gebiete in Erbil durch; Opfer wurden nicht gemeldet. Eine Erklärung der Revolutionsgarde zufolge handelte es sich dabei um eine Anti-Terror-Organisation (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 16.05.2022, S. 4). Am 8. Juni 2022 kam es in der Erbil-Pirmam-Straße in Erbil zu einem Angriff durch eine mit Sprengstoff bestückte Drohne. Dabei wurden drei Menschen verletzt und mehrere Fahrzeuge sowie ein Gebäude beschädigt. Die kurdischen Sicherheitskräfte machen für den Angriff eine mit dem Iran verbündete Miliz verantwortlich (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 13.06.2022, S. 6).
Zwar war die Zahl der zivilen Opfer in der Provinz Erbil nach den Erhebungen der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen im Irak (UNAMI) im Zeitraum zwischen August 2020 bis Oktober 2021 mit einer getöteten Zivilperson und zwölf verletzten Personen (vgl. EUAA, a.a.O., S. 224) insgesamt relativ gering. Dieser Umstand stellt die vorstehenden Ausführungen zur Komplexität der Lage und dem sich daraus ergebenden Prüfaufwand jedoch nicht in Frage, zumal sich eine individuelle Gefährdung im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG auch aus gefahrerhöhenden Umständen in der Person des Betroffenen ergeben kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.11.2011 - 10 C 13.10 -, juris Rn. 18; Nds. OVG, Urt. v. 24.09.2019 - 9 LB 136/19 -, juris Rn. 80). Ob solche Umstände gegeben sind, bedarf bei Asylantragstellern aus dem Irak wiederum einer näheren Prüfung des Einzelfalls (vgl. zu den im Irak besonders gefährdeten Personengruppen z.B. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 25.10.2021, S. 17).
Der Antrag des Antragstellers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist abzulehnen, weil dem Antragsteller das Rechtsschutzinteresse an der Weiterverfolgung des Antrages fehlt. Da der Antragsgegnerin mit diesem - unanfechtbaren - Beschluss die Kosten des Verfahrens auferlegt worden sind, können den Antragsteller Kosten, vor denen ihn die Prozesskostenhilfe (zunächst) bewahren will, nicht treffen (vgl. VGH Bad.-Württ, Beschl. v. 09.07.1990 - 2 S 1137/90 -, juris Rn. 2).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG.
Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 80 AsylG).