Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 25.08.2022, Az.: 12 B 6475/21

Dublin; Haft; Litauen; Systemische Mängel; unmenschliche Behandlung

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
25.08.2022
Aktenzeichen
12 B 6475/21
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2022, 59685
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Es liegen weiterhin ernstzunehmende Anhaltspunkte dafür vor, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Litauen seit dem Sommer 2021 systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung begründen könnten.

Tenor:

Der Abänderungsantrag wird abgelehnt.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Gründe

Der sinngemäße Antrag der Antragsgegnerin,

den Beschluss der Kammer vom 23.02.2022 – 12 B 6475/21 – abzuändern und den Antrag des Antragstellers auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage vom 10.11.2021 – 12 A 6280/21 – abzulehnen,

ist zulässig, hat in der Sache aber keinen Erfolg.

Gemäß § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO kann jeder Beteiligte die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen.

Die Antragsgegnerin trägt vor, die Änderungen des litauischen Ausländergesetzes, die als Reaktion auf den Massenzustrom von Flüchtlingen an der Grenze zu Belarus am 13.07.2021 beschlossen worden seien und nur im Falle des Ausnahmezustandes gelten sollten, seien zwischenzeitlich mit Änderungsgesetzen vom 23.12.2021, vom 11.02.2022 und vom 17.03.2022 wieder aufgehoben worden. Die am 13.07.2021 und am 23.12.2021 beschlossenen Gesetzesänderungen beträfen überwiegend dieselben Artikel. Das neu eingeführte „Vorverfahren“ sei zum 01.01.2022 wieder aufgehoben worden. Die Bestimmungen, die während eines Ausnahmezustandes angewandt werden könnten, würden nicht gegen unionsrechtliche Vorgaben verstoßen. So bestehe auch während des Ausnahmezustandes die Möglichkeit, gegen die erstinstanzliche Entscheidung Berufung einzulegen, eine Inhaftierung Schutzsuchender müsse bei Überschreitung von 48 Stunden bei einem Gericht beantragt werden und sie dürfe nicht länger andauern, als es für die Rückführung ins Herkunftsland oder die Überstellung in einen anderen Mitgliedsstaat erforderlich sei. Die Ansprüche auf Unterbringung und Grundversorgung, angemessene Versorgung von vulnerablen Personen, Informationen zum Asylverfahren in verständlicher Sprache, Zugang zum Rechtsbeistand und medizinischer und psychologischer Hilfe könnten nicht eingeschränkt werden. Eine Einschränkung weiterer Rechte sei an objektive Rechtfertigungsgründe geknüpft und müsse vorübergehend und verhältnismäßig sein. Die Stellungnahme des UNHCR vom 28.07.2021 beziehe sich daher auf eine nunmehr veraltete Rechtslage bzw. auf Entwürfe, die nicht in Kraft getreten seien. Da der UNHCR dies nicht klargestellt habe und der Zugang zu Informationen über Gesetzesänderungen in anderen Mitgliedsstaaten erschwert sei, hätten diese Änderungen von den Gerichten nicht zeitnah berücksichtigt werden können. Daher sei es unerheblich, dass die Gesetzesänderungen bereits vor dem Beschluss der Kammer vom 23.02.2022 eingetreten seien. Die Situation an der Grenze zu Belarus habe bereits Mitte Januar 2022 entschärft werden können. Die irakische Regierung habe über 4.000 Migranten aus Belarus und mehrere Hundert Migranten aus Litauen ausgeflogen und Litauen habe die Aufnahmekapazitäten erweitert und die Aufnahmebedingungen verbessert. Der aufgrund des Massenzustroms verhängte Ausnahmezustand habe am 14.01.2022 geendet. Am 24.02.2022 sei aufgrund des Agierens Russlands erneut der Ausnahmezustand ausgerufen und im März zunächst bis zum 20.04.2022 verlängert worden. Seit der russischen Invasion in die Ukraine habe Litauen zahlreiche Kriegsflüchtende von dort aufgenommen. Bei seiner Planung sei Litauen von bis zu 30.000 ukrainischen Geflüchteten ausgegangen. Es seien zusätzliche Aufnahmeeinrichtungen eingerichtet und private Haushalte für die Aufnahme finanziell unterstützt worden. Litauen strebe eine schnelle Integration der ukrainischen Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt an, was dadurch erleichtert werde, dass in Litauen vielerorts Russisch gesprochen werde. So hätten bereits über 1.200 ukrainische Flüchtlinge einen Arbeitsplatz gefunden. Nach dem Inkrafttreten des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 des Rates vom 04.03.2022 zur Feststellung eines Massenzustroms von Vertriebenen aus der Ukraine gewähre Litauen den ukrainischen Geflüchteten entweder vorübergehenden Schutz für ein Jahr oder stelle ein einjähriges nationales Visum aus. Da mit dem Inkrafttreten des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 eine Vereinfachung und Beschleunigung des Aufnahmeverfahrens verbunden sei, sei nicht davon auszugehen, dass es zu einer Überlastung der Behörden komme, die sich nachteilig auf die Situation von Dublin-Rückkehrern auswirken oder eine Einschränkung von deren Rechten rechtfertigen könne. Zudem sei zu berücksichtigen, dass Litauen weiterhin Übernahmeersuchen aus Deutschland akzeptiere und Überstellungen durchgeführt würden. Als Dublin-Rückkehrer sei der Antragsteller nicht von Regelungen betroffen, die für illegal Einreisende gelten würden, da eine Überstellung mit Zustimmung des Mitgliedstaates eine legale Einreise darstelle.

Mit diesem Vortrag hat die Antragsgegnerin teilweise Umstände angeführt, die sich erst nach dem Beschluss der Kammer vom 23.02.2022 ergeben haben. Da sich aus der beschriebenen Ausweitung von Unterbringungsmöglichkeiten und einer Gesetzesänderung vom 17.03.2022 zumindest die Möglichkeit einer Abänderung der ursprünglichen Entscheidung ergibt, ist der Abänderungsantrag zulässig.

Er ist jedoch nicht begründet.

Die vorgetragenen Änderungen der Sach- und Rechtslage vor dem 23.02.2022 sind nicht zu berücksichtigen. Es ist nicht ersichtlich, dass die Antragsgegnerin diese ohne Verschulden im Ausgangsverfahren nicht geltend gemacht hat. Die Quellen, die sie für ihre Behauptung heranzieht, die Situation an der Grenze zu Belarus habe bereits Mitte Januar 2022 entschärft werden können und Litauen habe die Aufnahmekapazitäten erweitert und die Aufnahmebedingungen verbessert, stammen aus dem Zeitraum vom 11.10.2021 (Euronews, „Lithuania converts prison into migrant reception centre“, https://www.euronews.com/2021/10/11/lithuania-converts-prison-into-migrant-reception-centre, aufgerufen am 22.08.2022) bis zum 07.02.2022 (Zeit Online, „Litauen einigt sich mit 272 Migranten über Rückführung“, https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-02/litauen-migration-belarus-fluechtlinge-rueckkehr, aufgerufen am 22.08.2022) und waren öffentlich zugänglich. Gleiches gilt für die Gesetzesänderungen vom 23.12.2021 und vom 11.02.2022. Dass vonseiten des UNHCR kein Hinweis auf die Änderung der Rechtslage erfolgte und Rechtsänderungen in einem Mitgliedstaat von anderen Mitgliedsstaaten aus nicht ohne Weiteres wahrgenommen werden, entschuldigt das verspätete Vorbringen nicht.

Die berücksichtigungsfähigen Änderungen der Sach- und Rechtslage erfordern keine Abänderung des Beschlusses vom 23.02.2022. In diesem Beschluss hatte die Kammer die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Abschiebungsanordnung im Bescheid der Antragsgegnerin vom 28.10.2021 angeordnet, weil sie ernstzunehmende Anhaltspunkte dafür gesehen hatte, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Litauen systemische Schwachstellen aufweisen, die die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung begründen könnten. Diese Beurteilung beruhte auf Äußerungen der Menschenrechtskommissarin des Europarates vom 10.08.2021, des UNHCR vom 27.09.2021 und vom 11.10.2021 und des UN-Ausschusses gegen Folter vom 21.12.2021, wonach zunächst befürchtet wurde und später Berichte darüber vorlagen, dass Asylbewerber sich ohne Zugang zu Rechtsschutz anhaltend in de facto-Haft in überfüllten Einrichtungen befanden, wo sie keinen angemessenen Zugang zu grundlegender Versorgung hatten. Dass sich aus der Gesetzesänderung vom 17.03.2022 maßgebliche Veränderungen ergeben hätten, trägt die Antragsgegnerin nicht vor. Die dargelegten Änderungen der Sachlage seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine betreffen die Unterbringung von Asylbewerbern, die nicht aus der Ukraine stammen, nicht unmittelbar. Mittelbar dürften sie sich durch die weitere Verlängerung des Ausnahmezustandes - aktuell bis zum 15.09.2022 - und die starke Beanspruchung der Kapazitäten durch die ukrainischen Flüchtlinge eher nachteilig auf die Situation anderer Schutzsuchender auswirken. So war im Juni die Zahl ukrainischer Flüchtlinge in Litauen bereits auf 56.000 angewachsen und die Unterkunftskapazitäten waren erschöpft (vgl. Lithunian National Radio and Television (LRT): „‘Critical shortage‘ of accommodation for Ukrainian refugees in Lithuania – NGO“, 17.06.2022, https://www.lrt.lt/en/news-in-english/19/1722320/critical-shortage-of-accommodation-for-ukrainian-refugees-in-lithuania-ng, aufgerufen am 22.08.2022).

Die Kammer sieht auch keine Veranlassung, den Beschluss vom 23.02.2022 von Amts wegen gemäß § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO abzuändern.

Dass die Gesetzesänderungen vom 23.12.2021 und vom 11.02.2022 zu einer durchgreifenden Verbesserung der Situation von Asylbewerbern geführt haben, ist nicht erkennbar. Vielmehr soll im Dezember die Möglichkeit der Inhaftierung von illegalen Migranten aus Belarus sogar von 6 auf 12 Monate verdoppelt worden sein (vgl. Amnesty International (ai), Amnesty International Report 2021/22, 29.03.2022, S. 239, https://www.amnesty.org/en/location/europe-and-central-asia/lithuania/report-lithuania/, abgerufen am 22.08.2022; InfoMigrants, „Des femmes à moitié nues et menottées dans le camp de Medininkai, en Lituanie“, 11.03.2022, https://www.infomigrants.net/fr/post/39083/des-femmes-a-moitie-nues-et-menottees-dans-le-camp-de-medininkai-en-lituanie, aufgerufen am 22.08.2022). Der Europäische Gerichtshof hat die Regelungen in Art. 14012 Abs. 1 und in Art. 14017 Nr. 2 des Litauischen Ausländergesetzes - die auch aktuell noch so gelten - erst kürzlich für unvereinbar mit der Richtlinie 2013/32/EU (Asylverfahrens-RL) befunden, weil im Fall der Verhängung eines Ausnahmezustands oder der Ausrufung einer Notlage wegen eines massiven Zustroms von Ausländern illegal aufhältige Drittstaatsangehörige de facto keine Möglichkeit haben, Zugang zum Verfahren zur Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zu erlangen, und Asylbewerber in Haft genommen werden können, nur weil sie sich illegal in Litauen aufhalten (vgl. EuGH, Urt. v. 30.06.2022, C-72/22, Celex-Nr. 62022CJ0072, juris). Als Reaktion auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs hat die litauische Innenministerin deutlich gemacht, dass ihre Regierung die beanstandeten Regelungen aus Gründen der nationalen Sicherheit auch weiterhin für erforderlich hält und an ihnen festhalten wird (LRT, „Minister insists Lithuania won’t change migrant policies despite clash with EU law“, 01.07.2022, https://www.lrt.lt/en/news-in-english/19/1731341/minister-insists-lithuania-won-t-change-migrant-policies-despite-clash-with-eu-law, aufgerufen am 22.08.2022).

Die Behauptung der Antragsgegnerin, Litauen habe die Aufnahmekapazitäten für Asylbewerber erweitert und die Aufnahmebedingungen maßgeblich verbessert, wird durch die von ihr angeführten Quellen nicht getragen. Der Artikel „Lithuania converts prison into migrant reception centre“ vom 11.10.2021 (https://www.euronews.com/2021/10/11/lithuania-converts-prison-into-migrant-reception-centre, aufgerufen am 22.08.2022) ist veraltet und berichtet lediglich von einer relativen Verbesserung gegenüber der vorangegangen Unterbringung von Geflüchteten in Zelten. In dem von der Antragsgegnerin herangezogenen Bericht der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung (IFRC) vom 17.12.2021 wird mitgeteilt, dass das Litauische Rote Kreuz und verschiedene andere Organisationen Hilfe bei der Versorgung der Geflüchteten leisteten (IFRC, Operation Update, Belarus and neighbouring countries, S. 2, ttps://www.ifrc.org/emergency/belarus-and-neighbouring-countries-population-movement, abgerufen am 22.08.2022). Der „Monitoring Report 2021“ des Litauischen Roten Kreuzes hält allerdings fest, dass trotz Verbesserungen seit dem Sommer 2021 minimale humanitäre Standards und Zugang zu Gesundheitsdiensten nicht flächendeckend gewährleistet seien (S. 24 f., https://www.redcross.lt/sites/redcross.lt/files/2021_lrc_monitoring_annual_report_.pdf, aufgerufen am 22.08.2022; vgl. zur Bewertung der Argumentation der Antragsgegnerin auch VG München, Beschl. v. 17.06.2022 - M 10 S 22.50244 -, V.n.b.).

Auch aus aktuelleren Veröffentlichungen geht nicht hervor, dass die Unterbringungssituation von Asylbewerbern in Litauen sich wesentlich entspannt hätte. Im Mai 2022 hat die Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ appelliert, die andauernde Unterbringung von über 2.500 Asylbewerbern in geschlossenen Einrichtungen unter menschenunwürdigen Bedingungen zu beenden (Medicins sans frontières, „Detention of more than 2.500 people in Lithuania must end now“, 06.05.2022, https://www.msf.org/prolonged-detention-over-2500-migrants-lithuania-must-end-now, aufgerufen am 22.08.2022). Im Juni 2022 hat Amnesty International in einem umfangreichen Bericht ebenfalls bemängelt, dass die Mehrheit der nichtukrainischen Flüchtlinge weiterhin in de facto-Haft in Einrichtungen untergebracht sei, die größtenteils ungeeignet und minderwertig seien. Zwar seien die Einrichtungen nicht mehr so überfüllt wie in der Vergangenheit, es mangele aber an Zugang zu angemessenen Sanitäranlagen, zu ausreichend gutem Wasser und Essen, zu Kochmöglichkeiten und zu Gesundheitsversorgung sowie an Privatsphäre. Es habe zahlreiche Misshandlungsvorwürfe gegeben und es werde systematisch Druck ausgeübt, um Flüchtlinge zur „freiwilligen“ Rückkehr in ihr Herkunftsland zu veranlassen (ai, „Lithuania: Forced out oder locked up“, S. 5 f., 28 ff., 36 ff., 43 ff., https://www.amnesty.org/en/documents/eur53/5735/2022/en/, aufgerufen am 22.08.2022). Im Juli 2022 haben auch die Ombudsleute des litauischen Parlaments für die Überwachung des Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe in einem Bericht über eine der Einrichtungen beanstandet, dass die Bedingungen dort eine menschenunwürdige Behandlung darstellen würden (LRT, „Migrant conditions amount to ‚degrading treatment‘ – Lithuanian Ombudsmen’s report“, 08.07.2022, https://www.lrt.lt/en/news-in-english/19/1735326/migrant-conditions-amount-to-degrading-treatment-lithuanian-ombudsmen-s-report, aufgerufen am 22.08.2022).

Abschließend ist auch die Annahme der Antragsgegnerin nicht belegt, dass Dublin-Rückkehrer nicht von Regelungen betroffen seien, die für illegal Einreisende gelten. Zwar stellt die Überstellung mit Zustimmung des Mitgliedsstaates eine legale Einreise dar, jedoch erfolgte die ursprüngliche Einreise des Antragstellers illegal über die Grenze Litauens zu Belarus. Daher ist es nicht von vornherein ausgeschlossen, dass seine Rechtsposition in einem Asylverfahren in Litauen an diese erste Anreise anknüpfen würde.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83 b AsylG.

Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 80 AsylG).