Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 26.08.2022, Az.: 2 B 3362/22
Drittstaat; Dublin; Zypern
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 26.08.2022
- Aktenzeichen
- 2 B 3362/22
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2022, 59670
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 29 Abs 1 Nr 2 AsylVfG 1992
- § 35 AsylVfG 1992
- § 75 AsylVfG 1992
- Art 3 MRK
- Art 4 EUGrundrCharta
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Eine Rücküberstellung von Asylbewerbern nach Zypern, denen dort internationaler Schutz zuerkannt wurde, kommt aufgrund der dortigen Bedingungen derzeit grundsätzlich nicht in Betracht.
Tenor:
Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragsteller vom 12. August 2022 (Aktenzeichen: 2 A 3360/22) gegen die Abschiebungsandrohung im Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 1. August 2022 (Geschäftszeichen: K. - 475) wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
Über den Antrag der Antragsteller,
die gemäß § 75 AsylG ausgeschlossene aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung im Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 1. August 2022 anzuordnen,
hat nach § 76 Abs. 4 AsylG der Einzelrichter zu entscheiden. Der Antrag hat Erfolg.
Bei der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes vorzunehmenden Interessenabwägung haben die Erfolgsaussichten des in der Hauptsache eingelegten Rechtsbehelfs einen entscheidenden Stellenwert. Ergibt sich bei der im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes nur möglichen und gebotenen summarischen Überprüfung, dass der Rechtsbehelf in der Hauptsache offensichtlich keinen Erfolg haben wird, weil sich der angegriffene Verwaltungsakt als offensichtlich rechtmäßig erweist, so überwiegt regelmäßig das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts. Erweist sich der Rechtsbehelf bei summarischer Überprüfung demgegenüber als offensichtlich erfolgreich, überwiegt regelmäßig das Interesse des Adressaten des Verwaltungsakts, von dessen Vollziehung vorerst verschont zu bleiben. Die Aussetzung der Abschiebung darf allerdings gemäß § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen, die erst angenommen werden können, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass der Bescheid einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (vgl. BVerfG, Urt. v. 14.5.1996 - 2 BvR 1516/93 -, juris).
Solche Gründe sind hier gegeben. Es bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung in der nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen derzeitigen Sach- und Rechtslage, womit das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der Abschiebungsandrohung gegenüber dem Aussetzungsinteresse der Antragsteller zurückzutreten hat.
Gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedsstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. Den Antragstellern wurde in Zypern internationaler Schutz gewährt. Gemäß § 35 AsylG droht das Bundesamt im Falle der Ablehnung des Asylantrags als unzulässig gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG die Abschiebung in den Staat an, in dem der Ausländer vor Verfolgung sicher war.
Die Voraussetzungen für die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig liegen jedoch aller Wahrscheinlichkeit nach nicht vor, da den Antragstellern bei Rücküberstellung nach Zypern eine Verletzung ihres Grundrechts aus Art. 4 GRC droht. Dieses Grundrecht garantiert, dass niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden darf.
Art. 4 GRC verbietet ebenso wie der ihm entsprechende Art. 3 EMRK ausnahmslos jede Form unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung und hat mit seiner fundamentalen Bedeutung allgemeinen und absoluten Charakter. Daher ist hinsichtlich in einem Mitgliedsstaat schutzsuchender Personen für die Anwendung von Art. 4 GRC irrelevant, wann diese bei ihrer Rücküberstellung in den für ihr Asylverfahren zuständigen Mitgliedsstaat bzw. den Mitgliedsstaat, der ihnen bereits internationalen Schutz gewährt hat, einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wären, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren. Die Gewährleistung von Art. 4 GRC gilt auch nach dem Abschluss des Asylverfahrens, insbesondere auch im Fall der Zuerkennung internationalen Schutzes. Hat ein Schutzsuchender oder eine als schutzberechtigt anerkannte Person hinreichend dargelegt, dass tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass ihr nach einer Rücküberstellung in den zuständigen Mitgliedsstaat eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht, ist das mit der Rechtssache befasste Gericht - wie auch zuvor die mit der Sache befassten Behörden - verpflichtet, die aktuelle Sachlage aufzuklären, und die deutschen Behörden haben gegebenenfalls Zusicherungen der Behörden des zuständigen Mitgliedsstaates einzuholen. Das Gericht hat auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen. Solche Schwachstellen erreichen allerdings erst dann die für die Annahme einer Verletzung von Art. 4 GRC bzw. des ihm entsprechenden Art. 3 EMRK besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden des betreffenden Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not gerät, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar ist. Dies ist im Allgemeinen insbesondere der Fall, wenn die rückzuüberstellende Person in dem zuständigen Mitgliedsstaat ihren existenziellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basis- bzw. Notbehandlung erhalten würde. Die Mindestbedürfnisse werden auch schlagwortartig mit „Brot, Bett und Seife“ zusammengefasst. Bei Familien mit Kindern kann sich eine Gefährdung der durch Art. 4 GRC geschützten Rechte auch daraus ergeben, dass der bzw. die Betroffene(n) nicht zugleich die eigene Existenz und die seiner bzw. ihrer Familie sichern können würden.
Bei einer in dieser Weise drohenden Verletzung von Art. 4 GRC ist es den Mitgliedstaaten untersagt, von der durch Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Richtlinie 2013/32/EU eingeräumten Befugnis Gebrauch zu machen, einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen. Damit ist geklärt, dass Verstöße gegen Art. 4 GRC im Mitgliedstaat der anderweitigen Schutzgewährung nicht nur bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsandrohung zu berücksichtigen sind, sondern bereits zur Rechtswidrigkeit der Unzulässigkeitsentscheidung führen.
Bei der Gefahrenprognose, ob einer rücküberstellten Person im Zielland eine Verletzung von Art. 4 GRC droht, stellt der EuGH auf das Bestehen einer ernsthaften Gefahr („serious risk“) ab. Dies entspricht dem Maßstab der tatsächlichen Gefahr („real risk“) in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 3 EMRK bzw. der beachtlichen Wahrscheinlichkeit im nationalen Recht (vgl. zum Vorstehenden Nds. OVG, Urt. v. 19.4.2021 - 10 LB 244/20 -, juris Rn. 23 ff. m.w.N.).
Es besteht die ernsthafte Gefahr, dass die Antragsteller bei einer Rücküberstellung nach Zypern eine unmenschliche oder entwürdigende Behandlung erfahren. Zur Begründung nimmt der Einzelrichter zunächst Bezug auf das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 28. Januar 2021 - 20 K 14780/17.A -, juris Rn. 33 ff. (zur Zulässigkeit einer solchen Bezugnahme vgl. BVerwG, Beschl. v. 3.4.1990 - 9 CB 5.90 -, juris Rn. 6).
Das Verwaltungsgericht Köln stützt seine Ausführungen im Wesentlichen auf den „aida Country Report: Cyprus, Update 2019“. Aus dem aktuelleren „aida Country Report: Cyprus, Update 2021“ mit Stand 31. Dezember 2021 (dort Seiten 154 ff., abrufbar unter https://asylumineurope.org/wp-content/uploads/2022/04/AIDA_CY_2021update.pdf) folgt, dass sich die Lage für anerkannte Schutzberechtigte seither nicht wesentlich verbessert hat.
Dem Bericht zufolge gebe es keine Programme, die Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz Wohnraum zur Verfügung stellten. International Schutzberechtigte müssten sich selbst um eine Unterkunft kümmern, was aufgrund von Sprachbarrieren eine schwierige Aufgabe sei. Hinzu kämen finanzielle Engpässe im Zusammenhang mit hoher Arbeitslosigkeit und einer Zurückhaltung auf Vermieterseite, Wohnungen an Flüchtlinge zu vermieten, selbst wenn sie über ein regelmäßiges Einkommen verfügten.
Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden sei, hätten das Recht, finanzielle Unterstützung durch das nationale System des garantierten Mindesteinkommens (Guaranteed Minimum Income [GMI]) zu beantragen, das eine Mietzulage beinhalte. Um die Mietbeihilfe zu beantragen, müsse jedoch bereits ein Mietvertrag abgeschlossen worden sein. Allerdings werde eine Mietkaution nicht durch das GMI-System abgedeckt. Darüber hinaus habe es im Jahr 2021 zwölf Monate gedauert, bis der GMI-Antrag einschließlich des Mietzuschusses beschieden worden sei. Auch bei schutzbedürftigen Personen oder Obdachlosen werde der Antrag selten schneller geprüft. Während des Prüfungszeitraums werde ein Notstandsgeld gewährt, das von Landkreis zu Landkreis unterschiedlich und mit ca. 100 bis 150 EUR für eine Person im Monat und ca. 150 bis 280 EUR für eine Familie im Monat äußerst gering sei. Die Höhe könne nicht im Voraus bestimmt werden und richte sich nach dem Betrag, der monatlich vom Ministerium für Arbeit, Wohlfahrt und Sozialversicherung an das Sozialamt gezahlt werde. Außerdem dauere die Prüfung des Notantrags etwa ein bis zwei Wochen und bedürfe der Zustimmung des Vorgesetzten des Sozialamts. Der Antrag sei nur einen Monat gültig und müsse jeden Monat gestellt werden, bis der Bescheid für den GMI ergangen sei. Die Verzögerungen bei der Prüfung von GMI-Anträgen habe schwerwiegende negative Auswirkungen auf den Lebensstandard und die Integrationsbemühungen und führe in einigen Fällen zu Wohnungslosigkeit.
Auch die Arbeitssuche gestalte sich schwierig. Zwar hätten Schutzberechtigte Zugang zum Arbeitsmarkt und zudem das Recht, an staatlich angebotenen Berufsausbildungen teilzunehmen. Der Zugang zu einer solchen Berufsausbildung sei aufgrund von Sprachbarrieren sehr eingeschränkt, da die Kurse überwiegend auf Griechisch unterrichtet würden und es an Informationen und Anleitungen mangele. Im September 2021 habe das Arbeitsamt außerdem ein anderes Registrierungs- und Arbeitssucheverfahren für alle Dienstnutzer eingeführt. Im Rahmen dieses neuen Verfahrens seien alle Arbeitssuchenden dazu verpflichtet, sich als arbeitslos zu melden, ihre Anmeldung zu erneuern und Arbeitgeber über eine Online-Plattform des Arbeitsministeriums zu kontaktieren. Der Registrierungsprozess und die Nutzung des Systems erfordere einen direkten E-Mail-Austausch und Kommunikation mit Arbeitsbeamten, deren Fähigkeit, Probleme zu lösen, begrenzt sei. Die Umstellung auf die Online-Plattform habe umfangreiche Herausforderungen für Benutzer mit eingeschränkten oder keinen digitalen Fähigkeiten mit sich gebracht.
Nicht vernachlässigt werden darf, dass sich auch in Deutschland der Zugang von Asylbewerbern und anerkannt Schutzberechtigten zum Arbeitsmarkt insbesondere aufgrund der Sprachbarriere nicht einfach gestaltet und ausweislich des aida-Berichts durch die Schaffung der Plattform „HeldRefugeesWork“ durchaus Bemühungen bestehen, bei der Vermittlung von Arbeitsplätzen behilflich zu sein. Allerdings beseitigt dies nicht die aufgrund der vorstehenden Ausführungen bestehenden erheblichen Bedenken, dass die zum Leben notwendigen Mindeststandards in Zypern nur schwer für international Schutzberechtigte bzw. Asylbewerber zugänglich sind.
Nach alldem kommt eine Rücküberstellung der Antragsteller nach Zypern voraussichtlich nicht in Betracht, sodass die aufschiebende Wirkung anzuordnen war. Eine andere Bewertung der Sach- und Rechtslage mag allenfalls dann möglich sein, wenn der Asylbewerber, der sich bereits einige Zeit in Zypern aufgehalten hatte, davon berichtet, dass er dort seine für den täglichen Bedarf notwendige Versorgung sicherstellen konnte. Derartiges ist hier nicht ersichtlich, zumal es sich um besonders schutzbedürftige Personen - eine Familie mit zwei Kleinkindern - handelt.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 80 AsylG).