Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 16.01.2007, Az.: 9 LA 90/05

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
16.01.2007
Aktenzeichen
9 LA 90/05
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2007, 63285
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2007:0116.9LA90.05.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Lüneburg - AZ: 3 A 151/03

Fundstellen

  • DVP 2008, 476
  • FStBW 2007, 487-489
  • FStHe 2007, 419-421
  • FStNds 2007, 310-312
  • NVwZ-RR 2007, VI Heft 4 (amtl. Leitsatz)
  • NVwZ-RR 2007, 344 (Volltext mit amtl. LS)

Gründe

1

Aus dem Entscheidungstext

2

Die Klägerin wendet sich gegen die Heranziehung zu Erschließungsbeiträgen für ihr mit der nördlichen Grundstückschmalseite an die Straße "Am B." angrenzendes Grundstück mit der Flurstücksbezeichnung 108/7, das mit einer Lagerhalle bebaut ist. Östlich an dieses pfeifenstilartig geschnittene Grundstück grenzt das unbebaute, im Eigentum der Klägerin stehende Grundstück mit der Flurstücksbezeichnung 108/9. An dieses Grundstück schließt sich in östlicher Richtung unmittelbar das mit einem Wohnhaus bebaute ebenfalls der Klägerin gehörende Grundstück mit der Flurstücksbezeichnung 109/1 an, das an der die Straßen "Am B." und "C. straße" verbindenden Erschließungsanlage "D." liegt. Die Grundstücke befinden sich im Geltungsbereich des Bebauungsplans "Am B." Nr. 7, der für die Grundstücke die Festsetzung "WA" für allgemeines Wohngebiet trifft. Weiter sieht der Bebauungsplan für das Grundstück 108/9 im östlichen Grundstückbereich auf der gesamten Länge in Nord-Süd-Richtung ein Pflanz- und Unterhaltungsgebot für dicht wachsende Bäume und Sträucher vor. Das Grundstück mit der Flurstücksbezeichnung 108/7 ist über einen Fußweg mit den östlich gelegenen Grundstücken verbunden.

3

Mit Bescheiden vom 31. Mai 2002 zog die Beklagte die Klägerin nicht nur für die Grundstücke mit den Flurstücksbezeichnungen 108/9 und 109/1 zu Erschließungsbeiträgen für die Erschließungsanlage "D." heran, sondern auch für das Grundstück mit der Flurstücksbezeichnung 108/7 in Höhe von 10.283,39 €. Nach erfolglosem Widerspruchsverfahren erhob die Klägerin Klage, der das Verwaltungsgericht im Wesentlichen mit der Begründung stattgegeben hat, das Grundstück mit der Flurstücksbezeichnung 108/7 sei durch die Erschließungsanlage "D." nicht - weder im Sinne des § 131 Abs. 1 Satz 1 noch im Sinne des § 133 Abs. 1 Satz 1 BauGB - erschlossen. Der Plangeber habe mit der Abgrenzung der unterschiedlichen Nutzungsarten und vor allem mit der Festsetzung des Pflanzstreifens als Fläche für das Anpflanzen von Bäumen und Sträuchern im Sinne des § 9 Abs. 1 Nr. 25 a) BauGB deutlich zu erkennen gegeben, dass die Fläche des Flurstücks 108/7 nicht von der Straße "D." erschlossen werden solle. Nach der Begründung des Bebauungsplans sollten die Flächen westlich des Pflanzstreifens von den östlich gelegenen Flächen abgeschirmt werden. Zudem verfüge das Grundstück Flurstück 108/7 nicht über eine hinreichend gesicherte Zuwegung zur Straße "D.". Für die von der Beklagten durchgeführte Veranlagung des Grundstücks als Gewerbegrundstück sei eine bloße fußläufige Verbindung zur Straße "D." nicht ausreichend. Die zu fordernde Möglichkeit, auf das Grundstück mit einem Kraftfahrzeug herauffahren zu können, bestehe weder tatsächlich noch sei sie im Hinblick auf den im Bebauungsplan festgesetzten Pflanzstreifen zu realisieren. Auch wenn für die Erschließung des in einem allgemeinen Wohngebiet gelegenen Grundstücks eine fußläufige Verbindung zur hergestellten Straße genüge, schließe das im Bebauungsplan ohne Ausnahmemöglichkeit vorgesehene Pflanz- und Unterhaltungsgebot für dicht wachsende Bäume und Sträucher die Anlage eines Fußweges aus. Wenn die Beklagte entgegen den tatsächlichen Festsetzungen im Bebauungsplan den bestehenden Fußweg dulde, berühre dies die Verbindlichkeit der planerischen Entscheidung im Bebauungsplan nicht.

4

Der hiergegen gerichtete und allein auf den Zulassungsgrund gem. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO gestützte Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. An der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils bestehen entgegen ihren Ausführungen im Zulassungsantrag ernstliche Zweifel nicht.

5

Die Beklagte wendet ein, dass das Pflanz- und Unterhaltungsgebot bei Anwendung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Rahmen des Anliegerrechts der Klägerin "durchbrochen" werden könne, was den tatsächlich vorhandenen Fußweg durch den Pflanzstreifen rechtlich legitimieren und die bebauungsrechtliche Erschließung sichern würde. Trotz mangelnder bebauungsrechtlicher Erschließung könne ein Erschlossensein im Sinne des § 131 Abs. 1 Satz 1 BauGB vorliegen, wenn die Eigentümer der übrigen erschlossenen Grundstücke schutzwürdig die Berücksichtigung auch des umstrittenen Grundstücks erwarten könnten. Eine solche schutzwürdige Erwartung knüpfe an die tatsächlichen Gegebenheiten an. Die Festsetzung des Pflanzstreifens werde seit Jahren völlig ignoriert. Der Fußweg werde seit Jahren genutzt und verbinde das Flurstück 108/7 mit der Straße "D.". Die Verletzung der Planfestsetzung sei folgenlos geblieben, so dass unterstellt werden müsse, dass sich diese planerischen Festlegung im Laufe der Jahre durch ihre Entwicklung überholt habe und daher eine solche Festsetzung zum Zeitpunkt des Entstehens der sachlichen Beitragspflicht nicht getroffen worden wäre. Angesichts dessen hätten die Eigentümer der übrigen durch diese Straße erschlossenen Grundstücke schutzwürdig die Berücksichtigung auch dieses Flurstücks 108/7 bei der Aufwandsverteilung erwarten können.

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Diese Erwägungen der Beklagten vermögen ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts nicht zu begründen. Das Verwaltungsgericht hat zu Recht angenommen, dass das Grundstück mit der Flurstücksbezeichnung 108/7 nicht durch die Erschließungsanlage "D." erschlossen wird. Die Frage des Erschlossensein des Grundstücks - Flurstück 108/7 - der Klägerin im Sinne von § 133 Abs. 1 Satz 1 BauGB hängt davon ab, ob und inwieweit es von der Erschließungsanlage "D." erreichbar ist. Dies wird wesentlich vom Bebauungsrecht bestimmt. Danach werden Grundstücke in Wohngebieten in der Regel durch eine Anbaustraße erschlossen, wenn sie die Möglichkeit eröffnet, mit Personen- und Versorgungsfahrzeugen an das Grundstück heranzufahren und es von dort aus zu betreten (st. Rspr. vgl. BVerwG, Urteil vom 3. November 1987 - 8 C 77.86 - BVerwGE 78, 237). Bei Wohnzwecken dienenden Hinterliegergrundstücken muss hinzukommen, dass auch über das Anliegergrundstück eine Zugangsmöglichkeit zum Hinterliegergrundstück besteht (Beschluss des Senats vom 17.9.2003 - 9 ME 164/03 -). Auch wenn das hier veranlagte Grundstück - Flurstück 108/7 - nicht direkt an das Anliegergrundstück mit der Flurstücksbezeichnung 109/1 angrenzt und damit als - aus Sicht der Erschließungsanlage "D." - Hinterliegergrundstück im weiteren Sinne zu bezeichnen ist, gilt diese Erreichbarkeitsanforderung auch im vorliegenden Fall. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend darauf abgestellt, dass die Erreichbarkeit des Grundstücks - Flurstück 108/7 - bauplanungsrechtlich nicht gegeben ist. Das in dem im Bebauungsplan "Am B." Nr. 7 enthaltene Gebot, dicht wachsende Bäume und Sträucher im östlichen Bereich des Grundstücks - Flurstück 108/9 - auf ganzer Länge anzupflanzen und zu unterhalten, verhindert, dass Fußgänger oder Personen aus an das Anliegergrundstück herangefahrenen Personen- oder Versorgungsfahrzeugen das Grundstück unter zumutbaren Umständen betreten können (s. auch Beschluss des Senats vom 23.11.1994 - 9L 5351/92 - ). Da das Anpflanzungs- und Unterhaltungsgebot nach den Festsetzungen des Bebauungsplans ohne räumliche Unterbrechungen gilt, ist eine geradlinige Durchbrechung des als Abschirmung gedachten Pflanzstreifens durch einen schmalen Fußweg bauplanungsrechtlich unzulässig. Angesichts der Vorgabe, dicht wachsende Bäume und Sträucher zu verwenden, ist auch eine verschwenkte Führung eines Fußwegs innerhalb des Pflanzstreifens nicht denkbar.

7

Entgegen der Auffassung der Beklagten hat das Verwaltungsgericht dem tatsächlich angelegten Fußweg zutreffend nicht maßgeblich Bedeutung beigemessen. Er kann die bauplanungsrechtlichen Vorgaben nicht überwinden. Diese tatsächlichen Gegebenheiten führen zu der von der Beklagten vorgetragenen Frage, ob ein schutzwürdiges Vertrauen der anderen Anlieger der Anbaustraße an der Einbeziehung des streitigen Grundstücks in die Kostenverteilung besteht. Diese Erwägung kann nur ausnahmsweise zum Tragen kommen. Sie ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts als eine Art "letzter Korrekturansatz" für den Fall entwickelt worden, dass das Erschlossensein eines Grundstücks nach bebauungsrechtlichen Kriterien zu verneinen wäre, dies aber zu mit der Interessenlage billigerweise nicht zu vereinbarenden Ergebnissen führen würde - insoweit dem Gedanken von Treu und Glauben (§ 242 BGB) nicht unähnlich (BVerwG, Urteil vom 27.09.2006 - 9 C 4/05 - zitiert nach juris). Voraussetzung ist allerdings, dass die erwähnte schutzwürdige Erwartung der Eigentümer der übrigen Grundstücke in den bestehenden tatsächlichen Verhältnissen ihre Stütze findet (vgl. BVerwG, Urteil vom 23.3.1984 - 8 C 65.82 - Buchholz 406.11 § 127 BBauG Nr. 42 S. 19 sowie Urteil vom 17.6.1994 - 8 C 24.952 - DVBl 1995, 55). Davon kann vorliegend nicht die Rede sein. Denn die Eigentümer der bebauungsrechtlich durch die Straße "D." erschlossenen Grundstücke können nicht berechtigterweise annehmen, dass diese Straße dem mit einer Lagerhalle bebauten und insoweit gewerblich genutzten Flurstück 108/7 schon allein deshalb einen nennenswerten, die Erhebung von Erschließungsbeiträgen erforderlich machenden Vorteil verschafft, weil zwischen der Straße und dem Grundstück ein Fußweg besteht. Das Entstehen schutzwürdigen Vertrauens auf die Heranziehung von Gewerbegrundstücken zu Erschließungsbeiträgen setzt mindestens voraus, dass eine vorhandene Zufahrt zur Realisierung des ausgeübten Gewerbes tatsächlich genutzt wird. Hiervon kann vorliegend in keiner Weise ausgegangen werden.