Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 24.01.2007, Az.: 9 LA 252/03

Aufrechterhaltung; Begründung; Beitragsausfall; Bestandskraft; Ermessen; Ermessensentscheidung; Ermessensreduzierung auf Null; ernstliche Zweifel; Fehlerhaftigkeit; Gleichheitssatz; Herstellungsaufwand; materielle Gerechtigkeit; Rechtsmittelfrist; Rücknahme; Teilanfechtung; Treu und Glauben; Wiederaufgreifen; Zulassungsgrund

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
24.01.2007
Aktenzeichen
9 LA 252/03
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2007, 71797
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 18.06.2003 - AZ: 6 A 452/01

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Die Entscheidung der Behörde, ein bestandskräftig abgeschlossenes Heranziehungsverfahren nicht nach § 130 Abs. 1 AO wiederaufzugreifen, ist in der Regel nicht ermessensfehlerhaft. Von einer Ermessensreduzierung auf Null kann nur ausgegangen werden, wenn die Aufrechterhaltung des rechtswidrigen Bescheides schlechthin unerträglich wäre oder ein Beharren auf dessen Bestandskraft als ein Verstoß gegen die guten Sitten oder Treu und Glauben erschiene.

Gründe

1

Der auf den Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) gestützte Zulassungsantrag hat keinen Erfolg.

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Die Klägerin wurde nach betriebsfertiger Herstellung des Schmutzwasserkanals und der Hausanschlussleitung mit Bescheiden der Beklagten vom 19. November 1998 für die in ihrem Eigentum stehenden - grenzüberschreitend bebauten - Buchgrundstücke „D.“ (Flurstück 55/7 der Flur 2, Gemarkung E.) und „D. F.“ (Flurstück 55/9 der Flur 2, Gemarkung E.) im Ortsteil E. der Mitgliedsgemeinde G. der Beklagten zu Abwasserbeiträgen in Höhe von 6.936,80 DM für das erstgenannte und in Höhe von 6.966,00 DM für das letztgenannte Grundstück herangezogen. Hiergegen erhob sie nach erfolglosem Widerspruchsverfahren beim Verwaltungsgericht Stade Klage, soweit für das erstgenannte Grundstück ein Beitrag von mehr als 3.229,20 DM und für das letztgenannte Grundstück ein Beitrag von mehr als 3.240,00 DM festgesetzt worden war (6 A 693/00). Nach Anhängigkeit dieses Verfahrens wurde ein Urteil des Verwaltungsgerichts Stade vom 13. April 2000 (6 A 266/99) rechtskräftig, mit dem die Beklagte verpflichtet worden war, die ohne Zustimmung der Stadt H. vorgenommenen Anschlüsse an das Kanalnetz der Stadt I., u.a. den ihrer Mitgliedsgemeinde G., unverzüglich rückgängig zu machen. Auf Anfrage des Verwaltungsgerichts, ob und wie die zentrale Schmutzwasserbeseitigung in G. abgewickelt werde, teilte die Beklagte mit Schriftsatz vom 11. Oktober 2000 mit, dass sie zum augenblicklichen Zeitpunkt für die Grundstücke der Klägerin eine rechtlich und tatsächlich auf Dauer gesicherte Abwasserbeseitigung (noch) nicht gewährleisten könne. Im Augenblick werde das Einleiten des Schmutzwassers aus dem hier fraglichen Bereich in die Kläranlage der Stadt H. von der Stadt geduldet. Zugleich hob die Beklagte ihre Heranziehungsbescheide vom 19. November 1998 auf, soweit diese von der Klägerin angefochten worden waren. Das Klageverfahren wurde daraufhin nach Abgabe übereinstimmender Erledigungserklärungen mit Beschluss vom 1. November 2000 eingestellt.

3

Die Klägerin begehrt nunmehr von der Beklagten das Wiederaufgreifen des Verwaltungsverfahrens bezüglich der beiden Bescheide und deren Rücknahme hinsichtlich der festgesetzten Abwasserbeiträge auch insoweit, als diese Bescheide von ihr nicht angefochten worden waren. Die hierauf gerichtete Klage hat das Verwaltungsgericht mit der Begründung abgewiesen, die Beklagte habe das ihr durch § 11 Abs. 1 Nr. 3b NKAG i.V.m. § 130 AO eingeräumte Ermessen, ob sie für die Vergangenheit die unanfechtbar gewordenen Teile der Abgabenbescheide aufhebe, entsprechend dem Gesetzeszweck rechtsfehlerfrei ausgeübt. Ihre Entscheidung halte sich mit der ihr beigegeben Begründung innerhalb des Rahmens für die Ermessensausübung. Es erweise sich weder als schlechterdings unerträglich noch als Verstoß gegen Treu und Glauben, dass die Beklagte im Rahmen ihrer Ermessensentscheidung der Rechtssicherheit den Vorzug eingeräumt habe. Das Verhalten der Beklagten sei insbesondere deshalb nicht als treuwidrig einzuordnen, weil es der anwaltlich beratenen Klägerin unbenommen gewesen sei, die Beitragsbescheide vollumfänglich anzufechten. Wenn sie zur Minimierung des eigenen Prozess- und damit des Kostenrisikos im Klageverfahren von Anfang an lediglich eine Teilanfechtung betreibe, so sei diese Vorgehensweise ihrer eigenen Risikosphäre zuzuordnen. Es könne keine Treuwidrigkeit darin erblickt werden, dass die Beklagte es im Rahmen ihrer Ermessensentscheidung ablehne, die von der Klägerin bewusst getroffene Entscheidung, die Bescheide vom 19. November 1998 teilweise bestandskräftig werden zu lassen, im Nachhinein über § 130 AO zu Gunsten der Einzelfallgerechtigkeit zu korrigieren.

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Die in der Antragsschrift dargelegten Zweifel an der Richtigkeit dieser rechtlichen Beurteilung teilt der Senat nicht.

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Vielmehr vertritt auch der Senat in ständiger Rechtsprechung (vgl. Urteile v. 25.6.1997 - 9 L 4251/94 - , v. 24.6.1998 - 9 L 5169/96 - , u. v. 8.9.1998 - 9 L 6107/96 - ; Beschlüsse v. 18.12.1998 - 9 L 5283/97 - , v. 18.4.2000 - 9 L 508/00 -, v. 26.2.2001 - 9 L 1797/00 -, v. 28.2.2002 - 9 L 3468/00 - u. v. 14.3.2001 - 9 L 3451/00 -) und in Übereinstimmung mit dem Bundesverwaltungsgericht (Urt. v. 19.10.1967 - III C 123.66 - , BVerwGE 28, 122 = NJW 1968, 315 = DVBl 1968, 155 = DÖV 1968, 137 = Buchholz 427.3 § 342 LAG Nr. 10) die Auffassung, dass bei der Anwendung des § 130 Abs. 1 AO 1977 über die Rücknahme eines rechtswidrigen bestandskräftigen Heranziehungsbescheides zunächst davon auszugehen ist, dass die materielle Gerechtigkeit im gesetzlich zugelassenen Rechtsmittelverfahren zu verwirklichen ist. Ist dieses beendet oder ist die Rechtsmittelfrist mangels Einlegung eines Rechtsmittels abgelaufen, schließt der Grundsatz der Rechtssicherheit einen Rechtsanspruch auf Beseitigung einer unanfechtbaren behördlichen Entscheidung grundsätzlich aus. Auch im Rahmen des § 130 Abs. 1 AO ist deshalb die Entscheidung der Behörde, einen Verwaltungsakt, dessen Fehlerhaftigkeit sich nachträglich herausgestellt hat, gleichwohl nicht zurückzunehmen, grundsätzlich vom Prinzip der Rechtssicherheit gedeckt und mit Rücksicht auf den im Abgabenrecht bedeutsamen Grundsatz der Verwaltungspraktikabilität im Regelfall zu billigen. Ein Anspruch auf Rücknahme wird regelmäßig nur dann gegeben sein, wenn das Ermessen der Gemeinde aufgrund der besonderen Umstände auf Null reduziert ist. Dies anzunehmen setzt voraus, dass die Aufrechterhaltung des Bescheids schlechterdings unerträglich wäre oder ein Beharren auf der Bestandskraft des Bescheides als ein Verstoß gegen die guten Sitten oder gegen Treu und Glauben erschiene.

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Der Senat tritt der Beurteilung des Verwaltungsgerichts bei, dass ein solcher Ausnahmefall hier nicht vorliegt.

7

Die Beklagte räumt nach den Darlegungen im angefochtenen Bescheid vom 12. Dezember 2002 bei der von ihr zu treffenden Ermessensentscheidung im Rahmen der Abwägung zwischen den Grundsätzen der Rechtmäßigkeit der Verwaltung und der Rechtssicherheit dem Grundsatz der Rechtssicherheit Vorrang ein und beruft sich deshalb auf die jeweils bestandskräftigen Beitragsfestsetzungen in Höhe von 3.229,20 DM bzw. in Höhe von 3.240,00 DM. Zur Begründung wird ausgeführt, allein schon haushaltsrechtliche Gründe würden es gebieten, von einer Änderung der bestandskräftigen Beitragsfestsetzung abzusehen. Ihr sei ein Herstellungsaufwand für das Leitungsnetz entstanden, so dass die Beiträge in der erhaltenen Höhe zur Deckung der Investitionskosten verwendet werden müssten. Würden die Bescheide auch hinsichtlich der bestandskräftigen Beitragsfestsetzung aufgehoben, müsste möglicherweise der „Beitragsausfall“ fremdfinanziert werden, was zu einer weiteren Belastung des Gebührenhaushaltes im Bereich der Schmutzwasserbeseitigung führen würde. Die so begründete Entscheidung der Beklagten gegen die vollständige Aufhebung der Beitragsbescheide ist nicht zu beanstanden.

8

Für die Annahme, dass die Aufrechterhaltung der unanfechtbaren Teile der Heranziehungsbescheide hier schlechterdings unerträglich wäre oder ein Beharren auf deren Bestandskraft als ein Verstoß gegen die guten Sitten oder Treu und Glauben erschiene und deshalb das Rücknahmeermessen der Beklagten zugunsten der Klägerin auf Null reduziert sei, bestehen auch nach dem Vorbringen im Zulassungsverfahren keine hinreichenden Anhaltspunkte. Schlechthin unerträglich ist die Aufrechterhaltung eines rechtswidrigen bestandskräftigen Verwaltungsaktes, wenn eine Behörde in gleich oder ähnlich gelagerten Fällen in der Regel von ihrer Befugnis zum Wiederaufgreifen des Verfahrens Gebrauch macht, hiervon jedoch in einzelnen Fällen absieht, ohne dass sachgerechte Erwägungen für die unterschiedlich Behandlung erkennbar sind; unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitssatzes (Art. 3 GG) kann also ein Anspruch auf das Wiederaufgreifen gegeben sein (BVerwG, Urt. v. 19.10.1967 - III C 123.66 - a.a.O.) Die Klägerin hat weder dargelegt noch ist ersichtlich, dass die Beklagte in vergleichbaren Fällen regelmäßig das Verfahren wieder aufgreift. Als treuwidrig bzw. als Verstoß gegen die guten Sitten erweist sich die Ablehnung des Wiederaufgreifens etwa dann, wenn der Betroffene durch ein Verhalten der Behörde „veranlasst“ worden ist, von der Einlegung eines Rechtsmittels abzusehen, wobei es allerdings nicht ausreicht, dass diese ihn nur in einer falschen Rechtsansicht bestärkt hat (vgl. Rüsken in: Klein, Abgabenordnung, 7. Aufl. 2000, § 130 RdNr. 29). Das Verwaltungsgericht hat insoweit zutreffend hervorgehoben, dass die Entscheidung der Klägerin, die Heranziehungsbescheide vom 19. November 1998 nur teilweise anzufechten, nicht auf einer Einflussnahme durch die Beklagte, sondern ausschließlich auf eigenen Überlegungen zum Prozess- und Kostenrisiko beruhte. Der Senat teilt auch nicht die Auffassung der Klägerin, es stelle sich als „evidenter Verstoß gegen Treu und Glauben“ dar, dass die Beklagte, der seinerzeit bekannt gewesen sei, dass keine vertragliche Regelung mit der Stadt H. über den Anschluss der Gemeinde G. an die Kläranlage der Stadt bestanden habe, sehenden Auges rechtswidrige Bescheide erlassen und auf deren Nichtanfechtung bzw. nur teilweise Anfechtung gehofft habe. Denn aus dem Umstand, dass die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurückgewiesen und sogar das Risiko eines Prozesses bezüglich der Teilanfechtung ihrer Heranziehungsbescheide eingegangen ist, kann nur geschlossen werden, dass ihr im Zeitpunkt der Heranziehung der Klägerin nicht bewusst war, welche rechtlichen Konsequenzen das Fehlen ein Einleitungsvereinbarung mit der Stadt H. trotz tatsächlicher Herstellung von Abwasserkanal und Hausanschluss für die Beitragserhebung hatte. Die Klägerin hat nach alledem auch nicht unter dem Gesichtspunkt einer Ermessensreduzierung auf Null einen Anspruch auf erneute Sachentscheidung durch die Beklagte.