Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 15.04.1997, Az.: VI 587/96 Ki

Feststellung der Verpflichtung zur Zahlung von Kindergeld; Ausschluss des Kindergeldanspruchs bei Übersteigen der Hilfe zum Lebensunterhalt; Anspruch auf Kindergeld aus übergeleitetem Recht

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
15.04.1997
Aktenzeichen
VI 587/96 Ki
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1997, 17864
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:FGNI:1997:0415.VI587.96KI.0A

Verfahrensgegenstand

Kindergeldsache Feststellung der Verpflichtung zur Zahlung von Kindergeld (Widerspruchsbescheid vom 18. September 1996)

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Ein Sozialhilfeträger, der einem Kind i.S.d. § 63 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 32 Abs. 4 Nr. 1 EStG Sozialhilfe gewährt, hat gem. § 104 SGB X i.V.m. § 74 Abs. 5 EStG aus übergeleitetem Recht Anspruch auf Kindergeld. Der Anspruch ist nicht gem. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG bei übersteigen der Hilfe zum Lebensunterhalt von 12.000 DM ausgeschlossen.

  2. 2.

    Das Arbeitsamt -Familienkasse - ist als Beklagte durch den Präsidenten des Landesarbeitsamtes wirksam vertreten,

In dem Rechtsstreit
hat der VI. Senat des Niedersächsischen Finanzgerichts
nach mündlicher Verhandlung in der Sitzung vom 15. April 1997,
an der mitgewirkt haben:
Präsident des Finanzgerichts ... als Vorsitzender
Richterin am Finanzgericht ...
Richterin am Finanzgericht ...
ehrenamtliche Richterin ... Kauffrau
ehrenamtliche Richterin ... Regierungs-Oberamtsrätin
für Recht erkannt:

Tenor:

Der Ablehnungsbescheid vom 13. August 1996 in der Fassung des Einspruchsbescheides vom 18. September 1996 wird aufgehoben und es wird festgestellt, daß die Beklagte verpflichtet ist, ab 29. Mai 1996 Kindergeld in gesetzlicher Höhe für D. K. zu zahlen.

Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

1

Streitig ist, ob der Kläger als Sozialhilfeträger Anspruch auf Kindergeldleistungen geltend machen kann.

2

R. K. (R. K.) - Sozialhilfeempfänger - beantragte am 31. Mai 1996 die Zahlung von Kindergeld für seinen Sohn D. K. (D. K.). Darius K. ist am 18. Januar 1976 geboren. Er übte in der Zeit vom 7. August 1995 bis 14. Mai 1996 eine Arbeit aus. Danach wurde er arbeitslos. Er bewohnt eine eigene Wohnung in .... Er bezog im Jahr 1996 von der Stadt Celle Hilfe zum Lebensunterhalt sowie Wohngeld in Höhe von insgesamt 1.255,67 DM. Wegen der Berechnung im einzelnen wird auf Bl. 11, 12 der Kindergeldakte Bezug genommen.

3

Das Arbeitsamt ... lehnte mit Bescheid vom 13. August 1996 den Antrag auf Kindergeldleistungen unter Hinweis darauf ab, daß die eigenen Bezüge des D. K. die Einkommensgrenzen, die durch § 32 Abs. 4 Einkommensteuergesetz (EStG) gezogen seien, überstiegen.

4

Der Kläger, der mit Schreiben vom 3. Juni 1996 einen Erstattungsanspruch gemäß § 104 Sozialgesetzbuch X. (SGB) angemeldet hatte, erhob hiergegen gemäß § 91 a Bundessozialhilfegesetz (BSHG) mit der Begründung Einspruch, daß für die Berechnung der maßgeblichen Einkommensgrenze gewährte Sozialhilfe außer Betracht zu bleiben habe. Das Arbeitsamt wies den Einspruch als unbegründet zurück.

5

Hiergegen hat der Kläger Klage erhoben, zu deren Begründung er vorträgt, die Klagebefugnis ergebe sich aus § 91 a BSHG.

6

Entgegen der Auffassung des Arbeitsamtes ... handele es sich bei Kindergeldleistungen um eine Sozialleistung im Sinne des § 91 a BSHG. Es bestehe ein Antragsrecht des Sozialhilfeträgers auf alle Sozialhilfeleistungen.

7

Entgegen der Auffassung des Arbeitsamtes seien Leistungen nach dem BSHG nicht als Einkommen des Kindes anzurechnen mit der Folge, daß die Leistung von Kindergeld ausgeschlossen sei. Dies ergebe sich aus dem Grundsatz der Nachrangigkeit des § 2 BSHG. Das Kindergeld sei in vollem Umfang auf die Hilfe zum Lebensunterhalt anzurechnen.

8

Der Kläger beantragt,

den Ablehnungsbescheid vom 13. August 1996 in der Fassung des Einspruchsbescheides vom 18. September 1996 aufzuheben und festzustellen, daß die Beklagte verpflichtet sei, ab 29. Mai 1996 Kindergeld in gesetzlicher Höhe für D. K. zu zahlen.

9

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

10

Der in § 31 EStG geregelte Familienleistungsausgleich werde entweder durch die steuerliche Freistellung eines Einkommensbetrages in Höhe des Existenzminimums eines Kindes in Gestalt des Kinderfreibetrages nach § 32 EStG oder durch Kindergeld nach dem X. Abschnitt des EStG bewirkt. Ein Steuerpflichtiger habe grundsätzlich ein Wahlrecht, ob er den Kinderfreibetrag nach § 32 EStG oder das Kindergeld nach dem X. Abschnitt des EStG in Anspruch nehmen möchte. Daraus folge, daß Kindergeld seit der Neuregelung im Januar 1996 keine Sozialleistung im Sinne des SGB darstelle, sondern eine einkommensteuerliche Regelung zur Freistellung des steuerlichen Existenzminimums eines Kindes. Die einkommensteuerlichen Regelungen orientierten sich lediglich an den entsprechenden Vorschriften des Bundeskindergeldgesetzes alter Fassung.

Entscheidungsgründe

11

Die Klage ist zulässig und begründet.

12

1.

Der Kläger ist gemäß § 91 a BSHG in Verbindung mit § 41 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung (FGO) klagebefugt.

13

Nach § 91 a Satz 1 BSHG kann der erstattungsberechtigte Träger der Sozialhilfe die Feststellung einer Sozialleistung betreiben. Das besondere Feststellungsinteresse im Sinne des § 41 FGO folgt aus § 74 Abs. 5 EStG in Verbindung mit § 104 SGB X. Danach ist der zuständige Träger der Sozialhilfe, der mit seinen Leistungen in Vorlage getreten ist, berechtigt, den Kindergeldanspruch geltend zu machen.

14

2.

Die Beklagte ist im Verfahren wirksam vertreten. Die beklagte Bundesanstalt für Arbeit ist gemäß § 189 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) eine rechtsfähige Körperschaft des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung. Gemäß § 209 AFG führt der Präsident der Beklagten die laufenden Verwaltungsgeschäfte, insoweit vertritt er die Beklagte gerichtlich und außergerichtlich. Aufgrund der Ermächtigungsgrundlage des § 214 AFG beschließt der Verwaltungsrat -Organ der Selbstverwaltung der Beklagten gemäß § 190 Nr. 1 AFG - die Satzung der Anstalt. § 214 AFG stellt eine hinreichende Ermächtigungsgrundlage dar. Der Verwaltungsrat hat durch Beschluß der Satzung vom 27. März 1980 in der Fassung vom 12. März 1996 - Bundesanzeiger Nr. 58 Seite 3312 vom 22. März 1996 - von der Ermächtigung zur Errichtung einer Satzung Gebrauch gemacht. Nach Art. 17 Abs. 2 der Satzung a.a.O. sind neben dem Präsidenten der Beklagten u.a. auch die Präsidenten der Landesarbeitsämter zur gerichtlichen und außergerichtlichen Vertretung der Beklagten in Angelegenheiten der laufenden Geschäftsführung befugt. Diese Regelung ist Ausdruck des Selbstverwaltungsgedankens, der die Beklagte berechtigt, selbst Regelungen insbesondere für ihre Organisationsstruktur zu treffen. Rechtsstreitigkeiten in Kindergeldsachen gehören zu den Angelegenheiten der laufenden Geschäftsführung. Der Gesetzgeber hat insoweit in vollem Umfang an eine vorhandene Struktur angeknüpft, als er der Beklagten hinsichtlich der Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach den §§ 31, 62 bis 78 EStG durch § 5 Abs. 1 Nr. 11 des Gesetzes über die Finanzverwaltung (FVG) mit ihren Dienststellen als Familienkassen die Eigenschaft einer Bundesfinanzbehörde verliehen hat. Die Verteilung der einzelnen Aufgaben des Familienleistungsausgleichs folgt funktionaler Zweckmäßigkeit und ist von Rechts wegen nicht zu beanstanden.

15

Der Präsident des Landesarbeitsamts Niedersachsen-Bremen ist danach befugt, die Beklagte in Angelegenheiten der laufenden Geschäftsführung, insbesondere in Prozessen über Kindergeldsachen, zu vertreten, ohne daß es der Erteilung von Vollmachten durch die Arbeitsämter bedarf. Er kann gemäß § 58 Abs. 2 FGO Prozeßhandlungen vornehmen.

16

Entgegen der Auffassung des VIII. Senates des Niedersächsischen Finanzgerichts im Verfahren VIII 361/96 Ki ergibt sich auch aus den Vorschriften des Steuerberatungsgesetzes (StBerG) nichts anderes. Das StBerG gilt schon nach seiner historischen Entwicklung nur für Rechtsverhältnisse der freiberuflich tätigen Angehörigen der steuerberatenden Berufe, nicht aber für das hoheitliche Tätigwerden von juristischen Personen des öffentlichen Rechts im Rahmen der Wahrnehmung hoheitlicher Tätigkeit. Entsprechend dürfen - zur Abgrenzung des Konkurrenzverhältnisses zu den Angehörigen des Berufsstandes - gemäß § 4 Nr. 3 StBerG Behörden und Körperschaften des öffentlichen Rechts für Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts nur im Rahmen ihrer Zuständigkeit Hilfe in Steuersachen leisten.

17

3.

Die Klage ist begründet.

18

Die Klägerin ist aktiv legitimiert im Sinne des § 57 FGO. Denn sie macht einen zwischen den Beteiligten streitigen Anspruch aus gesetzlich übergeleitetem Recht gemäß § 104 SGB X i.V.m. § 74 Abs. 5 EStG geltend.

19

Der arbeitslose D. K. ist Kind im Sinne des § 63 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 32 Abs. 4 Nr. 1 EStG, für das der Vater R. K. Anspruch auf Kindergeld hat. Der Anspruch ist gemäß § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG nicht dadurch ausgeschlossen, daß D. K. eigene Einkünfte oder Bezüge zur Bestreitung von Lebensunterhalt hat, die 12.000 DM jährlich übersteigen. Leistungen nach Sozialleistungsvorschriften gehören nicht zu den anrechenbaren Bezügen.

20

Dies folgt zum einen aus der Systematik des EStG. Denn gemäß § 32 b Abs. 1 EStG findet für das Beziehen von anderen Bezügen als Einkünften im Sinne des EStG ein besonderer Steuersatz Anwendung. Unter "anderen Bezügen" sind in § 32 b Abs. 1 a bis i EStG verschiedene Sozialleistungen genannt, jedoch nicht die Hilfe zum Lebensunterhalt. Daraus ist der Schluß zu ziehen, daß diese nicht zu den anrechenbaren Bezügen gehört.

21

Es ist nicht ersichtlich, daß für die Frage der Gewährung von Kindergeld eine andere Auslegung als für die Anwendung des Progressionsvorbehaltes nach § 32 b EStG gelten soll. Dies insbesondere deshalb, als durch die Neuregelung des Kindergeldes gemäß § 31 EStG als technisch und zeitlich vorgezogene Einkommensteuervergütung der Nachrangigkeitsgrundsatz des § 2 BSHG keine Änderung erfahren sollte und auch nicht erfahren hat.

22

Dieser Auffassung dürfte im übrigen auch der Bundesminister der Finanzen zu sein. Denn nach dem Erlaß vom 28. Juni 1996, Bundessteuerblatt (BStBl) I, 707, 754 - DA 63.4.2.3. Abs. 2 zählen zu den Bezügen Unterhaltsleistungen des Sozialamtes nur, wenn das Sozialamt von einer Rückforderung beim gesetzlich Unterhaltsverpflichteten abgesehen hat. Im vorliegenden Fall hat das Sozialamt nicht von einer Rückforderung beim Vater als Unterhaltsverpflichteten abgesehen, sie bietet nur keine Aussicht auf Erfolg, weil dieser selbst Sozialhilfeempfänger ist.

23

Die Zulassung der Revision folgt aus § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO. Die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache besteht zum einen darin, daß die Frage der wirksamen Vertretung der Beklagten als auch die Frage grundsätzlich klärungsbedürftig ist, ob die Hilfe zum Lebensunterhalt als sonstiger Bezug im Sinne des § 32 Abs. 4 Satz 2 anzusehen ist, der bei überschreiten der Betragsgrenze von 12.000 DM jährlich der Gewährung von Kindergeld entgegenstehen. Der Beantwortung dieser Frage kommt große Breitenwirkung zu.

24

Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.