Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 13.03.2002, Az.: 2 K 89/97 Ki

Geltendmachung eines Kindergelderstattungsanspruch von Sozialleistungsträger gegenüber der Familienkasse im Wege der allgemeinen Leistungsklage

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
13.03.2002
Aktenzeichen
2 K 89/97 Ki
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2002, 14051
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:FGNI:2002:0313.2K89.97KI.0A

Fundstellen

  • EFG 2002, 1570-1571
  • Jugendhilfe 2004, 100-101

Tatbestand

1

Streitig ist, ob der Klägerin wegen eines Erstattungsanspruchs gegen den Beklagten ein Anspruch auf Zahlung des Kindergelds für die Zeit vom 1. Dezember 1996 bis zum 31. März 1997 in Höhe von insgesamt 860 DM für das Kind A zusteht.

2

Die Klägerin ist örtlicher Träger der Jugendhilfe. In dieser Funktion gewährte sie dem Kind A, geb. 1993, seit dessen Geburt Hilfe zur Erziehung nach § 34 des 8. Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB VIII). Diese Leistungen umfassten auch den notwendigen Lebensunterhalt im sozialhilferechtlichen Sinn.

3

Kindergeldberechtigte war die Mutter des Kindes. Der Beklagte hatte von der Kindergeldberechtigten mit Bescheid vom 13. September 1996 für das Jahr 1995 gezahlte Kindergeldzuschläge in Höhe von 780 DM zurückgefordert. Dieser Betrag sollte im Wege der Aufrechnung in Höhe von 50 v.H. vom laufenden Kindergeld einbehalten werden.

4

Am 12. Dezember 1996 machte die Klägerin gegenüber dem Beklagten einen Erstattungsanspruch nach § 74 Abs. 5 EStG 1996 i.V.m. § 104 SGB X hinsichtlich des Kindergelds geltend. Der Beklagte teilte der Klägerin mit Schreiben vom 30. Dezember 1996 mit, Zahlungen erst ab April 1997 erbringen zu wollen, da noch eine Forderung der Familienkasse gegen die Kindergeldberechtigte "offen" sei. Wegen des Wortlauts und der Form dieses Schreibens wird auf Bl. 66 d. Kindergeld-Akte verwiesen.

5

Die Klägerin legte gegen dieses Schreiben des Beklagten Einspruch ein. Sie wendete sich damit gegen die Berücksichtigung des Erstattungsanspruchs erst ab April 1997. Der Beklagte wies den Einspruch durch Einspruchsbescheid vom 29. Januar 1997 als unbegründet zurück. Der Einspruchsbescheid wurde gegen Empfangsbekenntnis am 3. Februar 1997 bekanntgegeben.

6

Hiergegen richtet sich die Klage. Die Klageschrift ging am 4. März 1997, einem Dienstag, bei Gericht ein. Mit der Eingangsverfügung wies das Gericht auf die Versäumung der Klagefrist hin. Die Klägerin beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Sie macht eine überlange Postlaufzeit geltend. Die Unterzeichner und zuständige Bearbeiter habe die Klageschrift am 24. Februar 1997 in den Postgang gegeben. Bei normalem Postlauf könne mit einer Zustellung innerhalb des Stadtgebiets von X am folgenden Tage gerechnet werden, so dass die Klage rechtzeitig eingegangen wäre. Ergänzend wies die Klägerin darauf hin, sie habe die Klageschrift zwar als "Behördenpost" versandt. Die Klageschrift habe aber am 28. Februar 1997, 8:00 Uhr das Rechtsamt verlassen und sei noch im Laufe des Vormittags bei der Stadtkanzlei eingetroffen. Hierdurch sei ein rechtzeitiger Zugang beim Gericht am Montag, dem 3. März 1997, sichergestellt gewesen. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Schriftsatz vom 26. März 1997 (Bl. 19 - 24 d. Gerichtsakte) verwiesen.

7

In der Sache meint die Klägerin, ihr stehe ein Erstattungsanspruch hinsichtlich des Kindergelds ab Dezember 1996 zu. Das Kind sei nämlich seit dem 25. November 1996 in einem Heim untergebracht. Sie erbringe hierfür monatliche Leistungen von 4.112,10 DM. Der Beklagte dürfe die Erstattung nicht im Hinblick auf eigene Forderungen gegen die Kindergeldberechtigte verweigern. Diese Forderung dürfe der Beklagte nicht auf Kosten der Klägerin ausgleichen. Der Erstattungsanspruch gehe einem etwaigen Aufrechungsanspruch des Beklagten vor.

8

Die Klägerin beantragt,

unter Aufhebung des Bescheids vom 30. Dezember 1996 und des Einspruchsbescheids vom 29. Januar 1997 für die Zeit vom 1. Dezember 1996 bis zum 31. März 1997 an die Klägerin Kindergeld in Höhe von 860 DM auszuzahlen.

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Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

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Er hält an seiner Auffassung fest, auf den Erstattungsanspruch der Klägerin könne erst ab April 1997 gezahlt werden. Für die Zeit davor gehe die Aufrechnung des Beklagten dem Anspruch der Klägerin vor. Der Beklagte habe nämlich die Aufrechnung bereits mit Bescheid vom 13. September 1996 und damit vor der Geltendmachung des Erstattungsanspruchs durch die Klägerin erklärt.

Gründe

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Die Klage hat keinen Erfolg.

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1.

Für die Klage ist der Finanzrechtsweg gegeben. Dies ergibt sich aus § 33 Abs. 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO). Das Kindergeld wird nämlich nach § 31 Satz 3 EStG monatlich als Steuervergütung gezahlt und unterliegt als einkommensteuerrechtliche Steuervergütung der Gesetzgebung des Bundes; Streitigkeiten sind somit öffentlich-rechtliche Streitigkeiten über Abgabenangelegenheiten. Dazu gehören auch die Streitigkeiten zwischen einem Sozialleistungsträger und der Familienkasse über Kindergeld-Erstattungsansprüche (Urteil des Niedersächsischen Finanzgerichts vom 15. April 1997, VI 587/96 Ki, EFG 1997, 1213; Urteil des Finanzgerichts Düsseldorf vom 15. Dezember 1999, 9 K 5749/98 Kg, EFG 2000, 225; Gräber/Koch FGO § 33 Rz. 30 "Kindergeldangelegenheiten"; Schmidt/Weber-Grellet EStG § 74 Rz. 4; a.A. Urteil des Finanzgerichts Bremen vom 14. Mai 1997, 4 97 022 K 1, EFG 1997, 991).

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2.

Die Klägerin ist klagebefugt. Sie macht nämlich in der Sache einen eigenen Erstattungsanspruch nach § 74 Abs. 5 EStG 1996 i.V.m. § 104 SGB X geltend und wendet sich in erster Linie im Wege der Anfechtungsklage gegen den an sie als Inhalts- und Bekanntgabeadressaten gerichteten Einspruchsbescheid. Auf die Frage der Klagebefugnis des Sozialleistungsträgers anstelle des Kindergeldberechtigten kommt es insoweit nicht an.

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3.

Soweit sich die Klage als Anfechtungsklage nach § 40 Abs. 1 1. Variante FGO gegen den Einspruchsbescheid des Beklagten vom 29. Januar 1997 richtet, ist die Klage unzulässig. Die Klägerin hat die Klage nämlich verspätet erhoben. Die Klagefrist des § 47 Abs. 1 FGO war am 3. März 1997 abgelaufen. Die Klagefrist beträgt einen Monat. Sie beginnt mit der Bekanntgabe des angefochtenen Verwaltungsakts. Der Einspruchsbescheid war der Klägerin nach § 5 Abs. 2 des Verwaltungszustellungsgesetzes durch Zustellung mittels Empfangsbekenntnis am 3. Februar 1997 bekannt gegeben worden. Die Klagefrist begann mithin am 4. Februar 1997 und endete mit Ablauf des 3. März 1997. Da die Klageschrift aber erst am 4. März 1997 beim Gericht einging, ist die Klage verspätet.

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Der Klägerin ist keine Wiedereinsetzung in die Klagefrist zu gewähren.

16

Nach § 56 FGO ist zwar jemandem, der ohne Verschulden gehindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Dies setzt in formeller Hinsicht voraus, dass innerhalb einer Frist von zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses die versäumte Rechtshandlung nachgeholt und diejenigen Tatsachen vorgetragen und im Verfahren über den Antrag durch präsente Beweismittel glaubhaft gemacht werden, aus denen sich die schuldlose Verhinderung ergeben soll (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Urteil vom 10. März 2000, VII R 2/00, BFH/NV 2000, 1117 m.w.N.). Nach der Rechtsprechung des BFH gelten die Grundsätze der FGO über Fristversäumnis und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand für die Behörden in gleicher Weise wie für den Steuerpflichtigen. Hiernach schließt jedes Verschulden - also auch einfache Fahrlässigkeit - die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand aus.

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Das Vorbringen der Klägerin ist nicht geeignet, ein Verschulden der für die Bearbeitung, Absendung und Weiterleitung der Klage zuständigen Bediensteten an der Versäumung der Klagefrist auszuschließen. Die Fristversäumnis beruht nämlich auf einem Organisationsmangel bei der Klägerin. Die Klägerin hätte nämlich wie ein Prozessbevollmächtigter eines Steuerpflichtigen ein Fristenkontrollbuch sowie ein Postausgangsbuch führen müssen und damit eine Ausgangskontrolle schaffen müssen, die eine ausreichende Gewähr dafür bietet, dass fristwahrende Schriftsätze nicht über den Fristablauf hinaus im Büro bzw. in der Behörde liegen bleiben. Dies hat sie jedoch nicht getan. Nach den Schriftsätzen der Klägerin vom 20. und 26. März 1997 will zwar der Justitiar der Klägerin als Unterzeichner der Klageschrift diese am 24. Februar 1997 in seinen Postausgang gegeben haben. Es wird damit aber nicht deutlich, dass er später nochmals die rechtzeitige Übermittlung der Klageschrift überwacht hat. Die Ausgangskontrolle durfte der Justitiar nicht auf die Poststelle des Rechtsamt übertragen, da es nicht ausgeschlossen war, dass die Klageschrift die Poststelle gar nicht erreichte. Tatsächlich benötigte die Klageschrift nach dem Absendedatum bereits vier Tage vom Postausgang beim Unterzeichner der Klageschrift bis zur Poststelle des Rechtsamts. Ob die Klageschrift noch am 28. Februar 1997 die Stadtkanzlei erreichte, kann nicht festgestellt werden. Auch ist nicht feststellbar, ob es in der Stadtkanzlei zu Verzögerungen gekommen ist. Die Klägerin hat lediglich die rechtzeitige Fertigstellung der Klageschrift glaubhaft gemacht und auf den üblichen Ablauf verwiesen. Tatsächlich hat sie jedoch durch die mangelhafte Kontrolle des Postausgangs bis zur Absendung die Rechtzeitigkeit der Klageerhebung dem Zufall überlassen. Dabei wären ihr auch die Fehler bei der Postbeförderung durch die Stadtkanzlei zuzurechnen. Übernimmt nämlich eine Behörde die Postbeförderung selbst und benutzt sie ein von ihr selbst errichtetes und betriebenes Postbeförderungssystem, so muss sie für die ordentliche Erledigung dieser Aufgabe einstehen und - ebenso wie jeder andere Beteiligte, der z.B. einen Boten mit der Übermittlung beauftragt - die Verantwortung für Fehler bei der Postbeförderung tragen (BFH-Urteil vom 8. September 1998, VII R 136/97, BFH/NV 1999, 73).

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4.

Die Klage hat aber auch, soweit die Klägerin in ihrem Schriftsatz vom 29. August 1997 die Zahlung von 860 DM an sich geltend macht, keinen Erfolg. Die Zahlungsklage der Klägerin ist eine allgemeine Leistungsklage im Sinne des § 40 Abs. 1 letzte Variante FGO. Zwar wäre eine Leistungsklage rechtzeitig erhoben, da insoweit nicht die Monatsfrist des § 47 Abs. 1 FGO gilt. Einer Leistungsklage fehlt im Streitfall jedoch das Rechtsschutzinteresse, da die Klägerin das Ziel der Klage auch durch eine Anfechtungsklage gegen einen Abrechnungsbescheid erreichen könnte und insoweit die Leistungsklage subsidiär ist. Bei Streit um die Verwirklichung der Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ist vor einer Klageerhebung nämlich nach § 218 Abs. 2 AO die vorherige Erteilung eines Abrechnungsbescheids erforderlich (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Beschluss vom 7. Juli 1998, VII B 312/97, BFH/NV 1999, 150; BFH-Urteil vom 30. November 1999, VII R 97/98, BFH/NV 2000, 412 jeweils m.w.N., Gräber/von Groll FGO § 40 Rz. 28). Zu den Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis gehört nach § 1 AO auch das als Steuervergütung gezahlte Kindergeld (s.o.). Entsprechend sieht auch die "Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs" (DA-FamEStG, BStBl. I 2000, S. 636) in DA 74.1.1 Abs. 5 Satz 6 für Abzweigungsfälle und in DA 74.3.5 in Fällen von Erstattungsansprüchen ausdrücklich die Erteilung eines Abrechnungsbescheids vor.

19

Ein solcher Abrechnungsbescheid kann auch gegenüber einem Träger der Sozial- oder Jugendhilfe ergehen (umstritten, wie hier für Abzweigungsfälle DA 74.1.1 Abs. 5 Satz 6, bei Erstattungsanspruch DA 74.3.5, Urteil des Finanzgericht Nürnberg vom 1. Februar 2001, IV 134/2000, nv, juris; a.A. Urteile des Finanzgerichts Düsseldorf, 10 K 5611/98 Kg, EFG 2001, 1561 und vom 15. Dezember 1999, 9 K 5749/98 Kg, EFG 2000, 225). Dies gilt auch dann, wenn dieser, wie die Klägerin, einen Erstattungsanspruch nach § 74 Abs. 5 EStG 1996 i.V.m. § 104 SGB X geltend macht und Streit zwischen den Leistungsträgern über das Bestehen und Erlöschen des Kindergeldanspruchs besteht. Der Abrechnungsbescheid entscheidet nämlich darüber, inwieweit der Kindergeldanspruch überhaupt für eine Erstattung zur Verfügung steht.

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Insoweit hat sich die Rechtslage durch die Umgestaltung des Kindergelds in eine Steuervergütung ab dem Jahr 1996 gegenüber der vorherigen Ausgestaltung als Sozialleistung geändert. Das Sozialrecht kennt nämlich keine dem § 218 Abs. 2 AO entsprechende Regelung. Aber auch schon für das Kindergeld als Sozialleistung hat das Bundessozialgericht - BSG - entschieden, dass die Rechtsposition des Trägers der Sozial- oder Jugendhilfe im Rahmen von § 104 Abs. 1 S. 4 SGB X derjenigen eines Pfändungsgläubigers und der Erstattungsanspruch funktional der Pfändung einer Sozialleistung entspricht (BSG-Urteil vom 22. Januar 1998, B 14/10 KG 24/96 R, NVwZ-RR 1998, 566 [BSG 22.01.1998 - B 14/10 KG 24/96 R]). Einem Pfändungsgläubiger gegenüber ist jedoch bei Streitigkeiten über die Verwirklichung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis auch als Drittem ein Abrechnungsbescheid zu erteilen (BFH-Urteile vom 14. Juli 1987, VII R 72/83, BStBl. II 1987, 802; vom 7. August 1990, VII R 120/89, BFH/NV 1991, 569 und vom 30. November 1999, VII R 97/98, BFH/NV 2000, 412).

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Bisher hat der Beklagte nicht festgestellt, inwieweit für den streitigen Zeitraum Dezember 1996 bis März 1997 Kindergeldansprüche entstanden sind und inwieweit und durch welchen Rechtsgrund sie erloschen sind. Nur so kann aber geklärt werden, inwieweit der Klägerin Kindergeld auf deren Erstattungsanspruch zu zahlen ist. Das Antwortschreiben des Beklagten vom 30. Dezember 1996 enthält derartige Feststellungen jedenfalls nicht und ist mithin kein Abrechnungsbescheid im Sinne des § 218 Abs. 2 AO.

22

Mit dem Einspruchsschreiben machte die Klägerin den Beklagten darauf aufmerksam, dass Streit darüber besteht, inwieweit der Kindergeldanspruch für die Erstattung zur Verfügung steht. Der Beklagte hätte hierauf einen Abrechnungsbescheid erteilen müssen. Dies hat er jedoch nicht getan. Er wird dies nachholen müssen. Denn es ist nicht Aufgabe des Gerichts, eine von der zuständigen Behörde versäumte stimmige und ordnungsgemäße Abrechnung zu erstellen (Tipke/Kruse § 218 AO Tz. 32). Es prüft vielmehr nur die Rechtmäßigkeit des erteilten Abrechnungsbescheids. Sollte sich der Beklagte weiterhin weigern, einen Abrechnungsbescheid zu erteilen, so müsste die Klägerin ggf. Untätigkeits- oder Verpflichtungsklage erheben.

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

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Die Revision war gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen, da die Frage, ob gegenüber einem erstattungsberechtigten Sozialleistungsträger wegen Kindergeld ein Abrechnungsbescheid zu erteilen ist, umstritten und klärungsbedürftig ist.