Sozialgericht Braunschweig
Beschl. v. 11.04.2008, Az.: S 18 AS 473/08 ER
Anspruch auf Erteilung der Zusicherung zu den Aufwendungen für eine neue Wohnung aufgrund psychisch-emotionalen Stresses in der bisherigen Wohngemeinschaft; Persönliche Differenzen mit Mitbewohnern als notwendiger Umzugsgrund; Voraussetzungen einer einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands durch das Gericht der Hauptsache i.S.v. § 86b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG)
Bibliographie
- Gericht
- SG Braunschweig
- Datum
- 11.04.2008
- Aktenzeichen
- S 18 AS 473/08 ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2008, 29935
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGBRAUN:2008:0411.S18AS473.08ER.0A
Rechtsgrundlagen
- § 22 Abs. 2 SGB II
- § 86 b Abs. 2 SGG
Tenor:
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller eine Zusicherung zu den Aufwendungen für die Unterkunft C. zu erteilen. Sie wird darüber hinaus verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig - unter dem Vorbehalt der Rückforderung - ab 1.3.2008 bis zum 31.8.2008, längstens jedoch bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache, monatlich Arbeitslosengeld II unter Berücksichtigung der tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung zu gewähren. Die Antragsgegnerin hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers zu erstatten.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten um die Zusicherung zu den Aufwendungen für die Wohnung D ...
Der 1977 geborene, ledige Antragsteller bezieht seit November 2005 Arbeitslosengeld II von der Antragsgegnerin. Seit 2003 wohnte er in einer Wohngemeinschaft im E. mit drei weiteren Mitbewohnern. Er erhielt von der Antragsgegnerin für diese Wohnung Kosten der Unterkunft und Heizung in Höhe von ca. 177 EUR monatlich.
Am 22.5.2006 wurde der Antragsteller im Auftrag der Antragsgegnerin amtsärztlich begutachtet. Darin wurde unter anderem ausgeführt, bei dem Antragsteller sei es zu einer depressiven Entwicklung mit sozialem Rückzug und Abbruch des Studiums gekommen. Inzwischen habe sich die psychische Verfassung gebessert. Hohe psychische Belastungen sollten gegenwärtig noch nicht zugemutet werden. Zur Aufnahme einer nervenärztlichen/psychotherapeutischen Behandlung wurde geraten.
Er sprach am 11.1.2008 bei der Antragsgegnerin vor und teilte mit, er verstehe sich nicht mehr mit seinen Mitbewohnern und wolle umziehen. Im Februar 2008 reichte er ein Wohnungsangebot für eine Wohnung im F. in G. ein. Das Mietverhältnis sollte am 1.3.2008 beginnen. Die Kaltmiete beträgt 245 EUR zuzüglich 68 EUR Nebenkosten und 20 EUR Heizkosten. In dem Mietvertrag war eine Staffelmiete vereinbart, d.h. die Miete erhöht sich ab 1.3.2009, 1.3.2010 und 1.3.2011 um jeweils 4 EUR monatlich. Ab 1.3.2012, 1.3.2013 und 1.3.2014 erhöht sich die Miete um jeweils 5 EUR monatlich und ab 1.3.2015, 13.2016 und 13.2017 um jeweils 6 EUR monatlich.
Die Antragsgegnerin lehnte die beantragte Zusicherung mit Bescheid vom 28.2.2008 ab. Darin führte die Antragsgegnerin aus, zwar sei die Wohnung im F. angemessen. Jedoch sei der vom Antragsteller angegebene Umzugsgrund (persönliche Differenzen mit seinen Mitbewohnern) nicht als notwendig anzusehen.
Der Antragsteller zog zum 1.3.2008 in die Wohnung F. um.
Er erhob unter dem 21.3.2008 Widerspruch, in dem er ausführte, er sei seit Monaten täglich unter psychisch-emotionalen Stress gesetzt worden, mit dem offenen Ziel, ihn aus der Wohnung herauszumobben. Er habe nach zwei Nervenzusammenbrüchen mit Weinkrämpfen an sich wieder Verhaltenssymptome und Gedankenschleifen bemerkt. Deswegen habe er sich bereits auf Anraten des ärztlichen Dienstes der Antragsgegnerin in psychotherapeutische Behandlung begeben. Um der Gefahr einer langwierigen Depression keinen Vorschub zu leisten, sei der Auszug aus der Wohngemeinschaft zwingend notwendig gewesen.
Der Antragsteller hat am 3.3.2008 einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt. Er trägt vor, er sei bereits von Dezember 2006 bis April 2007 in psychotherapeutischer Behandlung bei der Dipl.-Psychologin H. gewesen. Er habe damals Schwierigkeiten gehabt, sich sein Diplom abzuholen und Bewerbungen zu schreiben. Er habe hierzu auch praktische Hilfen erhalten von Frau I. des Vereins J ... Seit April 2007 habe er sein Diplom, und seitdem sei es ihm besser gegangen. Zur Wohnsituation führte der Antragsteller aus, die Bewohner seiner Wohnung hätten seit 2003 bis auf eine Mitbewohnerin permanent gewechselt. Seine Privatsphäre sei zuletzt nicht respektiert worden. Er habe die Erfahrung gemacht, dass in seiner Abwesenheit jemand in seinem Zimmer gewesen sei. Es habe nächtliche Ruhestörungen gegeben. Nach 23 Uhr sei laut Musik gehört worden. Die Polizei habe er nicht eingeschaltet, weil er Angst vor einer weiteren Eskalation des Verhältnisses zu seinen Mitbewohnern gehabt habe. In 2007 sei es einmal geschehen, dass im Bad Haarreste aus dem Flusensieb der Duschwanne in sein Badezimmerfach neben seine Zahnbürste gelegt worden seien. Zunächst habe er versucht, dies durch Rücksprache mit seinen Mitbewohnern zu klären. Als dies noch einmal vorgekommen sei, sei er in sein Zimmer gegangen und habe geweint. Es habe auch Eigentumsverletzungen gegeben, einmal sei eine Tasse, die in der Küche gestanden habe, verschwunden. Ein anderes Mal sei seine Telefonrechnung geöffnet worden. Seine Mitbewohner hätten sich auch über ihn lustig gemacht, weil er eine Psychotherapie gemacht habe.
Er beantragt,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm die Zusicherung zu den Aufwendungen für die Unterkunft C. zu erteilen und die Antragsgegnerin zu verpflichten, die Kosten der Unterkunft und Heizung ab 1.3.2008 in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen zu gewähren.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Sie vertritt die Auffassung, die Wohnung sei unangemessen, da aufgrund der vereinbarten Staffelmiete die Miete ab 1.3.2011 unangemessen sei. Zudem seien keine Gründe für eine Erforderlichkeit des Umzuges glaubhaft gemacht worden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Sachvortrages der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsvorgänge der Antragsgegnerin verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der gerichtlichen Entscheidungsfindung gewesen sind.
II.
Der Antrag hat Erfolg. Er ist zulässig und begründet.
Gemäß § 86 b Abs. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Es müssen also sowohl ein Anordnungsanspruch (ein materiell-rechtlicher Anspruch auf Gewährung der begehrten Leistung), als auch ein Anordnungsgrund (die Dringlichkeit der begehrten gerichtlichen Regelung) vorliegen.
Der Antragsteller hat zunächst die Dringlichkeit der begehrten gerichtlichen Regelung glaubhaft gemacht, da er seit März 2008 weiterhin nur ca. 177 EUR für Kosten der Unterkunft und Heizung erhält. Da seine gegenwärtige Miete wesentlich höher ist, muss er den fehlenden Betrag seiner Regelleistung entnehmen, so dass sein soziokulturelles Existenzminimum gegenwärtig nicht sichergestellt ist.
Der Antragsteller hat auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Er hat nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage einen Anspruch auf Erteilung der Zusicherung zu den Aufwendungen für die Unterkunft F. in K ...
§ 22 Abs. 2 Sozialgesetzbuch - Zweites Buch (SGB II) lautet:
Vor Abschluss eines Vertrages über eine neue Unterkunft soll der erwerbsfähige Hilfebedürftige die Zusicherung des für die Leistungserbringung bisher örtlich zuständigen kommunalen Trägers zu den Aufwendungen für die neue Unterkunft einholen. Der kommunale Träger ist nur zur Zusicherung verpflichtet, wenn der Umzug erforderlich ist und die Aufwendungen für die neue Unterkunft angemessen sind; der für den Ort der neuen Unterkunft örtlich zuständige kommunale Träger ist zu beteiligen.
Der Umzug des Antragstellers erforderlich. Ob ein Umzug erforderlich ist, bestimmt sich danach, ob für ihn ein plausibler, nachvollziehbarer und verständlicher Grund vorliegt, von dem sich auch ein Nichthilfeempfänger leiten lassen würde (Berlit in LPK-SGB II, § 22 Rn. 76). Der Antragsteller ist aufgrund persönlicher Umstände aus seiner Wohngemeinschaft ausgezogen. Er hat glaubhaft vorgetragen, dass er es als unzumutbar empfand, weiterhin in der Wohngemeinschaft zu wohnen. Hierbei dürfen an die Erforderlichkeit keine überhöhten Anforderungen gestellt werden, etwa dass erst bei nachgewiesenen Straftaten innerhalb der Wohngemeinschaft ein Umzug erforderlich wird. Das Zusammenleben in einer Wohngemeinschaft ist von besonderer räumlicher Nähe geprägt. Ein geordnetes Zusammenleben zwischen den Mitbewohnern ist daher erforderlich, um die eigene Privatsphäre zu schützen. Wenn es hingegen - wie vom Antragsteller vorgetragen - zu Übergriffen kommt, ist die Unverletzlichkeit der Intimsphäre nicht mehr gewährleistet. In solchen Fällen ist ein Umzug erforderlich. Dabei ist auch zu beachten, dass der Antragsteller nicht auf den Auszug in eine andere Wohngemeinschaft verwiesen werden kann. Dies hat die Antragsgegnerin vorliegend auch nicht gefordert. Sie hat die Angemessenheit der Wohnung im F. zunächst anerkannt.
Denn es gehört zum soziokulturellen Existenzminimum, als alleinstehender Mensch eine eigene Wohnung zu bewohnen. Der Antragsteller hat seit 2003 auf dieses Recht verzichtet und unterhalb des soziokulturellen Existenzminimums gewohnt. Dies darf nicht dazu führen, dass ihm nun der Auszug aus der Wohngemeinschaft verwehrt wird. Vielmehr ist § 22 Abs. 2 SGB II im Lichte des grundrechtlich geschützten Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit aus Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz, zu dem auch das Recht auf Privatsphäre gehört, auszulegen. Die Anforderungen an die Erforderlichkeit eines Umzuges aus einer Wohngemeinschaft müssen im Sinne dieses Grundrechts ausgelegt werden. Die vom Antragsteller vorgetragenen Gründe belegen hinreichend, dass er sich in seiner Privatsphäre angegriffen fühlte und dass hierfür auch objektive Gründe vorlagen.
Die neue Unterkunft ist auch angemessen. Dies hat die Antragsgegnerin im Bescheid vom 28.2.2008 auch zunächst so gesehen. Wenn die Antragsgegnerin im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nunmehr ausführt, die Miete werde ab 1.3.2011 unangemessen sein, und die Zusicherung könne deswegen nicht erteilt werden, so kann dem nicht gefolgt werden. Denn bei dem Arbeitslosengeld II handelt es sich um eine Leistung, die vorübergehend gezahlt werden soll, bis der Antragsteller sich aus eigener Arbeit erhalten kann. Zudem wird die Miete ab 2011 monatlich 257 EUR kalt betragen. Dies ist 1 EUR mehr, als die gegenwärtigen Richtlinien der Antragsgegnerin mit einer maximalen Kaltmiete von 256 EUR als angemessen ansehen. Es ist nicht absehbar, ob diese Richtlinien bis dahin geändert sein werden, so dass auch eine Kaltmiete von 257 EUR in 2011 als angemessen gelten könnte. Jedenfalls ist die Wohnung in den nächsten drei Jahren unstreitig angemessen, so dass die Zusicherung zu erteilen ist (vgl. Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 19.6.2006, Az. S 103 AS 3267/06 ER).
Hieraus folgt, dass die Antragsgegnerin dem Antragsteller seine tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung zu gewähren hat. Falls der Antragsteller sein Warmwasser mit seiner Heizung aufbereitet, ist von den Heizkosten ein Abzug für Warmwasseraufbereitung in Höhe des hierfür vorgesehenen Regelsatzanteils vorzunehmen. Es erscheint darüber hinaus angebracht, darauf hinzuweisen, dass ein Anspruch auf die Übernahme der Kaution nicht besteht, da der Antragsteller diese sich nach seinem eigenen Vorbringen von Freunden geliehen hat. Umzugskosten hat der Antragsteller bislang nicht geltend gemacht.
Die Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Übernahme der ungekürzten Unterkunfts- und Heizkosten ist gem. § 41 Abs. 1 Satz 4 SGB II auf sechs Monate begrenzt worden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz in entsprechender Anwendung. Sie entspricht der Billigkeit, da der Antrag vollen Erfolg hat.