Sozialgericht Braunschweig
Urt. v. 18.06.2008, Az.: S 19 AS 2207/07
Ablehnung der Übernahme einer Nebenkostennachzahlungen wegen Bezahlung derselbigen vor Antragstellung; Erforderlichkeit einer gesonderten Antragstellung i.S.d. § 37 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) zur Übernahme einer Nebenkostennachzahlungen
Bibliographie
- Gericht
- SG Braunschweig
- Datum
- 18.06.2008
- Aktenzeichen
- S 19 AS 2207/07
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2008, 29937
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGBRAUN:2008:0618.S19AS2207.07.0A
Rechtsgrundlagen
- § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II
- § 37 Abs. 2 S. 1 SGB II
Tenor:
Der Bescheid der Beklagten vom 10. Oktober 2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Oktober 2007 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, den Klägerinnen 206,37 Euro zu zahlen. Die Beklagte erstattet den Klägerinnen die notwendigen außergerichtlichen Kosten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Erstattung von Nebenkostennachzahlungen.
Die am 21. Januar 1958 geborene Klägerin zu 1. lebt zusammen mit ihrer minderjährigen Tochter, der Klägerin zu 2., in einer Bedarfsgemeinschaft. Die Klägerinnen beziehen durch die Beklagten seit dem 03. Mai 2005 durchgängig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch - Zweites Buch (SGB II). Am 06. Oktober 2006 beantragte die Klägerin zu 1. u.a. die Übernahme von Mehraufwendungen aufgrund einer Jahresabrechnung ihres Strom- und Gasversorgers und des zuständigen Wasserverbandes. Der Strom- und Gasversorger forderte mit Rechnung vom 19. Juli 2006 für den Abrechnungszeitraum 01. Juli 2005 bis einschließlich 30. Juni 2006 einen Betrag in Höhe von insgesamt 255,83 EUR nach. Der Gasanteil der Jahresrechnung belief sich auf 825,92 EUR; Vorauszahlungen wurden hierauf in Höhe von 704,00 EUR geleistet; die Nachforderung für den Gasverbrauch belief sich auf 121,92 EUR (825,92 EUR abzüglich 704,00 EUR). Mit Rechnung vom 11. September 2006, Fälligkeitstermin am 02. Oktober 2006, forderte der zuständige Wasserversorger für den Zeitraum vom 01. September 2005 bis 31. August 2006 einen Betrag in Höhe von 84,45 EUR nach. Beide Rechnungen bezahlte die Klägerin zu 1. vor Antragstellung am 06. Oktober 2006. Mit Bescheid vom 10. Oktober 2006 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Zur Begründung führte sie aus, dass Leistungen vor Antragstellung nicht erbracht werden könnten. Der Bedarf der Klägerinnen sei bei Antragstellung bereits gedeckt gewesen. Hiergegen legten die Klägerinnen am 16. Oktober 2006 Widerspruch ein. Sie führten aus, ihnen sei unbekannt gewesen, dass sie die Rechnungen nicht vor Antragstellung hätten zahlen dürfen. Zudem hätten sie andere Rechnungen zurückgestellt und nun kein Haushaltsgeld für Lebensmittel mehr zur Verfügung. Die Beklagte wies den Widerspruch der Klägerinnen mit Widerspruchsbescheid vom 29. Oktober 2007 zurück. In ihrer Begründung verwies sie erneut auf die nachträgliche Antragstellung, den Grundsatz "keine Sozialhilfe für die Vergangenheit" und führte ergänzend aus, dass die behauptete Unkenntnis der Klägerinnen nicht zu einem Leistungsanspruch führen könne. Die Klägerinnen haben am 26. November 2007 Klage erhoben.
Die Klägerinnen beantragen,
- 1.
den Bescheid der Beklagten vom 10. Oktober 2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Oktober 2007 aufzuheben und
- 2.
die Beklagte zu verurteilen, ihnen 206,37 EUR zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Außer der Gerichtsakte hat der die Klägerinnen betreffende Verwaltungsvorgang der Beklagten vorgelegen und war Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidungsfindung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Akten sowie die Sitzungsniederschrift vom 18. Juni 2008 ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist begründet.
Die Klägerinnen haben gegenüber der Beklagten einen Anspruch auf Zahlung von 206,37 EUR gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Die Beklagte hat die Übernahme der Nebenkostennachzahlungen in diesem Umfange zu Unrecht abgelehnt. Der Bescheid der Beklagten vom 10. Oktober 2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Oktober 2007 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerinnen in ihren Rechten.
Leistungen für Unterkunft und Heizung werden in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht, soweit diese angemessen sind, § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Die Nachzahlung für Gas in Höhe von 121,92 EUR sowie die Nachzahlung für die Wasserversorgung in Höhe von 84,45 EUR sind als Nebenkosten Kosten der Unterkunft bzw. Kosten der Heizung - die Klägerinnen heizen mit Gas - im Sinne dieser Vorschrift.
Die jeweiligen Abrechnungszeiträume - 01. Juli 2005 bis 30. Juni 2006 hinsichtlich der Gasabrechnung sowie 01. September 2005 bis 31. August 2006 hinsichtlich der Wasserabrechnung - liegen innerhalb des Zeitraumes des durchgängigen Leistungsbezuges der Klägerinnen durch die Beklagte seit dem 03. Mai 2005. Eine nur anteilige Gewährung kommt vorliegend nicht in Betracht; denn die etwaige unangemessene Größe des Eigenheims der Klägerinnen hatte die Beklagte zu keinem Zeitpunkt zum Anlass genommen, zur Senkung der Aufwendungen für Unterkunft und Heizung aufzufordern.
Schließlich steht dem Leistungsanspruch der Klägerinnen § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB II nicht entgegen.
Gemäß § 37 SGB II werden Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende auf Antrag erbracht und nicht für Zeiten vor der Antragstellung. Der Antrag ist keine materiell-rechtlich Anspruchsvoraussetzung, sondern stellt lediglich eine verfahrensrechtliche Obliegenheit dar. Das Stammrecht auf Arbeitslosengeld II entsteht, wenn die Anspruchselemente in § 7 Abs. 1 Satz 1 SGG II erfüllt sind (vgl. Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 08.11.2007, Az.: L 9 AS 67/06, Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 11.03.2008, Az.: L 7 AS 143/07). Weitere Umstände tatsächlicher Art sind nicht erforderlich. § 37 Abs. 1 SGB II stellt lediglich - abweichend von der früheren Regelung im Bundessozialhilfegesetz - klar, dass es sich bei den Leistungen nach dem SGB II um sog. Antragsleistungen handelt. Das bedeutet, dass der Zahlungsanspruch aus dem Stammrecht für die einzelnen Leistungen erst mit einem wirksamen Antrag entsteht. Folgerichtig schreibt § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB II vor, dass - mit Ausnahme der Fallgestaltung in § 37 Abs. 2 Satz 2 SGB II - Leistungen nicht für einen rückwirkenden Zeitraum erbracht werden. Weiteres regelt § 37 SGB II nicht. Dieser Vorschrift ist insbesondere nicht zu entnehmen, dass ein einmal gestellter Antrag je nach Bearbeitungsdauer durch die Beklagte bzw. je nach dem Zeitpunkt der Abgabe der vollständigen Antragsunterlagen seine Wirkung verliert (Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 11.03.2008, Az.: L 7 AS 143/07). Die originär materiellen Anspruchsvoraussetzungen sind in § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II abschließend aufgezählt. Dem SGB II ist nicht zu entnehmen, dass der Anspruch auf Arbeitslosengeld II nur zeitlich befristet eingeräumt wird.
Soweit der Auszahlungsanspruch zeitlich begrenzt wird - § 41 Abs. 1 Satz 4 SGB II -, soll dies eine regelmäßige Überprüfung der Hilfebedürftigkeit in überschaubaren zeitlichen Abständen sicherstellen; zu diesem Zweck kann der SGB II-Träger verlangen, dass die gesamten Anspruchsvoraussetzungen von Neuem belegt und dabei bestimmte Antragsformulare verwendet werden; dass ein neuer Antrag gestellt werden muss, ist aus diesen Vorschriften nicht zu entnehmen; das Bundessozialgericht ist zum Geltungsbereich des Arbeitsförderungsrechts in ständiger Rechtsprechung davon ausgegangen, dass ein wirksam gestellter Antrag auf Arbeitslosenhilfe nach Ablauf des einjährigen Bewilligungszeitraums seine Wirkung nicht verliert, weil es sich im Falle nicht unterbrochener Bedürftigkeit bei Fortbestand der übrigen Anspruchsvoraussetzungen grundsätzlich um einen einheitlichen und fortwährenden Anspruch handelt (vgl. Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 15.01.2008, Az.: L 7 B 243/07 AS).
Die Klägerinnen hatten am 20. bzw. 29. April 2005 erstmalig Leistungen nach dem SGB II beantragt. Fortzahlungsanträge stellten sie u.a. am 11. Oktober 2005, 04. Mai 2006 und 26. Oktober 2006. Die Antragsformulare sind jeweils überschrieben mit "Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem zweiten Buch Sozialgesetzbuch, Arbeitslosengeld II/Sozialgeld". Mit diesen Anträgen wird dem Antragserfordernis des § 37 Abs. 1 SGB II vollumfänglich entsprochen. Die Klägerinnen haben jeweils einen Antrag auf Übernahme ihrer Kosten der Unterkunft und Heizung hierdurch gestellt. Die Nebenkostennachzahlungen fallen hierunter. Einer gesonderten Antragstellung im Sinne des § 37 Abs. 1 SGB II zur Übernahme der Nebenkostennachzahlungen bedurfte es nicht.
Der Bedarf der Klägerinnen ist durch die Abrechnungen während eines laufenden Leistungsbezuges entstanden. Die Klägerinnen waren hilfebedürftig. Dem steht insbesondere nicht entgegen, dass die Klägerin zu 1. die Nachzahlungen vor ihrer Bitte um Kostenübernahme am 06.10.2006 zunächst selbst vornahm. Denn Leistungsempfängern nach dem SGB II wird u.a. ein begrenztes Schonvermögen zugebilligt, welches diese nach freiem Willen verwenden können.
Die Klägerin zu 1. hat nach Ansicht der Kammer vorbildlich gehandelt. Sie fühlte und fühlt sich weiterhin für ihre eigenen Angelegenheiten selbst verantwortlich und ihr ist insbesondere an einer fort geltenden Handlungsautonomie auch in wirtschaftlichen Dingen gelegen. Sie möchte auch trotz des Leistungsbezuges selbständig handeln. Sie legte glaubhaft und nachvollziehbar dar, dass sie davon ausging, auch Nebenkostennachzahlungen zunächst selbständig zahlen zu müssen; schließlich zahle sie ja auch ihre Nebenkosten selbständig und direkt und nicht über die Beklagte. Es ist außerordentlich löblich, dass die Klägerin zu 1. nicht etwa lediglich die Nebenkostenabrechnungen bei der Beklagten eingereicht und sich ihrer Verantwortlichkeit gleichsam entzogen hat; es sind keine Mahnungen, keine Verzugszinsen etc. entstanden. Dieses vorausschauende Verhalten der Klägerin zu 1. entspricht dem Sinn und Zweck des SGB II und ist nicht mit einer restriktiven Auslegung des § 37 SGB II zu vereinbaren. Die Grundsicherung für Arbeitsuchende soll die Eigenverantwortung von erwerbsfähigen Personen stärken, § 1 Abs. 1 Satz 1 SGB II, und nicht behindern bzw. sanktionieren.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG und folgt dem Ausgang des Verfahrens.
Anhaltspunkte, die Berufung zuzulassen, sind für die Kammer nicht ersichtlich, §§ 144 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, § 143 SGG.