Landessozialgericht Niedersachsen
Urt. v. 08.11.2001, Az.: L 8 AL 297/00
Aufwendungen durch Beiziehung eines Bevollmächtigten in einem Vorverfahren; Übernahme von Vorverfahrenskosten; Notwendigkeit der Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren; Anspruch auf Kostenlastentscheidung; Anwendung des § 63 Abs. 1 Satz 1 SGB X
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen
- Datum
- 08.11.2001
- Aktenzeichen
- L 8 AL 297/00
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2001, 15866
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2001:1108.L8AL297.00.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Osnabrück - 14.06.2000 - S 6 AL 211/98
Rechtsgrundlagen
- § 151 Abs. 1 SGG
- § 78 SGG
- § 79 SGG
- § 31 S. 1 SGB X
- § 44 SGB X
- § 63 SGB X
- § 85 Abs. 2 SGG
Prozessführer
B.
Prozessgegner
Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg, vertreten durch den Präsidenten des Landesarbeitsamtes Niedersachsen-Bremen, Altenbekener Damm 82, 30173 Hannover
der 8. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen in Celle
hat auf die mündliche Verhandlung
vom 8. November 2001
durch die Richter
D. - Vorsitzender -, E. und F.
sowie die ehrenamtlichen Richter G. und H.
für Recht erkannt:
Tenor:
Auf die Berufung des Klägers werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Osnabrück vom 14. Juni 2000 und der Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 6. Mai 1998 aufgehoben.
Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger die Kosten des durch die Änderungsbescheide vom 10. März und 21. April 1998 beendeten Widerspruchsverfahrens zu erstatten.
Die Beklagten trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Frage, ob die Beklagte verpflichtet ist, die dem Kläger durch die Beiziehung eines Bevollmächtigten in einem Vorverfahren entstandenen Aufwendungen zu erstatten, die mit 609,77 DM beziffert wurden.
Der im März 1973 geborene Kläger befand sich vom 14. August 1995 bis zum 11. Juni 1997 (durch arbeitsgerichtlichen Vergleich wurde das Ende des Arbeitsverhältnisses auf den 15. Juli 1997 festgelegt) in einem Beschäftigungsverhältnis. Auf seine Meldung vom 16. Juni 1997 erhielt er Arbeitslosengeld (Alg) ab diesem Datum nach einem Bemessungsentgelt von 730,00 DM (Bewilligungsbescheid vom 18. August 1997). Dagegen wandte sich der Kläger, weil nach seiner Ansicht ein höheres Bemessungsentgelt zugrunde zu legen sei. Auf den abschlägigen Widerspruchsbescheid vom 18. September 1997 folgte ein Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Osnabrück (S 4 AL 478/97), welches mit einem Anerkenntnis durch die Beklagte (Arbeitsamt J.) beendet wurde (Schriftsatz vom 9. Januar 1998). Dieses Verfahren betraf den Zeitraum bis zum 7. Oktober 1997.
Aufgrund eines Umzuges des Klägers am 7. Oktober 1997 wurde das Arbeitsamt K. zuständig, welches zunächst mit Bescheid vom 30. Oktober 1997 die Leistungszahlung ab 16. Oktober 1997 fortsetzte. Der Kläger - vertreten durch seinen Prozessbevollmächtigten - legte Widerspruch ein und verwies auf den Rechtsstreit mit dem Arbeitsamt J.. Der Widerspruch vom 5. Dezember 1997 ging am 8. Dezember 1997 bei der Beklagten ein. Diese fragte an, wann der Bescheid vom 30. Oktober 1997 zugestellt worden sei und regte weiterhin die Aussetzung des Widerspruchsverfahrens an, bis über das Klageverfahren vor dem SG Osnabrück entschieden worden sei. Der Kläger äußerte sich insoweit nicht.
Mit Änderungsbescheid vom 10. März 1998 half das Arbeitsamt K. dem Widerspruch insoweit ab, als das Alg ab 16. Oktober 1997 nach einem Bemessungsentgelt von 830,00 DM bewilligt wurde. Das Arbeitsamt K. schloss sich insoweit dem Anerkenntnis des Arbeitsamtes J. an. Der Bescheid enthielt weder einen Hinweis auf eine Verfristung des Widerspruchs noch auf eine Zugunstenentscheidung nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X). Mit weiterem Änderungsbescheid vom 21. April 1998 wurden die bislang unterbliebenen Alg-Zahlungen für den Zeitraum vom 8. bis 15. Oktober 1997 nach einem Bemessungsentgelt von 830,00 DM nachgeholt. Für diesen Zeitraum war vorab kein Alg bewilligt worden, weil der Kläger sich erst am 16. Oktober 1997 nach seinem Umzug erneut beim Arbeitsamt gemeldet hatte.
Mit Widerspruchsbescheid vom 6. Mai 1998 wurde der Widerspruch gegen den Bewilligungsbescheid vom 30. Oktober 1997 - trotz der Abhilfe - als unzulässig verworfen. Dieser Bewilligungsbescheid gelte als am 3. November 1997 zugestellt. Die einmonatige Widerspruchsfrist sei daher am 3. Dezember 1997 abgelaufen, so dass der am 8. Dezember 1997 eingegangene Widerspruch verfristet sei. Wiedereinsetzung könne nicht gewährt werden, weil Entsprechendes nicht beantragt und entsprechende Gründe nicht benannt worden seien. Im Widerspruchsverfahren entstandene notwendige Aufwendungen könnten nicht erstattet werden.
Der Kläger hat am 8. Juni 1998 Klage beim SG Osnabrück erhoben. Er hat vorgetragen, dass die Vorverfahrenskosten seines Prozessbevollmächtigten von der Beklagten zu erstatten seien, da die Beklagte den Widerspruch zu Unrecht als unzulässig verworfen habe. Ein verspäteter Widerspruch müsse nicht zwingend als unzulässig verworfen werden; der Beklagten stehe insoweit eine Ermessensentscheidung zu, die sie nicht getroffen habe. Der Widerspruch sei zu Unrecht in einen Antrag nach § 44 SGB X umgedeutet worden.
Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 14. Juni 2000 abgewiesen und die Berufung zugelassen. Der Widerspruch gegen den Bewilligungsbescheid vom 30. Oktober 1997 sei verfristet und damit unzulässig gewesen. Dies habe der Widerspruchsbescheid vom 6. Mai 1998 zu Recht ausgesprochen, so dass die Übernahme von Vorverfahrenskosten nach § 63 Abs 1 SGB X nicht in Betracht käme, da der Widerspruch keinen Erfolg gehabt habe.
Der Gerichtsbescheid wurde dem Kläger am 23. Juni 2000 zugestellt.
Der Kläger hat am 21. Juli 2000 Berufung eingelegt. Er vertieft sein bisheriges Vorbringen und beantragt sinngemäß,
- den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Osnabrück vom 14. Juni 2000 und den Widerspruchsbescheid vom 6. Mai 1998 aufzuheben,
- die Beklagte zu verurteilen, die Kosten des durch die Änderungsbescheide vom 10. März und 21. April 1998 abgeschlossenen Widerspruchsverfahrens zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt die angegriffenen Entscheidungen.
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und den beigezogenen Verwaltungsvorgang der Beklagten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung waren.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist aufgrund der Zulassung durch das SG statthaft. Sie ist weiterhin in der Frist und Form des § 151 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eingelegt worden.
Die Berufung ist begründet.
Die Beklagte hat dem Kläger die Aufwendungen für den als Bevollmächtigten im Verwaltungsverfahren tätig gewordenen Rechtsanwalt gemäß § 63 SGB X zu ersetzen.
Diese Vorschrift, nach der die Verwaltung demjenigen, der erfolgreich Widerspruch gegen einen Verwaltungsakt eingelegt hat, die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen zu ersetzen hat - § 63 Abs 1 Satz 1 SGB X -, und zwar auch Gebühren und Auslagen eines als Bevollmächtigen notwendig im Vorverfahren tätig gewordenen Rechtsanwalts - § 63 Abs 2 SGB X -, ist nach Wortlaut und nach Stellung im Gesetz - im Fünften Abschnitt über das Rechtsbehelfsverfahren - nur auf einen förmlichen Rechtsbehelf gegen einen Verwaltungsakt (vgl § 62 SGB X), ua auf ein Vorverfahren nach den §§ 78ff SGG anwendbar (vgl Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 12. Dezember 1990 - 9a/9 RVS 13/89 - SozR 3-1300 § 63 SGB X Nr 1).
Der erforderliche Verwaltungsakt und der dazu eingelegte erfolgreiche Widerspruch liegen vor.
Der Bewilligungsbescheid vom 30. Oktober 1997 ist Verwaltungsakt iS des § 31 Satz 1 SGB X. Der dagegen eingelegte Widerspruch vom 5. Dezember 1997 - Eingang bei der Beklagten am 8. Dezember 1997 - war erfolgreich. In dem Widerspruch wies der Prozessbevollmächtigte des Klägers auf den Rechtsstreit vor dem SG Osnabrück mit dem Aktenzeichen S 4 AL 478/97 hin, dem dieselbe Rechtsproblematik wie dem vorliegenden Widerspruch zugrunde lag. Nachdem dort ein Anerkenntnis abgegeben worden war, hat sich die Beklagte durch das Arbeitsamt K. dieser Ansicht angeschlossen und mit Änderungsbescheiden vom 10. März und 21. April 1998 dem Kläger das bewilligt, was er verlangt hatte, nämlich ein höheres Bemessungsentgelt (830,00 DM) und damit höhere Zahlungen und die Nachzahlung für die Zeit vom 8. bis 15. Oktober 1997. Damit war der Widerspruch in vollem Umfang erfolgreich.
Weder aus den Änderungsbescheiden noch aus den Verwaltungsakten der Beklagten geht hervor, dass diese Änderungsbescheide auf der Annahme beruhten, der Kläger habe einen Antrag nach § 44 SGB X gestellt, wie die Beklagte dies nunmehr vorträgt. Diese Erwägung der Beklagten tauchte erst auf, nachdem die Änderungsbescheide erlassen worden waren.
Der Umstand, dass der Widerspruch verspätet eingelegt worden war, steht einem erfolgreichen Widerspruch nicht entgegen. Hinsichtlich der Verfristung des Widerspruchs kann auf die Begründungen des Widerspruchsbescheides und des Gerichtsbescheides verwiesen werden.
Ein verfristet eingelegter Widerspruch hindert die Behörde nicht an einer sachlichen Entscheidung; sie kann über die Verfristung hinwegsehen und den Antragsteller bzw Widerspruchsführer in der Sache bescheiden. Denn der Widerspruchsbehörde steht die Verfahrensherrschaft zu, von dem Fristversäumnis abzusehen, da die Frist ihrem Schutz dient, auf den sie verzichten kann (vgl BSG, Urteil vom 12. Oktober 1979 - 12 RK 19/78 - BSGE Bd 49, Seite 85, 87ff = SozR 1500 § 87 SGG Nr 5; Urteil vom 30. September 1996 - 10 RKg 20/95 - Dienstblatt R 4375a SGG/ § 84 = SGb 1997, Seite 215 = info also 1998, Seite 43; Meyer-Ladewig, Kommentar zum SGG, 6. Auflage 1998, § 84 Rdnr 7).
Die Beklagte handelte daher im Einklang mit dem Recht, als sie, trotz des verspätet eingelegten Widerspruchs, eine Sachentscheidung durch die Änderungsbescheide vom 10. März und 21. April 1998 traf. Folge dieser Entscheidung war eine vollständige Abhilfe des Begehrens des Widerspruchsführers mit den zwingenden Folgen des § 63 SGB X, also Erstattung von Kosten im Vorverfahren.
Da dem Begehren abgeholfen worden war, durfte die Beklagte den Widerspruchsbescheid vom 6. Mai 1998 nicht mehr erlassen. Denn ein Widerspruchsbescheid ergeht gemäß § 85 Abs 2 SGG nur, wenn dem Widerspruch nicht abgeholfen wird. Folglich musste dieser Widerspruchsbescheid aufgehoben werden.
Der Anspruch des Klägers auf eine Kostenlastentscheidung, die die Kosten des durch die Änderungsbescheide vom 10. März und 21. April 1998 abgeschlossenen Widerspruchsverfahrens der Beklagten auferlegt, ergibt sich aus § 63 Abs 3 Satz 1 SGB III. Diese Vorschrift setzt voraus, dass die Behörde nach abgeschlossenem Widerspruchsverfahren eine Kostenentscheidung trifft. Hiernach hilft die Behörde, hält sie einen Widerspruch für begründet, dem Widerspruch ab und entscheidet über die Kosten. Der Inhalt der Kostenlastentscheidung richtet sich nach § 63 Abs 1 SGB X, nach dem der Rechtsträger, dessen Behörde den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen hat, dem erfolgreichen Widerspruchsführer die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen zu erstatten hat, soweit der Widerspruch erfolgreich ist. Der Widerspruch des Klägers vom 5. Dezember 1997 hatte in vollem Umfang Erfolg, wie oben dargelegt wurde. Die Beklagte ist daher gehalten, sich in vollem Umfang die Kosten des Widerspruchsverfahrens selbst aufzuerlegen.
Die Notwendigkeit der Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren folgt aus § 63 Abs 2, Abs 3 Satz 2 SGB X. Ob die Zuziehung eines Bevollmächtigten notwendig war, ist vom Standpunkt einer verständigen Partei aus zu beurteilen; abzustellen ist dabei darauf, ob sich ein vernünftiger Bürger mit gleichem Bildungs- und Erfahrungsstand bei der gegebenen Sach-und Rechtslage eines Rechtsanwalts bedient hätte, was ua dann der Fall ist, wenn es einer Partei nach ihren persönlichen Verhältnissen nicht zuzumuten war, das Vorverfahren selbst zu führen. Angesichts der Vorbildung des Klägers, der zuletzt als Lagerist tätig war, und den nicht einfachen Rechtsfragen aus dem Gebiet des Arbeitsförderungsgesetzes, ist im vorliegenden Fall die Zuziehung eines Rechtsanwalts ohne Weiteres zu bejahen (vgl Roos in von Wulffen, Kommentar zum SGB X, 4. Auflage 2001, § 63 Rdnr 26).
Die aus der Zuziehung eines Rechtsanwaltes herrührenden Aufwendungen hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers im Klagebegründungsschriftsatz vom 1. Oktober 1998 beziffert (609,77 DM). Doch muss der Prozessbevollmächtigte diesen Antrag gegenüber der Beklagten stellen (vgl dazu Roos, aaO, Rdnr 41) gemäß § 63 Abs 3 Satz 1 SGB X, was bislang noch nicht geschehen ist. Diesen Antrag kann der Prozessbevollmächtigte des Klägers stellen, sobald die Entscheidung über die Kostentragungspflicht der Beklag-ten, welche in diesem Urteil ausgesprochen wird, rechtskräftig geworden ist, sofern nicht die Beklagte den Betrag von 609,77 DM anerkennt, wie dies entsprechend in dem Verfahren S 4 AL 478/97 geschehen ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Da der Kläger obsiegt, trägt die Beklagte seine notwendigen außergerichtlichen Kosten.