Landessozialgericht Niedersachsen
Urt. v. 21.11.2001, Az.: L 4 KR 208/00
Erforderlichkeit einer kombinierten kieferchirurgischen und kieferorthopädischen Behandlungsmaßnahme
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen
- Datum
- 21.11.2001
- Aktenzeichen
- L 4 KR 208/00
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2001, 24857
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2001:1121.L4KR208.00.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Stade - 26.06.2000 - AZ: S 1 KR 93/99
Amtlicher Leitsatz
Zur Frage der Erforderlichkeit einer kombinierten kieferchirurgischen und kieferorthopädischen Behandlungsmaßnahme.
Der 4. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen in Celle
hat auf die mündliche Verhandlung vom 21. November 2001
durch
die Richterin Schimmelpfeng-Schütte - Vorsitzende -,
die Richter Wolff und Schreck
sowie die ehrenamtlichen Richter Dumke und Dr Schein
für Recht erkannt:
Tenor:
Das Urteil des Sozialgerichts Stade vom 26. Juni 2000 wird aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Übernahme von Kosten für eine kieferorthopädische Behandlung nach § 29 Abs. 1, § 28 Abs. 2 Satz 7 Fünftes Sozialgesetzbuch (SGB V).
Die im Jahre 1963 geborene Klägerin ist bei der Beklagten krankenversichert. Sie litt an einer schweren skelettalen Dysgnathie mit fortschreitender Kiefergelenksarthrose. Mit Schreiben vom 28. August 1998 beantragte sie die Übernahme der Kosten für die Behandlung ihrer Erkrankung. Sie fügte dem Schreiben den Arztbrief des Zahnarztes D. vom 28. August 1998 bei. Im Antragsverfahren überreichte sie außerdem den privatzahnärztlichen kieferorthopädischen Behandlungsplan der Kieferorthopädin E. vom 16. September 1998 mit einem Gesamtkostenbetrag von 8.853,23 DM.
Mit Bescheid vom 29. September 1998 lehnte die Beklagte den Antrag auf Kostenübernahme ab. Nach § 29 SGB V bestehe Anspruch auf kieferorthopädische Behandlung für Erwachsene lediglich bei den Kieferanomalien, die kombinierte kieferchirurgische und kieferorthopädische Behandlungsmaßnahmen erforderten. Mit ihrem Widerspruch machte die Klägerin geltend, ihr erster Kieferorthopäde F. habe ihr dringend zu einer kieferchirurgischen Versorgung geraten. Bei dieser Operation hätte ihr gesamter Unterkiefer nach vom versetzt werden sollen; anschließend hätte sie eine Zeitlang mit einem Kopfgestell leben müssen. Wie ihr Fachleute bestätigt hätten, sei eine solche Operation sehr riskant, weil der Trigeminus- und der Facialisnerv im Operationsbereich lägen. Würden diese Nerven verletzt, so wäre ihr Gesicht entstellt. Mit Schreiben vom 27. Oktober 1998 bestätigte G., dass bei der Klägerin ein kieferchirurgischer Eingriff möglichst vermieden werden solle. H. bestätigte mit Schreiben vom 29. Oktober 1998, dass die geplante kieferorthopädische Behandlung einem chirurgischen Eingriff vorzuziehen sei. Die Beklagte holte daraufhin eine gutachterliche Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung, Kieferorthopäde I., vom 22. Januar 1999 ein, in der neben rechtlichen Ausführungen festgestellt wird, dass die Befundunterlagen der Kieferorthopädin G. die Diagnose des Behandlungsplanes bestätigen würden. Mit Widerspruchsbescheid vom 8. April 1999 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück.
Die Klägerin hat am 5. Mai 1999 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Bremen erhoben, das die Sache an das örtlich zuständige SG Stade verwiesen hat (Beschluss vom 8. Juni 1999). Mit Urteil vom 26. Juni 2000 hat das SG Stade den Bescheid der Beklagten vom 29. September 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. April 1999 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, die Kosten zu übernehmen, die der Klägerin infolge der Therapie nach dem kieferorthopädischen Behandlungsplan vom 16. September 1998 bei Frau E. tatsächlich entstanden sind: Die Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 und Abs. 4 i.V.m. § 28 Abs. 2 Satz 7 SGB V lägen vor. Die Beklagte habe die Notwendigkeit einer kombinierten kieferchirurgischen und kieferorthopädischen Behandlung nicht mit dem Argument verneinen dürfen, dass die Klägerin einen kieferchirurgischen Eingriff als zu risikoreich abgelehnt habe. Das Erfordernis einer kombinierten kieferchirurgischen und kieferorthopädischen Behandlung sei im Hinblick auf Sinn und Zweck des § 28 Abs. 2 Satz 7 SGB V einschränkend zu interpretieren. Eine kieferchirurgische Maßnahme sei der Klägerin durch ihren früheren Kieferorthopäden F. empfohlen worden. Nach ihrem Vortrag sei es jedoch nachvollziehbar, wenn die Klägerin wegen der Gefahren einer Schädigung des Trigeminus- bzw Facialisnervs einer rein kieferorthopädischen Maßnahme den Vorzug gegeben habe.
Gegen das ihr am 25. September 2000 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 26. September 2000 Berufung eingelegt. Das Bundessozialgericht (BSG) habe in zwei Urteilen vom 9. Dezember 1997 (Az.: 1 RK 11/96 und 1 RK 11/97) bestätigt, dass die Gewährung kieferorthopädischer Leistungen für Erwachsene keiner extensiven Auslegung zugänglich sei. Es komme daher nicht darauf an, ob der bei der Klägerin vorliegende Befund ebenso gravierend sei wie eine Kieferanomalie, die kieferchirurgische Maßnahmen erfordere. Nach der Rechtsprechung des BSG müsse die Operationsbedürftigkeit als ganz konkrete Leistungsvoraussetzung im Einzelfall verstanden werden. Indem die Kieferorthopädin E. einen privatzahnärztlichen und ausschließlich kieferorthopädischen Behandlungsplan aufgestellt habe, habe sie zu erkennen gegeben, dass die Voraussetzungen für eine Kostenübernahme durch die Beklagte nicht erfüllt seien.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Stade vom 26. Juni 2000 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Es sei nicht entscheidend, ob die Kieferorthopädin E. die Behandlung privatärztlich durchgeführt habe. Da die Beklagte einen vertragsärztlichen Behandlungsanspruch verneint habe, sei sie - die Klägerin - gezwungen gewesen, die notwendige Behandlung privatärztlich durchzuführen. Entgegen der Auffassung der Beklagten sei ein Kostenübernahmeanspruch sehr wohl gegeben. Das ergebe sich schon daraus, dass in den Gesetzesmaterialien zu § 28 Abs. 2 Satz 7 SGB V gerade auch die skelettale Dysgnathie als schwere Kieferanomalie aufgeführt sei. Der Gesetzgeber sei also selbst davon ausgegangen, dass für diese Erkrankung grundsätzlich eine kombinierte chirurgische und kieferorthopädische Therapie erforderlich sei. Die Klägerin hat den Brief der Kieferorthopädin (J.) vom 20. November 2001 vorgelegt. J. führt darin aus, es sei eine kieferorthopädische/kieferchirurgische Behandlung erforderlich gewesen.
Der Senat hat durch seine Vorsitzende am 27. Februar 2001 einen Erörterungstermin durchgeführt. Er hat sodann Befundberichte beigezogen von der Kieferorthopädin E. vom 24. April 2001 und von dem Zahnarzt D. vom 2. Mai 2001.
Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts, des Ergebnisses der Beweisaufnahme und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Prozessakte des ersten und zweiten Rechtszuges und der Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist zulässig
Sie ist auch begründet. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 29. September 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. April 1999 ist rechtmäßig. Der Klägerin steht kein Anspruch auf Kostenübernahme für die kieferorthopädische Behandlung durch die Kieferorthopädin E. nach § 29 Abs. 1, § 28 Abs. 2 Satz 7 SGB V zu.
Nach § 29 Abs. 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf kieferorthopädische Versorgung in medizinisch begründeten Indikationsgruppen, bei denen eine Kiefer- oder Zahnfehlstellung vorliegt, die das Kauen, Beißen, Sprechen oder Atmen erheblich beeinträchtigt oder zu beeinträchtigen droht. Nach § 28 Abs. 2 Satz 6 SGB V gehört die kieferorthopädische Behandlung von Versicherten, die zu Beginn der Behandlung das 18. Lebensjahr vollendet haben, nicht zur zahnärztlichen Behandlung. Dies gilt gemäß § 28 Abs. 2 Satz 7 SGB V nicht für Versicherte mit schweren Kieferanomalien, die ein Ausmaß haben, das kombinierte kieferchirurgische und kieferorthopädische Behandlungsmaßnahmen erfordert. Diese Voraussetzungen liegen bei der Klägerin nicht vor.
Bei Beginn der kieferorthopädischen Behandlung - im Herbst 1998 - hatte die 1963 geborene Klägerin das 18. Lebensjahr bereits vollendet. Damit hat sie einen Anspruch auf kieferorthopädische Behandlungsmaßnahmen lediglich unter der Voraussetzung des § 28 Abs. 2 Satz 7 SGB V.
Der Klägerin ist darin beizupflichten, dass ihre schwere skelettale Dysgnathie mit fortschreitender Kiefergelenksarthrose eine schwere Kieferanomalie im Sinne des § 28 Abs. 2 Satz 7 Halbsatz 1 SGB V ist. Das belegen die Gesetzesmaterialien zu § 28 Abs. 2 SGB V (vgl. BT-Drucks. 12/3608 S 79).
Nach § 28 Abs. 2 Satz 7 Halbsatz 2 SGB V muss die schwere Kieferanomalie jedoch außerdem ein solches Ausmaß haben, das kombinierte kieferchirurgische und kieferorthopädische Behandlungsmaßnahmen erforderlich macht. Der Senat braucht im vorliegenden Fall nicht zu entscheiden, ob ein Anspruch eines Versicherten gegen die gesetzliche Krankenkasse stets voraussetzt, dass die Behandlung auch kieferchirurgische Maßnahmen umfaßt. Hieran könnten sich Bedenken aus dem in Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz garantierten Selbstbestimmungsrecht des Patienten ergeben. Wäre nämlich ein chirurgischer Eingriff zur Heilung zwar notwendig, dem Versicherten wegen eines damit verbundenen ernstzunehmenden Gesundheitsrisikos aber nicht zumutbar, so erscheint es problematisch, jeglichen Leistungsanspruch zu verneinen. Denn in diesem Falle würde der Versicherte mittelbar, und zwar durch wirtschaftlichen Druck, zu einem ihm an sich unzumutbaren Eingriff genötigt. Diese verfassungsrechtliche Problematik stellt sich nach Auffassung des Senats jedoch nur, wenn die kombinierte kieferchirurgische und kieferorthopädische Behandlung tatsächlich notwendig ist und nicht durch eine gleichwertige kieferorthopädische Behandlung ersetzt werden kann. So liegt der Fall jedoch hier.
Für die Behandlung der schweren Kieferanomalie der Klägerin war keine kombinierte kieferchirurgische und kieferorthopädische Behandlung notwendig. Das ergibt sich zur Überzeugung des Senats aus den Befundberichten der behandelnden Kieferorthopädin E. vom 24. April 2001 und des Zahnarztes D. vom 2. Mai 2001. Die Frage des Senats, ob zur Behandlung der Klägerin eine kombinierte kieferchirurgische und kieferorthopädische Behandlung erforderlich gewesen ist, hat die behandelnde Kieferorthopädin E. mit dem Hinweis beantwortet, dass zur Therapie der skelettalen Dysgnathie eine kombinierte kieferorthopädische/kieferchirurgische Behandlung "angeraten" war. Der behandelnde Zahnarzt D. hat ausgeführt, die kombinierte kieferchirurgische und kieferorthopädische Behandlung sei "vorgeschlagen" worden. Auf die Frage, welche Nachteile die kieferorthopädische Behandlung der Klägerin gegenüber der an sich erforderlichen kombinierten kieferchirurgischen und kieferorthopädischen Behandlung gehabt habe, hat E. bekundet, dass Nachteile der kieferorthopädischen Behandlung gegenüber der kombinierten kieferorthopädischen/kieferchirurgischen Behandlung für die Patientin "nicht" bestehen. H. hat sich zu dieser Frage nicht geäußert. Diese Bekundungen stehen mit den Äußerungen von G. und H. im Antragsverfahren in Einklang. G. hat am 27. Oktober 1998 bestätigt, dass bei der Klägerin eine kieferorthopädische Behandlung "angezeigt" sei; ein kieferchirurgischer Eingriff "sollte somit möglichst vermieden werden". H. führt am 29. Oktober 1998 aus: In diesem speziellen Fall ist die geplante kieferorthopädische Behandlung einem chirurgischen Eingriff "vorzuziehen." Aufgrund dieser Bekundungen hat der Senat nicht die Überzeugung gewinnen können, dass für die Klägerin eine kombinierte kieferchirurgische und kieferorthopädische Behandlung notwendig gewesen ist. Vielmehr ergibt sich aus den ärztlichen Äußerungen eindeutig, dass die kieferorthopädische Behandlung ausreichte, um den beabsichtigten Behandlungserfolg zu erzielen.
An dieser Überzeugung vermag der von der Klägerin vorgelegte Brief der Kieferorthopädin J. vom 20. November 2001 nichts zu ändern. Zwar bestätigt die Kieferorthopädin J. nun, dass eine kombinierte Behandlung "erforderlich" gewesen ist. Vor dem Hintergrund ihrer früheren schriftlichen Äußerungen vom 27. Oktober 1998 und 24. April 2001 und der Kenntnis der Rechtslage durch das ausführliche Rechtsgespräch im Erörterungstermin kann der Brief vom 20. November 2001 aber nicht überzeugen.
Nach alledem hatte die schwere Kieferanomalie der Klägerin damit kein Ausmaß, das eine kombinierte kieferchirurgische und kieferorthopädische Behandlung erforderte. Die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 Satz 7 SGB V liegen somit nicht vor.
Soweit die Klägerin meint, § 28 Abs. 2 Satz 7 SGB V sei wegen Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes des Art. 3 Abs. 1 GG verfassungswidrig, verweist der Senat auf das Urteil des Bundessozialgerichts vom 9. Dezember 1997 - 1 RK 11/97 - in SozR 3-2500 § 28 Nr. 3 (kritisch besprochen von Mrozynski in SGb 1999, 209 ff.).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Zur Zulassung der Revision besteht kein gesetzlicher Grund (§ 160 Abs. 2 Nrn 1 und 2 SGG).