Landessozialgericht Niedersachsen
Urt. v. 21.03.2002, Az.: L 8 AL 457/01

Anspruch auf Erstattung der in einem Vorverfahren entstandenen Aufwendungen nach § 63 Sozialgesetzbuch X (SGB X); Erfolgreicher Widerspruch gegen einen Verwaltungsakt; Notwendigkeit der Zuziehung eines Bevollmächtigten nach § 63 Abs 2 SGB X; Sich selbst vertretender Rechtsanwalt; Unzumutbarkeit des beistandslosen Führens des Vorverfahrens; Gesichtspunkt der Waffengleichheit; Klärung einer einfachen Tatfrage

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen
Datum
21.03.2002
Aktenzeichen
L 8 AL 457/01
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2002, 41600
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2002:0321.L8AL457.01.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Osnabrück - 28.08.2001 - AZ: S 4 AL 30/98

Prozessführer

Rechtsanwälte A.

Rechtsanwältin B.

Prozessgegner

Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg, vertreten durch den Präsidenten des Landesarbeitsamtes Niedersachsen-Bremen, Altenbekener Damm 82, 30173 Hannover

hat der 8. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen

ohne mündliche Verhandlung am 21. März 2002

durch den Richter C. als Einzelrichter

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 28. August 2001 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten um die Frage, ob die Beklagte verpflichtet ist, die den Klägern in einem Vorverfahren entstandenen Aufwendungen zu erstatten.

2

Die Kläger sind Rechtsanwälte, die eine Rechtsanwaltspraxis in E. betreiben. Mit Antrag vom 2. Oktober 1997 begehrten sie eine Beschäftigungshilfe für eine Langzeitarbeitslose, die ab 6. Oktober 1997 als Rechtsanwaltsgehilfin bei ihnen tätig wurde. Es war eine monatliche Bruttoarbeitsvergütung von 1.900,00 DM vereinbart. Mit Bescheid vom 4. November 1997 wurde der Antrag auf Gewährung einer Beschäftigungshilfe gemäß den Richtlinien des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung zur Durchführung der ”Aktion Beschäftigungshilfen für Langzeitarbeitslose 1995 bis 1999” der Bundesregierung abgelehnt, weil weder das tarifliche noch das ortsübliche Arbeitsentgelt gezahlt werde. Das ortsübliche Anfangsgehalt für Rechtsanwaltsgehilfinnen betrage 2.100,00 DM monatlich. Das Arbeitsentgelt für die angestellte Arbeitnehmerin sei deutlich geringer. Die Kläger legten Widerspruch mit der Begründung ein, dass im F. Raum Rechtsanwalts- und Notariatsangestellte für ein Bruttoanfangsgehalt von ca 1.800,00 DM bis ca 2.110,00 DM beschäftigt würden. Die angestellte Langzeitarbeitslose sei lediglich Rechtsanwaltsgehilfin.

3

Mit Bescheid vom 14. November 1997 half die Beklagte dem Widerspruch ab und gewährte vom 6. Oktober 1997 bis 5. Oktober 1998 eine Beschäftigungshilfe. Weiterhin wurde in diesem Bescheid geregelt, dass die im Widerspruchsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen erstattet würden. Allerdings seien die Gebühren und Auslagen des Bevollmächtigten nicht erstattungsfähig. Die Kläger seien im Widerspruchsverfahren als Arbeitgeber in eigener Sache tätig geworden. Gegen die letztgenannte Regelung legten die Kläger Widerspruch mit der Begründung ein, dass ein sich selbst vertretender Rechtsanwalt Anspruch auf Ersatz von Gebühren in derselben Höhe wie bei der Vertretung Dritter habe. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten an sich sei nötig gewesen. Jeder andere Arbeitgeber hätte bei dem angefochtenen Ablehnungsbescheid vom 4. November 1997 entweder das Arbeitsverhältnis mit der Arbeitnehmerin gekündigt oder sich eines Rechtsanwaltes bedient. Mit Widerspruchsbescheid vom 29. Dezember 1997 wurde der Widerspruch als unbegründet zurückgewiesen. Die Heranziehung eines Rechtsanwalts im Vorverfahren sei in der Regel notwendig, wenn der Widerspruchsführer selbst das Verfahren nicht führen könne. Im Regelfall sei davon auszugehen, dass ein rechtsunkundiger Bürger ohne rechtskundigen Rat in der Regel nicht imstande sein werde, seine Rechte ausreichend zu wahren und deshalb berechtigt sei, einen Rechtsanwalt hinzuzuziehen. Nicht anzuerkennen seien die Aufwendungen eines Rechtsanwalts, soweit er in eigener Sache tätig werde. Die Widerspruchsführer seien Arbeitgeber der Arbeitnehmerin. Damit dürfte feststehen, dass die Widerspruchsführer als Arbeitgeber in eigener Sache tätig geworden seien. Dafür scheide eine Kostenerstattung gemäß § 63 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) aus.

4

Die Kläger haben am 21. Januar 1998 Klage beim Sozialgericht (SG) Osnabrück erhoben und vertiefend ausgeführt, dass auch ein sich selbst vertretender Rechtsanwalt Kostenerstattung im Vorverfahren verlangen könne. Die Zuziehung eines Rechtsanwaltes in diesem Vorverfahren sei nötig gewesen.

5

Das SG hat der Klage mit Urteil vom 28. August 2001 stattgegeben und die Beklagte verurteilt, die von den Klägern geltend gemachten Kosten im Vorverfahren zu erstatten. Zur Begründung hat es sich auf die Vorschrift des § 91 Abs 2 Satz 4 Zivilprozessordnung (ZPO) berufen, die einen allgemeinen Rechtsgrundsatz enthalte. Die Berufung hat das SG zugelassen.

6

Das Urteil wurde der Beklagten am 14. September 2001 zugestellt.

7

Die Beklagte hat am 10. Oktober 2001 Berufung eingelegt und zur Begründung ausgeführt, dass gemäß § 63 Abs 2 SGB X die Rechtsanwaltskosten nicht erstattungsfähig seien. Einerseits sei eine Kostenerstattung für das Vorverfahren ausgeschlossen, wenn ein Rechtsanwalt -wie vorliegend -in eigener Sache tätig werde. Andererseits sei die Hinzuziehung eines Rechtsanwaltes nicht nötig gewesen, weil sich ein vernünftiger Bürger mit gleichem Bildungs- und Erfahrungsstand bei hier vorliegenden Sach- und Rechtslage eines Rechtsanwaltes nicht bedient hätte.

8

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 28. August 2001 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

9

Die Kläger beantragen,

die Berufung zurückzuweisen.

10

Sie verteidigen das angefochtene sozialgerichtliche Urteil und tragen weiterhin vor, dass bei der vorliegenden Fallgestaltung die Zuziehung eines Rechtsanwaltes nötig gewesen sei.

11

Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch den Berichterstatter als Einzelrichter zugestimmt.

12

Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und den beigezogenen Verwaltungsvorgang der Beklagten verwiesen, die Gegenstand der Entscheidungsfindung waren.

Entscheidungsgründe

13

Die Berufung ist zulässig.

14

Die Berufung ist aufgrund der Zulassung durch das SG statthaft. Sie ist weiterhin in der Frist und Form des § 151 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eingelegt worden.

15

Die Berufung ist begründet.

16

Die Beklagte hat den Klägern die Aufwendungen gemäß § 63 SGB X nicht zu ersetzen. Das stattgebende sozialgerichtliche Urteil war daher aufzuheben und die Klage abzuweisen.

17

Diese Vorschrift, nach der die Verwaltung demjenigen, der erfolgreich Widerspruch gegen einen Verwaltungsakt eingelegt hat, die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung und Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen zu ersetzen hat § 63 Abs 1 Satz 1 SGB X , und zwar auch Gebühren und Auslagen eines notwendig im Vorverfahren tätig gewordenen Rechtsanwalts § 63 Abs 2 SGB X , ist nach Wortlaut und nach Stellung im Gesetz -im 5. Abschnitt über das Rechtsbehelfsverfahren -nur auf einen förmlichen Rechtsbehelf gegen einen Verwaltungsakt (vgl § 62 SGB X), und ua auf ein Vorverfahren nach den §§ 78ff SGG anwendbar (vgl Bundessozialgericht -BSG -, Urteil vom 12.12.1990 -9a/9 Rvs 13/89 -SozR 3-1300 § 63 SGB X Nr 1).

18

Der erforderliche Verwaltungsakt und der dazu eingelegte erfolgreiche Widerspruch liegen vor. Denn der gegen den Ablehnungsbescheid vom 4. November 1997 eingelegte Widerspruch war erfolgreich, wie sich aus dem Abhilfebescheid vom 14. November 1997 ergibt. Danach hat die Beklagte der Berechnung der Beschäftigungshilfe das Entgelt zugrundegelegt, welches ursprünglich zwischen den Klägern und der Arbeitnehmerin vereinbart war, nämlich ein monatliches Bruttoarbeitsentgelt von 1.900,00 DM.

19

Der Erstattungsanspruch aus § 63 SGB X steht den Klägern allerdings nicht zu, weil die Zuziehung eines Bevollmächtigten nicht notwendig gemäß § 63 Abs 2 SGB X war.

20

Für die Entscheidung des Rechtsstreits spielt es daher keine Rolle, ob der sich selbst vertretende Rechtsanwalt überhaupt Kostenerstattung verlangen kann (vgl dazu Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 16.10.1980 -8 C 10.80 -BVerwGE 61, Seite 100, wonach Gebühren und Auslagen eines im Vorverfahren sich selbst vertretenden Rechtsanwalts erstattungsfähig sind, wenn die Beiziehung eines Rechtsanwalts an sich notwendig war ; Olbertz in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, Kommentar zur VwGO, Loseblattsammlung, Stand: September 1998 § 162 Rdnrn 75ff mit umfangreichen Nachweisen zum Sach- und Streitstand; Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 17. Februar 2000 -L 16 KR 179/98 -Revision anhängig beim BSG - B 1 KR 21/00 R , wonach der Gebührenanspruch im Rahmen eines Widerspruchsverfahrens des sich selbst vertretenden Rechtsanwalts grundsätzlich nach § 63 Abs 2 SGB X gegeben ist; ähnlich LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 12.04.1995 -L 5 B 264/94 -Neue Zeitschrift für Sozialrecht <NZS> 1996, Seite 95; a. A. Schneider-Danwitz in Gesamtkommentar zum SGB, Loseblattsammlung Stand: März 1989, § 63 SGB X Rdnr 48, wonach der sich selbst vertretende Rechtsanwalt keine Gebührenerstattung für das Vorverfahren verlangen kann mit umfangreichen Nachweisen zum unterschiedlichen Meinungsstand).

21

Einer Entscheidung dieser Rechtsfrage bedarf es nicht, weil die Zuziehung eines Rechtsanwalts an sich bei der vorliegenden Fallgestaltung nicht notwendig war.

22

Die Notwendigkeit der Zuziehung eines Rechtsanwaltes bzw Bevollmächtigten für das Vorverfahren richtet sich nach § 63 Abs 2 SGB X.

23

Ob die Zuziehung eines Rechtsanwaltes notwendig war, ist vom Standpunkt einer verständigen Partei aus zu beurteilen. Notwendig ist die Zuziehung, wenn sie vom Standpunkt eines verständigen, nicht rechtskundigen Beteiligten für erforderlich gehalten werden durfte. Maßstab ist nach herrschender Meinung, ob sich ein vernünftiger Bürger mit gleichem Bildungs- und Erfahrungsstand bei der gegebenen Sach- und Rechtslage eines Rechtsanwaltes bedient hätte. Notwendig ist die Zuziehung eines Rechtsanwaltes, wenn es der Partei nach ihren persönlichen Verhältnissen nicht zuzumuten war, das Vorverfahren selbst zu führen, wobei Erkenntnis- und Urteilsfähigkeit des Bürgers nicht überschätzt werden dürfen.

24

Hierbei ist auch der Gesichtspunkt der Waffengleichheit zu berücksichtigen, wonach der Bürger im Regelfall nicht in der Lage ist, seine Rechte gegenüber der regelmäßig mit Sachverstand ausgestatteten Verwaltung hinreichend zu wahren. Zu berücksichtigen sind weiterhin die immer komplizierter werdenden Rechtsverhältnisse und die weit fortgeschrittene und ständig zunehmende Spezialisierung im Verwaltungs- und Sozialrecht.

25

Daher ist die Zuziehung eines Rechtsanwaltes nicht nur in schwierigen und umfangreichen Verfahren zu bejahen, sondern wird der Regel entsprechen, da der Bürger nur in Ausnahmefällen in der Lage ist, seine Rechte im Widerspruchsverfahren ausreichend zu wahren, jedenfalls dann, wenn der Sachverhalt Tat- und Rechtsfragen aufwirft, die sich nicht ohne Weiteres beantworten lassen. Anders wiederum liegt es bei im Umgang mit Behörden nicht unerfahrenen Personen bei in tatsächlicher Hinsicht einfach gelagerten Fällen, die auch keine wesentlichen rechtlichen Probleme aufwerfen (vgl rechtskräftiges Senatsurteil vom 8. November 2001 -L 8 AL 297/00 -Seite 7 des Urteilsabdrucks; Roos in von Wulffen, Kommentar zum SGB X, 4. Auflage 2001, § 63 Rdnr 26; Kopp/Ramsauer, Kommentar zum VwvfG, 7. Auflage 2000, § 80 Rdnr 47f; Olbertz aaO, § 162 Rdnrn 77ff).

26

Mithin ist abzustellen auf den Bildungs- und Kenntnisstand des Bürgers, die Schwierigkeit und der Bekanntheitsgrad der einschlägigen Rechtsmaterie, die Intensität der Rechtsbeziehung zwischen Bürger und Behörde und die Frage, ob der Schwerpunkt des Streits eher im rechtlichen oder tatsächlichen Bereich liegt. Ist letzteres zu bejahen, ist die Notwendigkeit der Zuziehung eines Rechtsanwaltes eher zu verneinen, als wenn es sich um Rechtsprobleme handelt (vgl Olbertz, aaO, Rdnr 78).

27

Ausgehend von den vorstehend genannten Grundsätzen wäre die Zuziehung eines Rechtsanwaltes im vorliegenden Fall nicht notwendig gewesen. Denn das Widerspruchsverfahren betraf die Klärung einer durchaus einfachen Tatfrage. Streitig war allein der Punkt, ob der Arbeitgeber -die Kläger -das tarifliche bzw ortsübliche Arbeitsentgelt zahlten, und zwar hier das tarifliche bzw ortsübliche Arbeitsentgelt für eine Rechtsanwaltsgehilfin. Um dies aufzuklären bedurfte es nicht der Einschaltung eines Rechtsanwaltes. Es genügte der schlichte Hinweis des Arbeitgebers -der Kläger , dass es sich bei dem vereinbarten Entgelt um das im F. Raum übliche Gehalt für Rechtsanwaltsgehilfinnen handelt. Diesen Hinweis machten die Kläger in ihrem Widerspruch vom 6. November 1997. Dieser Hinweis führte ohne Weiteres zur Abhilfe des Widerspruchs, weil die Beklagte das mitgeteilte Entgelt nunmehr als ortsüblich ansah. Mithin lag dem Rechtsstreit eine Tatfrage zugrunde, die schlicht und einfach zu beantworten gewesen war, so dass die Zuziehung eines Rechtsanwaltes nicht notwendig war.

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Die Zuziehung hätte erst dann für notwendig erachtet werden können, wenn die Behörde auf den Widerspruch die Ortsüblichkeit des vereinbarten Entgelts weiterhin verneint hätte, so dass weitere Ermittlungen notwendig gewesen wären. Erst dann hätte der streitige Sachverhalt nicht sofort eindeutig beantwortbare Tatfragen aufgeworfen, die die Hinzuziehung eines Rechtsanwaltes für das Vorverfahren notwendig machen dürften. Dieser -kompliziertere -Sachverhalt lag nicht vor.

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Mithin war es den Klägern zuzumuten gewesen, dass Widerspruchsverfahren ohne Einschaltung eines (anderen) Rechtsanwaltes zu führen, wie ein ”normaler”Arbeitgeber. Es wird also nicht auf die speziellen Sach- und Rechtskenntnisse der Kläger als Rechtsanwälte abgestellt, sondern allein darauf, dass ein verständiger aber nicht rechtskundiger Arbeitgeber bei der vorliegenden Fallgestaltung die Zuziehung eines Rechtsanwaltes nicht für erforderlich halten durfte.

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

31

Da die Kläger unterliegen, hat die Beklagte Kosten nicht zu erstatten.