Landessozialgericht Niedersachsen
Urt. v. 21.03.2002, Az.: L 8 AL 458/01

Erstattung der im Vorverfahren entstandenen Aufwendungen

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen
Datum
21.03.2002
Aktenzeichen
L 8 AL 458/01
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2002, 41573
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
SG Osnabrück - 28.08.2001 - AZ: S 4 AL 456/99

Prozessführer

Rechtsanwälte A.,

Prozessgegner

Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg,
vertreten durch den Präsidenten des Landesarbeitsamtes Niedersachsen-Bremen, Altenbekener Damm 82, 30173 Hannover,

In dem Rechtsstreit
hat der 8. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen
ohne mündliche Verhandlung am 21. März 2002
durch
den Richter C. als Einzelrichter
für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 28. August 2001 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt sämtliche notwendigen außergerichtlichen Kosten der Kläger.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten um die Frage, ob die Beklagte verpflichtet ist, die den Klägern in einem Vorverfahren entstandenen Aufwendungen zu erstatten.

2

Die Kläger sind Rechtsanwälte, die eine Rechtsanwaltspraxis in E. betreiben. Mit Antrag vom 2. Oktober 1997 begehrten sie eine Beschäftigungshilfe für eine Langzeitarbeitslose, die ab 6. Oktober 1997 als Rechtsanwaltsgehilfin bei ihnen tätig wurde. Dafür wurde letztlich mit Abhilfebescheid vom 14. November 1997 eine Beschäftigungshilfe vom 6. Oktober 1997 bis 5. Oktober 1998 bewilligt. Voraussetzung für die Gewährung der Beschäftigungshilfe war, dass das zugrundeliegende Arbeitsverhältnis nicht während der Förderungsfrist bzw der Weiterbeschäftigungsfrist aus Gründen gelöst wird, die der Arbeitgeber zu vertreten hat. Das mit der Arbeitnehmerin abgeschlossene Arbeitsverhältnis wurde während der Weiterbeschäftigungsfrist durch die Kläger zum 31. Januar 1999 gelöst.

3

Die Beklagte forderte mit Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 16. Februar 1999 wegen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses in der Weiterbeschäftigungsfrist einen Teil der Beschäftigungshilfe zurück. Dagegen ließen die Kläger durch eine von ihnen bevollmächtigte Rechtsanwältin Widerspruch einlegen. Zur Begründung des Widerspruchs wurde ausgeführt, dass die Lösung des Arbeitsverhältnisses nicht von den Klägern zu verantworten sei. Die Beendigung des Arbeitsverhältnisses hätte personenbezogene und verhaltensbedingte Ursachen. Diese hätten sich trotz mehrfacher Gespräche mit der Arbeitnehmerin nicht beseitigen lassen. Durch die Arbeitnehmerin habe ein über mehrere Wochen dauerndes Mobbing gegen andere Angestellte der Kanzlei stattgefunden. Alle Versuche, die Arbeitnehmerin mit in einen einvernehmlichen Arbeitsprozess einzubeziehen, seien gescheitert. Eine Weiterbeschäftigung der Arbeitnehmerin wäre daher für alle in der Kanzlei tätigen Mitarbeiter unzumutbar gewesen, dies gelte auch für die Rechtsanwälte in der Kanzlei. Die Beklagte stellte daraufhin weitere Ermittlungen an (Anhörung der Arbeitnehmerin, nochmalige Anhörung der Kläger).

4

Mit Abhilfebescheid vom 2. September 1999 stellte die Beklagte fest, dass die Kläger die Lösung des Beschäftigungsverhältnisses nicht zu vertreten hätten, so dass eine Rückforderung der Beschäftigungshilfe entfalle. Die im Widerspruchsverfahren ggf entstandenen notwendigen Auslagen würden erstattet. Die Gebühren und Auslagen des Bevollmächtigten seien nicht erstattungsfähig. Gegen die letztgenannte Regelung legten die Kläger - wiederum vertreten durch eine Rechtsanwältin - Widerspruch ein. Die Zuziehung eines Rechtsanwaltes sei nötig gewesen, die Qualifikation der Kläger sei ohne Bedeutung. Aufgrund der ursprünglichen Rückforderung der Beschäftigungshilfe hätte ein jeder Arbeitgeber sich eines Rechtsanwaltes bedient. Die Zuziehung sei insbesondere deshalb notwendig gewesen, um bei der Konstellation der Angelegenheit (Mobbing) eine objektive und sachliche Würdigung zu gewährleisten. Mit Widerspruchsbescheid vom 17. September 1999 wurde der Widerspruch als unbegründet zurückgewiesen. Die Zuziehung eines Rechtsanwalts sei nicht notwendig gewesen. Die Kläger - selbst als Rechtsanwälte tätig - wären durchaus in der Lage gewesen, das Vorverfahren selbst durchzuführen.

5

Die Kläger haben am 24. September 1999 Klage beim Sozialgericht (SG) Osnabrück erhoben. Sie haben vertiefend vorgetragen, dass sich bei der gegebenen Lage ein vernünftiger Bürger ebenfalls eines Rechtsanwalts bedient hätte, zumal insbesondere das Thema Mobbing betroffen gewesen sei. Das SG hat der Klage mit Urteil vom 28. August 2001 stattgegeben und die Beklagte verurteilt, die von den Klägern geltend gemachten Kosten im Vorverfahren zu erstatten. Zur Begründung hat es sich auf die Vorschrift des § 91 Abs 2 Satz 4 Zivilprozessordnung (ZPO) berufen, die einen allgemeinen Rechtsgrundsatz enthalte. Die Berufung hat das SG zugelassen. Das Urteil wurde der Beklagten am 14. September 2001 zugestellt.

6

Die Beklagte hat am 10. Oktober 2001 Berufung eingelegt. Sie trägt vor, dass eine Kostenerstattung für das Vorverfahren hier ausgeschlossen sei, weil die Zuziehung eines Rechtsanwaltes nicht notwendig gewesen wäre. Die Kläger wären auch ohne ihre Berufstätigkeit als Rechtsanwälte in der Lage gewesen, Widerspruch gegen den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid einzulegen, diesen zu begründen und zur Sachverhaltsaufklärung beizutragen. Anwaltlichen Beistandes hätten die Kläger nicht bedurft. Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 28. August 2001 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

7

Die Kläger beantragen sinngemäß,

die Berufung zurückzuweisen.

8

Sie verteidigen das angefochtene sozialgerichtliche Urteil und tragen weiterhin vor, dass bei der vorliegenden Fallgestaltung die Zuziehung eines Rechtsanwaltes nötig gewesen sei.

9

Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch den Berichterstatter als Einzelrichter zugestimmt.

10

Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und den beigezogenen Verwaltungsvorgang der Beklagten verwiesen, die Gegenstand der Entscheidungsfindung waren.

Entscheidungsgründe

11

Die Berufung ist zulässig. Die Berufung ist aufgrund der Zulassung durch das SG statthaft. Sie ist weiterhin in der Frist und Form des § 151 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eingelegt worden.

12

Die Berufung ist nicht begründet. Die Beklagte hat den Klägern die Aufwendungen gemäß § 63 SGB X zu ersetzen. Das stattgebende sozialgerichtliche Urteil war daher zu bestätigen und die Berufung zurückzuweisen. Diese Vorschrift, nach der die Verwaltung demjenigen, der erfolgreich Widerspruch gegen einen Verwaltungsakt eingelegt hat, die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung und Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen zu ersetzen hat - § 63 Abs 1 Satz 1 SGB X -, und zwar auch Gebühren und Auslagen eines notwendig im Vorverfahren tätig gewordenen Rechtsanwalts - § 63 Abs 2 SGB X -, ist nach Wortlaut und nach Stellung im Gesetz - im 5. Abschnitt über das Rechtsbehelfsverfahren - nur auf einen förmlichen Rechtsbehelf gegen einen Verwaltungsakt (vgl § 62 SGB X), und ua auf ein Vorverfahren nach den §§ 78ff SGG anwendbar (vgl Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 12.12.1990 - 9a/9 Rvs 13/89 - SozR 3-1300 § 63 SGB X Nr 1).

13

Der erforderliche Verwaltungsakt und der dazu eingelegte erfolgreiche Widerspruch liegen vor. Denn der gegen den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 16. Februar 1999 eingelegte Widerspruch war erfolgreich, wie sich aus dem Abhilfebescheid vom 2. September 1999 ergibt. Danach hat die Beklagte von einer Rückforderung der Beschäftigungshilfe abgesehen und den letzten Teilbetrag der Beschäftigungshilfe in Höhe von 760,00 DM an die Kläger überwiesen.

14

Der Erstattungsanspruch aus § 63 SGB X steht den Klägern zu, weil die Zuziehung einer Rechtsanwältin notwendig gemäß § 63 Abs 2 SGB X war. Für die Entscheidung des Rechtsstreits spielt es keine Rolle, ob der sich selbst vertretende Rechtsanwalt überhaupt Kostenerstattung verlangen kann (vgl dazu die Ausführungen in dem Urteil vom 21.03.2002 - L 8 AL 457/01 -). Denn die Kläger haben sich zur Durchführung des Widerspruchsverfahrens einer Rechtsanwältin bedient, so dass sich hier allein die Frage stellt, ob die Zuziehung eines Rechtsanwalts notwendig war. Dies ist zu bejahen.

15

Die Notwendigkeit der Zuziehung eines Rechtsanwaltes bzw Bevollmächtigten für das Vorverfahren richtet sich nach § 63 Abs 2 SGB X. Ob die Zuziehung eines Rechtsanwaltes notwendig war, ist vom Standpunkt einer verständigen Partei aus zu beurteilen. Notwendig ist die Zuziehung, wenn sie vom Standpunkt eines verständigen, nicht rechtskundigen Beteiligten für erforderlich gehalten werden durfte. Maßstab ist nach herrschender Meinung, ob sich ein vernünftiger Bürger mit gleichem Bildungs- und Erfahrungsstand bei der gegebenen Sach- und Rechtslage eines Rechtsanwaltes bedient hätte. Notwendig ist die Zuziehung eines Rechtsanwaltes, wenn es der Partei nach ihren persönlichen Verhältnissen nicht zuzumuten war, das Vorverfahren selbst zu führen, wobei Erkenntnis- und Urteilsfähigkeit des Bürgers nicht überschätzt werden dürfen.

16

Hierbei ist auch der Gesichtspunkt der Waffengleichheit zu berücksichtigen, wonach der Bürger im Regelfall nicht in der Lage ist, seine Rechte gegenüber der regelmäßig mit Sachverstand ausgestatteten Verwaltung hinreichend zu wahren. Zu berücksichtigen sind weiterhin die immer komplizierter werdenden Rechtsverhältnisse und die weit fortgeschrittene und ständig zunehmende Spezialisierung im Verwaltungs- und Sozialrecht. Daher ist die Zuziehung eines Rechtsanwaltes nicht nur in schwierigen und umfangreichen Verfahren zu bejahen, sondern wird der Regel entsprechen, da der Bürger nur in Ausnahmefällen in der Lage ist, seine Rechte im Widerspruchsverfahren ausreichend zu wahren, jedenfalls dann, wenn der Sachverhalt Tat- und Rechtsfragen aufwirft, die sich nicht ohne Weiteres beantworten lassen. Anders wiederum liegt es bei im Umgang mit Behörden nicht unerfahrenen Personen bei in tatsächlicher Hinsicht einfach gelagerten Fällen, die auch keine wesentlichen rechtlichen Probleme aufwerfen (vgl rechtskräftiges Senatsurteil vom 8. November 2001 - L 8 AL 297/00 - Seite 7 des Urteilsabdrucks; Roos in von Wulffen, Kommentar zum SGB X, 4. Auflage 2001, § 63 Rdnr 26; Kopp/Ramsauer, Kommentar zum VwvfG, 7. Auflage 2000, § 80 Rdnr 47f; Olbertz in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, Kommentar zur VwGO, Loseblattsammlung Stand: September 1998, § 162 Rdnrn 77ff). Mithin ist abzustellen auf den Bildungs- und Kenntnisstand des Bürgers, die Schwierigkeit und der Bekanntheitsgrad der einschlägigen Rechtsmaterie, die Intensität der Rechtsbeziehung zwischen Bürger und Behörde und die Frage, ob der Schwerpunkt des Streits eher im rechtlichen oder tatsächlichen Bereich liegt. Ist letzteres zu bejahen, ist die Notwendigkeit der Zuziehung eines Rechtsanwaltes eher zu verneinen, als wenn es sich um Rechtsprobleme handelt (vgl Olbertz, aaO, Rdnr 78).

17

Ausgehend von den vorstehend genannten Grundsätzen war die Zuziehung einer Rechtsanwältin im vorliegenden Fall notwendig gewesen. Hierbei ist weniger von Belang, ob das Widerspruchsverfahren die Klärung von einfachen oder schwierigen Tat- bzw Rechtsfragen betraf. Letzteres dürfte zu bejahen sein. Maßgeblich ist darauf abzustellen, dass Grundlage des Erstattungsverlangens der Beklagten die Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit der Arbeitnehmerin war, die auf ein gestörtes Betriebsklima zwischen den Klägern als Arbeitgebern und der Arbeitnehmerin zurückzuführen war. Neben tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen betraf die Beendigung des Arbeitsverhältnisses insbesondere auch die persönlichen Beziehungen zwischen der Arbeitnehmerin und dem gesamten Kanzleipersonal einschließlich der Kläger als Rechtsanwälte. Berührt ein Rechtsstreit in dieser Weise nicht nur die rechtlichen, sondern die persönlichen Verhältnisse der Kläger als Arbeitgeber wird ihnen im Regelfall nicht zuzumuten sein, daraus herrührende Rechtsstreite ohne einen Bevollmächtigten zu führen. Denn bei der hier vorliegenden persönlichen Betroffenheit besteht die Gefahr, dass die Kläger nicht mehr unbeeinflusst von dieser persönlichen Wendung des Verfahrens den erforderlichen objektiven und gelassenen Blick auf anzustellende tatsächliche und rechtliche Prüfungen haben. Die subjektive Betroffenheit kann Anlass für die Befürchtung sein, dass sie ihre Angelegenheiten in eigener Sache nicht mehr sachgerecht wahrnehmen. Erst die Zuziehung eines außenstehenden Bevollmächtigten ermöglicht im Regelfall die unbefangene und objektive Betrachtung des Rechtsstreits und der damit zusammenhängenden Fragen, die für eine sachgemäße Wahrnehmung des Widerspruchsverfahrens geboten ist. Mithin war vom Standpunkt eines verständigen Bürgers aus bei der vorliegenden Fallgestaltung die Zuziehung eines Rechtsanwalts für das Vorverfahren als notwendig anzusehen.

18

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Da die Beklagte unterliegt, trägt sie sämtliche notwendigen außergerichtlichen Kosten der Kläger.

19

Die Revision bedarf gemäß § 160 SGG der Zulassung. Sie ist nicht zuzulassen, da weder die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat noch die Entscheidung von oberster gerichtlicher Rechtsprechung abweicht.