Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 10.12.2004, Az.: 9 LA 313/04
Asyl; Ausländer; Beschränkung; Irak; Landesteil; Nordirak; politische Verfolgung; Regime; Regimesturz; Saddam Hussein; Sturz; Verfolgungssituation; Verhältnis; Widerruf; Änderung
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 10.12.2004
- Aktenzeichen
- 9 LA 313/04
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2004, 51035
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 29.09.2004 - AZ: 2 A 42/04
Rechtsgrundlagen
- § 73 Abs 1 S 1 AsylVfG 1992
- § 51 Abs 1 AuslG 1990
- Art 16a Abs 1 GG
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Der Sturz des Regimes von Saddam Hussein stellt eine im Regelfall den Widerruf einer Asylberechtigung bzw. der Feststellung von Abschiebungsschutz rechtfertigende nachträgliche Änderung der Verfolgungsituation im Irak dar. Die Beschränkung der Prüfung der nachträglichen und erheblichen Veränderung der Verhältnisse nur auf einzelne Landesteile (hier auf den Nordirak) ist weder sachlich geboten noch sonst gerechtfertigt (gegen VG Stade, Urt. v. 24.6.2004 - 6 A 804/04).
Gründe
Der Zulassungsantrag des Klägers hat keinen Erfolg. Die geltend gemachten Zulassungsgründe des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG (grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache) und des § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG (Divergenz) führen nicht zur Zulassung der Berufung.
Die mit dem Zulassungsantrag vorrangig geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache besteht nicht. Der aufgeworfenen Frage, „ob einem aus dem Nordirak stammenden Iraker, der in der Zeit nach der Einrichtung der UN-Schutzzone im Jahre 1991 als Asylberechtigter anerkannt worden ist oder dem in der genannten Zeit die Rechtsstellung eines Flüchtlings nach § 51 Abs. 1 AuslG zugesprochen wurde, diese Rechtsposition nach § 73 Abs. 1 AsylVfG widerrufen werden kann, obwohl sich seit 1991 die tatsächlichen Verhältnisse im Nordirak bezogen auf die Frage der Verfolgung durch den irakischen Staat nicht verändert haben“, fehlt die für eine Zulassung erforderliche Klärungsbedürftigkeit. Nicht jede Frage sachgerechter Auslegung und Anwendung einer Rechtsvorschrift oder die Klärung einer Tatsachenfrage muss jeweils erst im einem zugelassenen Berufungsverfahren geklärt bzw. beantwortet werden. Davon kann nach der ständigen Rechtsprechung abgesehen werden, wenn sich die aufgeworfene Frage auf der Grundlage der vorhandenen Rechtsprechung und mit Hilfe der üblichen Regeln sachgerechter Gesetzesinterpretation ohne Weiteres beantworten lässt (u.a. BVerwG, Beschl. v. 20.6.2001 - 4 B 41.01 - NVwZ-RR 2001, 713 = BauR 2002, 1057). Die vom Verwaltungsgericht nach Maßgabe der Umstände des Einzelfalles u.a. auf der Grundlage der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts getroffene Entscheidung ist weder von der Begründung noch vom Ergebnis her zu beanstanden. Ausgangspunkt der rechtlichen Erwägungen des Verwaltungsgerichts ist dabei zunächst die Rechtsprechung des BVerwG (Urt. v. 19.9.2000 - 9 C 12.00 -, DVBl. 2001, 216 = BVerwGE 112, 80), dass der Widerruf einer - rechtmäßigen oder rechtswidrigen - Anerkennung als politisch Verfolgter nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG nur zulässig ist, wenn sich die für die Beurteilung der Verfolgungslage maßgeblichen Verhältnisse nachträglich erheblich geändert haben. Eine Änderung der Erkenntnislage oder deren abweichende Würdigung genügt nicht. Zutreffend hat das Verwaltungsgericht in diesem Zusammenhang auf die Ausführungen im Gesetzesentwurf der Fraktionen der SPD und FDP bei Schaffung des § 16 Abs. 1 AsylVfG 1982, der insoweit im Wesentlichen gleich lautenden Vorgängervorschrift des heutigen § 73 Abs. 1 AsylVfG, hingewiesen, dass dabei der Fall als Widerrufsgrund vor Augen stand, dass „in dem Verfolgungsland ein Wechsel des politischen Systems eingetreten ist, so dass eine weitere Verfolgung nicht mehr zu befürchten ist“ (BT-Drs. 9/875, S. 18).
Das Verwaltungsgericht hat auf der Grundlage der Rechtsprechung des erkennenden Senats (Beschl. v. 30.3.2004 - 9 LB 5/03 -, NVwZ-RR 2004, 614 = Asylmagazin 5/2004, S. 13 = AuAS 2004, 153) eine derartige grundlegende Veränderung der Verfolgungssituation im Irak bejaht. Diese Feststellung ist folgerichtig und weder aus rechtlichen noch aus tatsächlichen Gründen zu beanstanden. Sie deckt sich auch mit dem ein Widerrufsverfahren eines irakischen Staatsangehörigen betreffenden Urteil des BVerwG vom 25. August 2004 (1 C 22.03 - Asylmagazin 11/2004, S. 35 = DVBl 2004, 1440 (Ls)). Dort ist ausgeführt:
"Eine Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht ...... ist aufgrund der zwischenzeitlich eingetretenen Entwicklung der politischen Verhältnisse im Irak entbehrlich. Der Senat kann diese Entwicklung, die in jedem Falle eine zum Widerruf berechtigende und verpflichtende nachträgliche Änderung der maßgeblichen Verhältnisse im Sinne des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG darstellt, selbst abschließend beurteilen. Der Kläger hat bei einer Rückkehr in den Irak inzwischen offenkundig nicht mehr mit politischer Verfolgung zu rechnen. Dies ergibt sich daraus, dass nach den während des Revisionsverfahrens eingetretenen allgemeinkundigen Ereignissen im Irak das Regime von Saddam Hussein durch die amerikanischen und britischen Truppen beseitigt worden ist."
Dass der Sturz des Regimes von Saddam Hussein nach allen vorliegenden Erkenntnissen eindeutig und unumkehrbar ist, und zwar trotz der weiterhin, ja sich noch verstärkenden problematischen Sicherheitslage im Irak, insbesondere im Hinblick auf terroristische Anschläge, entspricht der jüngeren Rechtsprechung des Senats (so der auch vom Verwaltungsgericht zitierte und seinem Urteil zugrunde gelegte Beschl. v. 30.3.2004, aaO). Eine Rückkehr der Baath-Regierung kann nach den derzeit gegebenen Machtverhältnissen und der Offenkundigkeit der veränderten politischen Gegebenheiten nach wie vor als ausgeschlossen bewertet werden. Der Senat folgt damit nicht - ebenso wie das Verwaltungsgericht in dem angegriffenen Urteil - der vom VG Stade in seinem Urteil vom 24.6.2004 - 6 A 804/04 - möglicherweise geäußerten Rechtsansicht, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 AsylVfG nicht vorlägen, weil sich die tatsächliche Situation im Nordirak nach dem Sturz von Saddam Hussein nicht von der derjenigen zu Zeiten seiner Herrschaft unterscheide und dass nach wie vor eine politische Verfolgung durch die irakische Zentralregierung dort nicht zu befürchten sei. Die Beschränkung der Prüfung einer nachträglichen und erheblichen Veränderung der Verhältnisse nur auf einzelne Landesteile wäre weder sachlich geboten noch sonst gerechtfertigt. Die mit dem Zulassungsantrag aufgeworfene Frage lässt sich eindeutig dahin beantworten, dass die Beantwortung der Frage nach einer nachträglichen und erheblichen Veränderung der Verhältnisse im Nordirak jedenfalls nach den derzeitigen Gegebenheiten landesweit zu beantworten ist und sich nicht nur auf die Verhältnisse im Nordirak beschränkt.
Das Verwaltungsgericht weicht auch nicht von dem oben zitierten Urteil des BVerwG vom 19.9.2000 (aaO) ab. Gegenteilig stützt das Verwaltungsgericht sein Urteil gerade auf diese Entscheidung. Einen davon abweichenden Rechtssatz zeigt der Zulassungsantrag auch weder konkret auf noch ist überhaupt eine Abweichung erkennbar.