Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 03.07.2003, Az.: 10 K 488/01
Anspruch auf Zahlung von Kindergeld für den Zeitraum zwischen der Aufnahme der späteren Ehefrau und deren Sohn im Haushalt bis zur Heirat; Vorliegen der Eigenschaft eines Pflegekindes; Nichtbestehen eines Obhuts- und Pflegeverhältnisses zu den leiblichen Eltern oder den einzelnen Elternteilen; Verfassungsmäßigkeit der Nichtgewährung eines Kinderfreibetrages in den Fällen des fortbestehenden Obhuts- und Pflegeverhältnisses
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 03.07.2003
- Aktenzeichen
- 10 K 488/01
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2003, 12813
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:FGNI:2003:0703.10K488.01.0A
Rechtsgrundlagen
- § 63 Abs. 1 S. 1 EStG
- § 62 Abs. 1 EStG
- § 32 Abs. 1 EStG
Fundstellen
- EFG 2003, 1630-1631
- NWB 2003, 3106-3107
Verfahrensgegenstand
Kindergeld vom 01.10.1999 - 31.01.2000 / Einkommensteuer
Das Gericht hatte darüber zu entscheiden, ob der Kläger auch schon in dem Zeitraum zwischen der Aufnahme seiner späteren Ehefrau und deren Sohn in seinem Haushalt bis zur Heirat Anspruch auf Kindergeld hatte. Das Gericht hat festgestellt, dass dieser Anspruch nicht bestand. Es kam für diesen Zeitraum lediglich die Berücksichtigung des Sohnes als Pflegekind in Betracht. Diese Eigenschaft lag jedoch nicht vor, da die gesamte Zeit ein Obhuts- und Pflegeverhältnis zu der leiblichen Mutter bestand. Es reichte hierbei nicht aus, dass der Kontakt zu dem leiblichen Vater nicht mehr vorlag. Aufgrund der Höhe des Kindergeldes war es auch verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass im vorliegenden Fall der Kinderfreibetrag nicht geltend gemacht werden konnte. Die Problematik, dass auch die leibliche Mutter kein Kindergeld erhielt, da sie lediglich eine zeitlich befristete Aufenthaltsbefugnis hatte, ändert nichts an dem Ergebnis. Denn dieses Ergebnis ist nicht Folge einer nicht verfassungskonformen Auslegung des Pflegekindbegriffes, sondern der ausländerrechtlichen Regelung im Einkommenssteuergesetz.
Tatbestand
Streitig ist, ob der Kläger auch schon in dem Zeitraum zwischen der Aufnahme seiner späteren Ehefrau und deren Sohnes in seinen Haushalt bis zur Heirat Anspruch auf Kindergeld hat.
Der Kläger hat nach Scheidung Anfang Dezember 1999 am 29.02.2000 wieder geheiratet. Seine jetzige Ehefrau und deren 1990 geborenen Sohn hatte er bereits Ende Oktober 1999 in seinen Haushalt aufgenommen.
Auf seinen Antrag vom 03.03.2000 gewährte der Beklagte (Landesamt für Bezüge und Versorgung) durch Bescheid vom 09.03.2000 mit Wirkung vom 01.02.2000 Kindergeld für den Sohn. Der Bescheid enthielt folgende(n) Begründung/Hinweis: "Ab Aufenthalt des Kindes in ihrem Haushalt ist die Mutter des Kindes kindergeldberechtigt, da Sie noch nicht verheiratet waren. Das Kindergeld für die Zeit vom Oktober 1999 bis Januar 2000 ist somit von Ihrer Ehefrau beim zuständigen Arbeitsamt zu beantragen. Ich bitte um Bekanntgabe der Kindergeldnummer. Der kinderbezogene Ortszuschlag kann Ihnen erst ab Heirat gewährt werden".
Die Familienkasse des zuständigen Arbeitsamts lehnte einen entsprechenden Antrag der Ehefrau auf Kindergeld für den Zeitraum Oktober 1999 bis Januar 2000 ab und wies den hiergegen eingelegten Einspruch zurück, da die Ehefrau als russische Staatsangehörige bis zur Eheschließung lediglich eine Aufenthaltsbewilligung und erst auf Grund der Eheschließung eine Aufenthaltserlaubnis erhalten habe und deshalb in dem fraglichen Zeitraum nicht anspruchsberechtigt gewesen sei. Die Einspruchsentscheidung enthielt den Hinweis, sollte der Kläger für diese Zeit das Kindergeld beanspruchen, sei der Antrag bei seinem Arbeitgeber zu stellen,
Die hiergegen erhobene Klage (Az.: 9 K 397/00) nahm die Ehefrau nach einem telefonischen richterlichen Hinweis durch den Berichterstatter zurück. Die Klage der Ehefrau habe man, so der Kläger, nach Rücksprache mit dem Berichterstatter zurückgenommen, da sie formelle Fehler enthalten habe. Das Gericht habe ihn veranlasst, den "nicht ordnungsgemäßen aber nachvollziehbaren Antrag formell neu bei der Familienkasse zu stellen".
Sodann beantragte der Kläger bei der Familienkasse des Arbeitsamts das Kindergeld. Diese lehnte den Antrag mit der Begründung ab, für die Festsetzung von Kindergeld für den Kläger sei der Beklagte zuständig. Gegen diesen Bescheid hat der Kläger mit Schreiben vom 14.06.2000 Einspruch eingelegt mit dem Hinweis, er werde wieder das Gericht anrufen, sollte dem Einspruch nicht stattgegeben werden.
Mit Schreiben vom 15.06.2000 beantragte der Kläger erneut beim Beklagten Kindergeld für den genannten Zeitraum.
Mit Schreiben vom 04.09.2000 teilte der Beklagte ihm mit, ein entsprechender Antrag sei bereits mit Bescheid vom 09.03.2000 abgelehnt worden; da keine neuen Tatsachen oder Beweismittel vorlägen, verbleibe es bei dieser Entscheidung.
Hiergegen legte der Kläger - eine Rechtsmittelbelehrung enthielt das Schreiben noch nicht - Widerspruch ein.
Nach erneutem Hinweis auf die Bestandskraft des Bescheides vom 09.03.2000 trug der Kläger vor, mit diesem Bescheid sei über den streitigen Zeitraum noch nicht entschieden worden, da dieser lediglich den Hinweis auf eine anderweitige Zuständigkeit enthalten habe.
Mit Bescheid vom 06.04.01 lehnte der Beklagte die beantragte Festsetzung von Kindergeld für den Zeitraum Oktober 1999 bis Januar 2000 nunmehr mit der Begründung ab, der Sohn der Ehefrau sei in dem streitigen Zeitraum weder leibliches Kind des Klägers (Kind im Sinne des § 32 Abs. 1 Nr. 1 EStG) noch Pflegekind (§ 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG) noch ein in den Haushalt aufgenommenes Kind des Ehegatten (§ 63 Abs. 1 Nr. 2 EStG) gewesen. Pflegekind sei er deshalb nicht, weil das Obhuts- und Pflegeverhältnis zu den Eltern, nämlich zur Mutter, noch fortbestanden habe. Der Einspruch des Kl. blieb ohne Erfolg.
Hiergegen richtet sich die Klage.
Der Kläger ist weiterhin der Meinung, sein - nunmehr - Stiefsohn sei als Pflegekind einzustufen, denn bereits ab Oktober sei ein familienähnliches auf längere Dauer angelegtes Band sowohl zu diesem als auch zur späteren Ehefrau angelegt gewesen. Auf der anderen Seite habe zum Vater des Kindes, der in P. lebe, keinerlei Obhuts- und Pflegeverhältnis mehr bestanden. Es sei auch zu berücksichtigen, dass Mutter und Sohn völlig mittellos und auf seine Unterstützung angewiesen gewesen seien mit der Folge, dass - wirtschaftlich betrachtet - auch zur Mutter ein Obhuts- und Pflegeverhältnis nicht bestanden habe.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
für den Zeitraum Oktober 1999 bis Januar 2000 für den Sohn E. T. Kindergeld in der gesetzlichen Höhe zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er hält aus den Gründen der Einspruchsentscheidung an seiner Auffassung fest.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist unbegründet.
Der Beklagte hat es zu Recht abgelehnt, dem Kläger schon in dem Zeitraum zwischen Aufnahme seiner späteren Ehefrau und deren Sohnes in seinen Haushalt für diesen Kindergeld zu gewähren.
Anspruch auf Kindergeld besteht gemäß §§ 62 Abs. 1, 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 3 EStG für Kinder im Sinne des § 32 Abs. 1 EStG (Nr. 1), für vom Berechtigten in seinen Haushalt aufgenommene Kinder seines Ehegatten (Nr. 2) und vom Berechtigten in seinen Haushalt aufgenommene Enkel (Nr. 3). Gemäß § 32 Abs. 1 EStG sind Kinder im ersten Grad mit dem Steuerpflichtigen verwandte Kinder (§ 32 Abs. 1 Nr. 1 EStG) sowie Pflegekinder (§ 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG).
Im Streitfall kommt nur die Berücksichtigung als Pflegekind in Betracht.
Ein Pflegekind ist nach der Legaldefinition des § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG eine Person, mit der der Steuerpflichtige durch ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band verbunden ist, sofern er sie in seinen Haushalt aufgenommen hat, das Obhuts- und Pflegeverhältnis zu den Eltern nicht mehr besteht und der Steuerpflichtige sie mindestens zu einem nicht unwesentlichen Teil auf seine Kosten unterhält.
Im Streitfall fehlt es an der Voraussetzung, dass ein Obhuts- und Pflegverhältnis zu den Eltern nicht mehr besteht. Denn die Mutter und spätere Ehefrau des Klägers wohnte mit ihrem Kind zusammen in häuslicher Gemeinschaft im Haushalt des Klägers. Beide, der Kläger und die Mutter betreuen und versorgen mithin das Kind gemeinsam.
Insoweit kommt es nicht darauf an, dass zum leiblichen Vater in P. unzweifelhaft und zwischen den Beteiligten unstreitig kein Obhuts- und Pflegeverhältnis mehr besteht. Nach dem Wortlaut und Sinn und Zweck des Gesetzes muss das Obhuts- und Pflegeverhältnis zu beiden Elternteilen abgerissen sein. Die Pflegeeltern müssen für das Kind gleichsam an die Stelle der leiblichen Eltern treten; nur dann lässt sich der Zweck des § 32 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG erreichen, die Kinderfreibeträge in einer den Missbrauch verhindernden Weise möglichst eindeutig zuzuordnen. Deshalb genügt es nicht, wenn das Obhuts- und Pflegeverhältnis nur zu einem Elternteil nicht mehr besteht
(BFH-Urteile vom 20.01.1995 III R 14/94, BFHE 177, 359, BStBl II 1995, 582; vom 19.03.1993 III R 45/91, BFH/NV 1993, 535; vom 22.09.1993 X R 60/91, BFHE 172, 359, BStBl II 1994, 26).
Entgegen der Auffassung des Klägers besteht ein solches Verhältnis zum Kind auch dann, wenn die Eltern oder der Elternteil, mit dem das Kind noch in häuslicher Gemeinschaft lebt, selbst mittellos und auf wirtschaftliche Hilfe Dritter angewiesen ist. Denn Obhut und Pflege sind Fürsorge und Zuwendung tatsächlicher Natur im Sinne eines sich Kümmerns um das Kind, d. h. nicht allein die körperliche Versorgung (Verpflegung, Unterbringung usw.) sondern auch Erziehung und persönliche geistige, seelische und psychische Betreuung. Es kann deshalb nicht darauf ankommen, ob die Person, mit der Kind und Eltern oder ein Elternteil in häuslicher Gemeinschaft leben, die Mittel zum Lebensunterhalt zur Verfügung stellt oder diese beispielsweise durch Bezug von Sozialhilfe gedeckt werden
(so im Ergebnis BFH-Urteil vom 09.03.1989 VI R 94/88, BFHE 157, 66, BStBl II 1989, 680 für den Fall, dass das Kind mit seiner Mutter im Haushalt der Großeltern lebt und diese das Kind pflegen und unterhalten, während die Mutter durch eine Schul- oder Berufsausbildung in der Obhut und Pflege des Kindes beeinträchtigt ist; danach kommt es eben nicht darauf an, ob die Mutter in der wirtschaftlichen Lage ist, selbst den Unterhalt zu erbringen).
Zu einer abweichenden Auslegung von § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG dahin, dass es genügte, wenn lediglich zu einem Elternteil kein Obhuts- und Pflegeverhältnis mehr gegeben ist, besteht wegen des eindeutigen Wortlauts kein Raum. Es liegt auch keine planwidrige Gesetzeslücke vor, die durch eine ergänzende Auslegung zu schließen wäre. Denn im Gegensatz zu der bis einschließlich 1985 geltenden Rechtslage, nach der ein Pflegekind einkommensteuerlich nicht außerhalb der Obhut und Pflege seiner leiblichen Eltern stehen musste, ist dieses Erfordernis durch die Neuregelung ab dem 01.01.1986 ausdrücklich eingeführt worden.
Auch aus verfassungsrechtlichen Gründen ist keine andere Auslegung geboten, obwohl die nunmehr geltende Regelung dazu führt, dass wegen der mit dem Unterhalt des Kindes verbundenen Aufwendungen unter Umständen bei keiner Person eine steuerliche Entlastung oder bei den leiblichen Eltern eine geringere Entlastung eintritt als sie bei dem Steuerpflichtigen gegeben wäre, der geltend macht, das Kind sei sein Pflegekind.
Der Bundesfinanzhof hat sich in der Grundsatzentscheidung vom 09.03.1989 VI R 94/88 (a.a.O.; ebenso BFH-Urteil vom 19.03.1993 III R 45/91, a.a.O.) bereits mit der verfassungsrechtlichen Beurteilung des ab 1986 geltenden steuerrechtlichen Begriffs des Pflegekindes auseinander gesetzt und ausgeführt, dass die Nichtgewährung des Kinderfreibetrages in den Fällen des fortbestehenden Obhuts- und Pflegeverhältnisses verfassungsrechtlich unbedenklich sei, da der Gesetzgeber zugleich mit der damaligen Neufassung des § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG (ab 1986) einen Zuschlag zum Kindergeld nach § 11 a des Bundeskindergeldgesetzes eingeführt habe, der in den Fällen, in denen sich der Kinderfreibetrag bei dem Elternteil nicht oder nur in geringem Umfang auswirke (kein oder nur geringes Einkommen desjenigen, dem der Kinderfreibetrag zusteht) gezahlt werde. Hieran hat sich auf Grund der Neuregelung des Familienleistungsausgleichs mit Wirkung ab dem 01.01.1996 insofern nichts geändert, als grundsätzlich jedenfalls ein Kindergeldanspruch der leiblichen Eltern besteht und ein Kinderfreibetrag nur gewährt wird, wenn er zu einer das Kindergeld übersteigenden steuerlichen Entlastung führt. Die jetzige Höhe des Kindergeldes genügt insoweit den verfassungsrechtlichen Vorgaben zum Familienleistungsausgleich, eines besonderen Erhöhungsbetrags bedarf es deshalb nicht mehr.
Dass im Streitfall - sofern die Entscheidung der Familienkasse des Arbeitsamts, wonach die spätere Ehefrau des Klägers für den hier streitigen Zeitraum keinen Anspruch auf Kindergeld hat, rechtlich zutreffend ist, was hier offen bleiben kann - kindbedingter Aufwand weder steuerlich noch durch Gewährung von Kindergeld ausgeglichen wird, ist für die Auslegung des Pflegekindbegriffs auch im Hinblick auf verfassungsrechtliche Vorgaben ohne Bedeutung. Denn dieses Ergebnis wäre bzw. ist nicht Folge einer nicht verfassungskonformen Auslegung des Pflegekindbegriffs, sondern der Regelung in § 62 Abs. 2 Satz 1 EStG, nach der ein Ausländer nur Anspruch auf Kindergeld hat, wenn er (abgesehen von den weiteren Gewährungstatbeständen in Satz 2 der Vorschrift) im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis und nicht lediglich einer bloßen (zeitlich befristeten) Aufenthaltsbefugnis ist. Die verfassungsrechtliche Frage stellt sich deshalb allein dort
(zu verfassungsrechtlichen Zweifeln hinsichtlich der Regelung in § 62 Abs. 2 Satz 1 EStG siehe BFH-Beschluss vom 13.09.2000 VI B 134/00, BFHE 192, 483, BStBl II 2001, 116 [BFH 07.09.2000 - III R 39/98] - unter Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung - und die beim BFH anhängigen Verfahren VIII R 79/02 und VIII 40/02 sowie beim Bundesverfassungsgericht anhängige Verfahren 1 BvL 3-6, 9, 10/97).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung.