Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 01.07.2003, Az.: 15 K 254/02
Anspruch auf Kindergeld für ein volljähriges behindertes Kind bei Eintritt der Behinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres; Voraussetzungen für eine Verlängerung des Kindergeldanspruchs
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 01.07.2003
- Aktenzeichen
- 15 K 254/02
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2003, 17375
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:FGNI:2003:0701.15K254.02.0A
Verfahrensgang
- nachfolgend
- BFH - 02.06.2005 - AZ: III R 86/03
Rechtsgrundlagen
- § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG
- § 32 Abs. 5 Satz 1 EStG
- § 62 Abs. 1 EStG
- § 63 Abs. 1 S. 1 EStG
- § 63 Abs. 1 S. 2 EStG
Fundstellen
- DStR 2004, X Heft 10 (Kurzinformation)
- DStRE 2004, 322-323 (Volltext mit amtl. LS)
- EFG 2004, 275
Redaktioneller Leitsatz
- 1.
Ein Anspruch auf Kindergeld für ein volljähriges behindertes Kind setzt u.a. voraus, dass die Behinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten ist.
- 2.
Bei Behinderungen, die erst nach Vollendung des 27. Lebensjahres auftreten, kommt ein Anspruch auf Zahlung von Kindergeld nicht in Betracht.
- 3.
Der Zeitraum bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres verlängert sich nicht um den Zeitraum des vom Kind geleisteten Wehrdienstes.
Tatbestand
Streitig ist, ob dem Kläger für seinen am ........1969 geborenen Sohn S. Kindergeld zu zahlen ist.
Der Sohn des Klägers ist nach einem Verkehrsunfall am .......... 1997 mit einem Grad von 100 v.H. behindert. Der vom Versorgungsamt D. ausgestellte Schwerbehindertenausweis vom weist die Merkmale "G", "AG", "H" und "RF" aus. Mit Antrag vom .......2002 beantragte der Kläger Zahlung von Kindergeld für S. Mit Bescheid vom 3. April 2002 lehnte das Arbeitsamt ....... - Familienkasse - den Antrag mit der Begründung ab, dass die Behinderung des Sohnes nicht vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten sei.
Hiergegen wendet sich der Kläger nach erfolglos gebliebenem Einspruchsverfahren mit der Klage. Der Kläger ist der Auffassung, dass der Gewährung von Kindergeld nicht entgegen stehe, dass die Behinderung erst nach Vollendung des 27. Lebensjahres seines Sohnes eingetreten sei. Denn der Sohn habe - was zwischen den Beteiligten unstreitig ist - in der Zeit vom 1. April 1991 bis 31. März 1992 seinen Wehrdienst abgeleistet. Die Altersgrenze von 27 Jahren verlängere sich deshalb um die Dauer des Wehrdienstes.
Der Kläger beantragt,
den Beklagten zu verpflichten, für seinen S. Kindergeld zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist nicht begründet.
Gemäß §§ 62 Abs. 1, 63 Abs. 1 Sätze 1 und 2 i. V. m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG in der Fassung des Familienförderungsgesetzes vom 22. Dezember 1999 besteht ein Anspruch auf Kindergeld für ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten und die Behinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten ist.
Tritt die Behinderung - wie im Streitfall - nach Vollendung des 27. Lebensjahres auf, scheidet ein Anspruch auf Zahlung von Kindesgeld aus. Denn eine Verlängerung der Frist nach § 32 Abs. 5 EStG um den von dem Sohn geleisteten gesetzlichen Grundwehrdienst kommt nicht in Betracht. Dies ergibt sich aus dem eindeutigen Wortlaut des Gesetzes. § 32 Abs. 5 Satz 1 EStG nimmt ausdrücklich nur Bezug auf § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 2 EStG und verlängert den Anspruch auf Kindergeldzahlung nur für arbeitslose Kinder und in Ausbildung befindliche Kinder über das 21. und 27. Lebensjahr hinaus. Für den sich aus§ 32 Abs. 4 Nr. 3 EStG ergebenden Kindergeldanspruch gilt Abs. 5 dagegen nicht.
Eine entsprechende Anwendung dieser Vorschrift im Streitfall scheidet ebenfalls aus. Eine Analogie setzt eine planwidrige Gesetzeslücke voraus. Eine Gesetzeslücke liegt vor, wo das Gesetz, gemessen an seinem eigenen Ziel und Zweck unvollständig, also ergänzungsbedürftig ist und eine Ergänzung nicht einer dem Gesetz gewollten Beschränkung auf bestimmte Tatbestände widerspricht (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 16. März 1994 I R 146/93, BStBl II 1994, 941). Hiervon zu unterscheiden ist der "rechtspolitische Fehler", wenn sich eine gesetzliche Regelung zwar als rechtspolitisch verbesserungsbedürftig, aber nicht als planwidrig, unvollständig und ergänzungsbedürftig erweist (BFH-Beschluss vom 28. Mai 1993 VIII B 11/92, BStBl II 1993, 665).
Nach diesen Grundsätzen liegt eine planwidrige Lücke in der gesetzlichen Regelung nicht vor. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG knüpft die Leistung von Kindergeld an behinderte Kinder an die Voraussetzung, dass die Behinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten ist.
Nach der Rechtsprechung des BFH zu § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG in der Fassung des Jahressteuergesetzes 1996 vom 11. Oktober 1995 bestand auch aufgrund der damaligen gesetzlichen Regelung ein Anspruch auf Kindergeld für ein behindertes Kind nur dann, wenn die Behinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten ist (vgl. BFH-Urteil vom 26. Juli 2001 VI R 56/98 BStBl II 2001, 832). Diese Regelung knüpft an die frühere Sozialrechtsprechung an, wonach ein sozialrechtliches Kindergeld für ein behindertes Kind nur bestand, wenn die Behinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten war (Urteile des Bundessozialgerichts - BSG- vom 23. Juni 1977, 8/12 RKg 7/77, BSGE 44,106 [BSG 23.06.1977 - 8 RU 86/76] und vom 14. August 1984 10 RKg 6/83, BSGE 57,108). Diese seinerzeit herrschende Rechtslage ist durch § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG in der hier anzuwendenden Form vom Gesetzgeber ausdrücklich bestätigt worden. So nimmt der in den Deutschen Bundestag eingebrachte Gesetzesentwurf (vgl. Bundestagsdrucksache vom 27.08.1999 14/1513) ausdrücklich Bezug auf die ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum Bundeskindergeldgesetz. Eine Gesetzeslücke dahingehend, dass der Gesetzgeber versehentlich den Zeitraum, in dem die Behinderung eingetreten sein muss, um die Zeit des Grundwehrdienstes oder des Ersatzdienstes nicht verlängert hat, besteht deshalb nicht. Vielmehr war es die rechtspolitische Zielsetzung des Gesetzgebers unabhängig von der Leistung des Wehrdienstes oder des Ersatzdienstes die Zahlung von Kindergeld über das 27. Lebensjahr hinaus an die Voraussetzung zu knüpfen, dass die Behinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten ist.
Da im Streitfall die Behinderung des Sohnes des Klägers nach Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten ist, besteht kein Anspruch auf Zahlung von Kindergeld.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Der Senat hat die Revision gegen dieses Urteil nach§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache zugelassen.