Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 14.03.2003, Az.: 19 UF 35/03
Systematik des § 1671 BGB; Übertragung des alleinigen Sorgerechts; Ausnahmefall der Trennung der Kinder von der elterlichen Familie; Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechtes auf das Jugendamt; Einfluss eines Schulwechsels auf das Kindeswohl
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 14.03.2003
- Aktenzeichen
- 19 UF 35/03
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2003, 32549
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:2003:0314.19UF35.03.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- AG Osterholz-Scharmbeck - 23.12.2002 - AZ: 2 F 460/01
Rechtsgrundlagen
- § 1671 BGB
- § 1666 a BGB
Fundstellen
- FamRZ 2003, 1490-1491 (Volltext mit red. LS)
- OLGReport Gerichtsort 2004, 14-15
- ZFE 2003, 150-151 (Volltext mit red. LS)
Verfahrensgegenstand
Elterliche Sorge
In der Familiensache
hat der 19. Zivilsenat - Senat für Familiensachen - des Oberlandesgerichts Celle
durch
den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Schmitz sowie
die Richter am Oberlandesgericht Noack und Fay
am 14. März 2003
beschlossen:
Tenor:
- 1.
Der Antragsgegnerin wird Prozesskostenhilfe für die Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Osterholz-Scharmbeck vom 23. Dezember 2002 bewilligt Ihr wird Rechtsanwalt Kieber in Osterholz-Scharmbeck beigeordnet.
- 2.
Auf die befristete Beschwerde der Antragsgegnerin und unter Zurückweisung des Antrags des Antragstellers wird der Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Osterholz-Scharmbeck vom 23. Dezember 2002 geändert.
Das alleinige Sorgerecht - unter Einschluss des Aufenthaltsbestimmungsrechtes - für die Kinder xxx geb. am xxx und xxx, geb. am xxx wird der Mutter, xxx, übertragen.
Die Beschwerdeentscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei, außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
Der Geschäftswert für das erstinstanzliche wie auch für das Beschwerdeverfahren wird auf 4.000 EUR festgesetzt.
Gründe
Die befristete Beschwerde ist zulässig, insbesondere rechtzeitig eingelegt, und hat in der Sache Erfolg.
In der angefochtenen Entscheidung wird die Systematik des § 1671 BGB verkannt. Während nach den Absätzen 1 und 2 dieser Vorschrift zunächst über , die etwa erforderliche Auflösung der gemeinsamen elterlichen Sorge zu befinden ist, enthält § 1671 Abs. 3 BGB eine "stille Verweisung" (vgl. Palandt-Diederichsen, BGB, § 1671 Rdn. 19) auf §§ 1666,1666 a BGB. Nach diesen Vorschriften sind bei Gefährdung des Kindeswohls vom Familiengericht geeignete Maßnahmen zur Gefahrenabwehr zu treffen. In der angefochtenen Entscheidung werden beide Entscheidungen, wie die Beschwerdeführerin zu Recht rügt, miteinander vermengt und nicht ausreichend sowie im Ergebnis unzutreffend begründet,
Im Einzelnen:
Nachdem der Antragsteller seinen Antrag auf Übertragung des alleinigen Sorgerechts zurückgenommen hatte, war zunächst über den gegenläufigen Antrag der Antragsgegnerin zu befinden. Das hat das Amtsgericht formal getan, indem es den "Antrag" der Kindesmutter zurückgewiesen hat. Eine Begründung für diese Zurückweisung findet sich jedoch in den Entscheidungsgründen nicht. Es wird nur auf "die Ansicht" der Sachverständigen Dunst Bezug genommen, wonach die Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge auf die Mutter nicht erforderlich sei.
Dem ist zum einen entgegenzuhalten, dass die "Erforderlichkeit kein in § 1671 Abs. 2 Nr. 2 BGB genanntes Kriterium ist; nach dieser Vorschrift hat die Übertragung des alleinigen Sorgerechts vielmehr dann zu erfolgen, wenn diese Maßnahme dem Kindeswohl voraussichtlich am besten entspricht.
Zum anderen hat auch die Sachverständige eine solche Ansicht nirgends aktenkundig gemacht. Sie hat im Gegenteil in ihrem schriftlichen Gutachten (S. 61) ausdrücklich empfohlen, der Antragsgegnerin die alleinige elterliche Sorge zu übertragen. Dieser Ansicht ist auch zu folgen.
Das gemeinsame Sorgerecht kann angesichts der erheblichen Streitereien zwischen den Eltern und der zwischen ihnen bestehenden schweren Spannungen nicht aufrecht erhalten bleiben, weil es, wie man in der Vergangenheit gesehen hat, dem Kindeswohl schadet. >
Der Antragsteller kommt als Inhaber der alleinigen elterlichen Sorge nicht in Betracht. Denn er hat nicht nur seinen eigenen Antrag auf Sorgerechtsübertragung zurückgenommen, sondern auch durch sein Verhalten deutlich gemacht, dass er weder bereit noch in der Lage ist, weiterhin Mitverantwortung für das Wohl der beiden gemeinsamen Kinder zu tragen.
Demgegenüber ist die Antragsgegnerin bereit und - von noch zu erörternden Einschränkungen abgesehen - grundsätzlich auch in der Lage, für die Kinder zu sorgen. Da deren Lebensmittelpunkt zweifellos bei der Mutter liegt, zu der eine innige Beziehung besteht, ist zu erwarten, dass die Auflösung der gemeinsamen elterlichen Sorge und deren Übertragung auf die Antragsgegnerin dem Kindeswohl am besten entspricht.
Demgegenüber ist nicht nachvollziehbar, aus welchem Grund es erforderlich sein soll, dem Jugendamt das Aufenthaltsbestimmungsrecht zu übertragen.
Zum einen ermangelt der angefochtene Beschluss insoweit einer ausreichenden Begründung. Denn wenn das Jugendamt im "Ernstfall" von dem ihm übertragenen Recht Gebrauch machen würde, könnte dies praktisch nur dadurch geschehen, dass den Kindern ein anderer als der von der Mutter bestimmte Aufenthaltsort zugewiesen würde. Denn der Antragsteller kann die Betreuung der Kinder nicht übernehmen. Die Folge wäre eine Trennung der Kinder von der elterlichen Familie, was nach § 1666 a BGB nur in engen Ausnahmefällen zulässig ist. Dass ein solcher Ausnahmefall eintreten könnte, ist aber derzeit weder ersichtlich noch in . den Entscheidungsgründen des angefochtenen Beschlusses erörtert.
Die Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechtes auf das Jugendamt ist auch insofern widersinnig, als die Kinder sich nach wie vor im Haushalt der Antragsgegnerin aufhalten, wo sie auch nach der Vorstellung der Sachverständigen wie auch des Amtsgerichts leben sollen. Verhindert werden soll offensichtlich durch die angefochtene Entscheidung nur, dass die Antragsgegnerin erneut ihren Lebensplan ändert und damit die äußeren Lebensumstände der Kinder nachteilig beeinflusst.
Dieser Vorstellung ist aber entgegenzuhalten, dass es zunächst der Antragsgegnerin freisteht, ihr Leben selbst zu gestalten, und dass jedes Kind in gewissem Umfang das Leben seiner Eltern, von denen es seine Lebensstellung ableitet, teilen muss. Ein Eingreifen des Staates ist nur gerechtfertigt und geboten, wenn die Voraussetzungen der §§ 1666,1666 a BGB vorliegen. Die Grundvoraussetzung, nämlich eine Gefährdung des Kindeswohls, liegt nach übereinstimmender Ansicht nicht schon bei jeder - hier durchaus nicht zu leugnenden - abstrakten Gefährdung vor, sondern erst dann, wenn eine gegenwärtig vorhandene Gefahr die Erwartung begründet, dass bei weiterer unbeeinflusster Entwicklung der Eintritt eines Schadens mit ziemlicher Sicherheit zu erwarten ist (vgl. Palandt-Diederichsen a.a.O., §1666Rdn. 16).
Davon kann unter den derzeit gegebenen Umständen jedoch keine Rede sein; im Gegenteil werden die jetzigen Lebensumstände der Antragsgegnerin von der Sachverständigen wie auch vom Amtsgericht gerade als positive Veränderung angesehen, die insbesondere auch zu einer Verbesserung der schulischen Leistungen Benjamins geführt haben. Ob für den Fall einer Änderung dieser Umstände das Kindeswohl gefährdet werden kann, muss damit einer etwaigen späteren Prüfung vorbehalten bleiben. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass ein bloßer Wechsel der Schule abstrakt keinen Anlass für die Befürchtung bietet, das Wohl des Kindes könne dadurch gefährdet werden; abgesehen davon, dass ein Schulwechsel auch positive Erfahrungen vermitteln kann, gehört ein solcher Wechsel für viele Kinder zur selbstverständlichen Erfahrung.
Abschließend sieht der Senat Veranlassung, die Antragsgegnerin vor etwaigen Missverständnissen zu bewahren. Ihr Erziehungsverhalten weist, wie die Sachverständige mit überzeugender und vom Senat geteilter Begründung ausgeführt hat, schwer wiegende Defizite auf, die eine kontinuierliche Beobachtung der Familie und die Bereitstellung ausreichender Hilfsangebote, ggf. auch die Einrichtung einer Erziehungsbeistandschaft durch das jeweils zuständige Jugendamt, erfordern. Sollten künftig wieder irgendwelche Beeinträchtigungen des Kindeswohls auftreten und die Antragsgegnerin sich weiterhin uneinsichtig zeigen, muss sie damit rechnen, dass bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen der §§ 1666, 1666 a BGB die Fremdunterbringung der Kinder angeordnet wird.
Antragsteller und Jugendamt hatten Gelegenheit, sich im Beschwerdeverfahren zu äußern, haben davon aber keinen Gebrauch gemacht.
Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 30 Abs. 2 und 3,131 Abs. 3 KostO, 13 a Abs. 1 S. 1 FGG.
Streitwertbeschluss:
Der Geschäftswert für das erstinstanzliche wie auch für das Beschwerdeverfahren wird auf 4.000 EUR festgesetzt.
Noack
Fay