Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 20.07.1999, Az.: VII 703/97 Ki
Überschreitung der kindergelschädlichen Einkommensgrenze durch ein Kindeseinkommen; Orientierung des Grenzbetrages am einkommensteuerfreien Existenzminimum; Bestehen einer zu schließenden Gesetzeslücke; Auslegung der Wortwahl der "Einkünfte"; Analogieverbot lediglich im Hinblick auf finanziell belastende Verwaltungsakte
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 20.07.1999
- Aktenzeichen
- VII 703/97 Ki
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1999, 20451
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:FGNI:1999:0720.VII703.97KI.0A
Rechtsgrundlagen
- § 32 Abs. 4 S. 2 EStG
- § 32 a Abs. 1 EStG
Verfahrensgegenstand
Kindergeld 1997
Amtlicher Leitsatz
Die Einkommensgrenze beim Kindergeld ist über den Wortlaut der Regelung "Einkünfte und Bezüge") hinaus - entsprechend dem Gesetzeszweck - auf das "zu versteuernde Einkommen" zu beziehen. Denn der Gesetzgeber hat mit der Grenzziehung den einkommensteuerlichen Grundfreibetrag, damit das objektive und subjektive Nettoprinzip abbilden wollen. Danach ist nicht nur der erwerbssichernde Aufwand (Werbungskosten, Betriebsausgaben), sondern auch der existenzsichernde Aufwand (Sonderausgaben, außergewöhnliche Belastungen) des Kindes zu berücksichtigen.
Der VII. Senat des Finanzgerichts Niedersachsen hat
nach mündlicher Verhandlung
in der Sitzung vom 20. Juli 1999...
für Recht erkannt:
Tenor:
Der Rückforderungsbescheid des Beklagten vom 26. September 1997 in der Fassung des Einspruchsbescheids vom 13. November 1997 wird aufgehoben.
Der Beklagte trägt die Kosten.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der zu erstattenden Kosten abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor entsprechende Sicherheit leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist, ob das Kind des Kl mit seinem Einkommen die kindergeldschädliche Einkommensgrenze des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG überschreitet.
Der Kl bezog im Kalenderjahr 1997 Kindergeld für seinen Sohn A .A, geboren am 24. Mai 1976, befand sich unstreitig (wenigstens) bis einschließlich Juni 1997 in Berufsausbildung. Am 11. Juli 1997 bestand A seine Abschlussrüfung. Er erhielt für die Monate Januar bis Juni 1997 Ausbildungsvergütungen in einer Gesamthöhe von 7.050 DM(1.175 DM × 6); zusätzlich erhielt der Sohn des Kl Urlaubsgeld für das erste Halbjahr 1997 in Höhe von 1.000 DM. In dieser Zeit musste A 2.453 DM Werbungskosten (Kosten u.a. für Berufsfahrten), tragen. Für den Monat Juli 1997 erhielt A von seinem Arbeitgeber, der ihn weiterbeschäftigte, 2.500 DM. Der Beklagte ermittelte hieraus einen anrechenbaren Betrag für den Zeitraum bis einschließlich Juli 1997 in Höhe von 8.097 DM und ging von einem Überschreiten der kindergeldschädlichen Grenze (anteilig 7.000 DM = 7/12 von 12.000 DM) des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG aus. Das gezahlte Kindergeld für Januar bis Juni 1997 in einer Gesamthöhe von 1.800 DM (1.320 DM für A und 480 DM Erhöhungsbetrag für das Kind K) wurde mit Bescheid vom 26. September 1997 zurückgefordert.
Die nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene Klage begründet der Kl im Wesentlichen wie folgt: Auf die Terminierung der Abschlussprüfung im Juli 1997 habe der Sohn A keinen Einfluss gehabt. Die Prüfung hätte auch schon im Juni 1997 stattfinden können. Eine Berufsausbildung im Betrieb des Arbeitgebers habe jedenfalls im Juli 1997 nicht mehr stattgefunden. Entsprechend wurde für Juli 1997 auchkeine Ausbildungsvergütung mehr gezahlt. Folglich läge die Kindergeldberechtigung bis einschließlich Juni 1997 vor, nicht im Juli 1997, so dass Einkommen aus Juli 1997 bezüglich der kindergeldschädlichen Grenze nicht mehr anrechenbar sei. Das danach maßgebliche Einkommen in Höhe von 5.597 DM (Einnahmen 8.050 DM ./. 2.453 DM Werbungskosten) unterschreite die (anteilige) Grenze von 6.000 DM (= 6/12 von 12.000 DM).
Der Kl beantragt sinngemäß,
den Rückforderungsbescheid des Beklagten vom 26. September 1997 in der Fassung des Einspruchsbescheids vom 13. November 1997 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte hält an seiner Rechtsposition fest, wonach das Ende der Ausbildung erst mit dem Bestehen der Abschlussprüfung, hier am 11. Juli 1997, erreicht wird. Die im Monat Juli 1997 erzielten Einkünfte seien deshalb zu berücksichtigen. Es werde dabei nicht verkannt, dass die Berücksichtigung des Monats Juli als Ausbildungsmonat ohne Zweifel zu einer Schlechterstellung des Kl führe. Anders als in § 33 a Abs. 4 Satz 1 EStG, in dem ausdrücklich auf volle Kalendermonate abgestellt werde, fordere der Gesetzgeber in § 32 Abs. 4 Satz 6 EStG das Vorliegen der besonderen Voraussetzungen nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nrn. 1 bis 3, Satz 2 EStG für volle Kalendermonate jedoch nicht.
Dem Gericht hat die Kindergeldakte, die beim Beklagten geführt wird, vorgelegen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist begründet. Der Kl hat Anspruch auf Kindergeld für seinen Sohn A für Januar bis Juni 1997. Der angefochtene Bescheid mit dem der Beklagte das ausgezahlte Kindergeld zurückgefordert hat, ist rechtswidrig. Das Kindeseinkommen überschreitet nicht die für die Gewährung von Kindergeld maßgebliche Einkommensgrenze.
1.
Allerdings folgt der Senat nicht dem Klägervortrag, wonach das Einkommen des Sohnes A für Juli 1997 außer Betracht bleiben müsse. Denn zum einen endet hier die Ausbildung im Juli 1997 mit dem Ablegen der Abschlussprüfung, zweitens ist die Regelung des § 32 Abs. 4 Sätze 6 bis 8 EStG eine Vereinfachungsregelung, die mal zugunsten, mal zuungunsten des Kindergeldberechtigten wirken kann (streitig - vgl. Schmidt/Glanegger, Kommentar zum EStG, 18. Auflage 1999, § 32 Anm. 29 mit weiteren Nachweisen). Gleichwohl ist der Klage aus anderen Gründen stattzugeben.
2.
Die Voraussetzungen für die Gewährung von Kindergeld gemäß § 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 Satz 1 Nr. 2, Abs. 4 Sätze 2, 6 EStG sind erfüllt. A ist das leibliche Kind des K. Er hatte im Streitjahr das 27. Lebensjahr noch nicht vollendetund befand sich in Berufsausbildung. Auch die streitige Einkommensgrenze von 7.000 DM (7/12 von 12.000 DM) wurde nicht überschritten.
Für ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, wird bei Vorliegen der übrigen Voraussetzung Kindergeld gezahlt, wenn das Einkommen (zuzüglich der Bezüge), das zur Bestreitung seines Unterhalts oder seiner Berufsausbildung geeignet ist, im Kalenderjahr 1997 12.000 DM nicht überschreiet. Zwar spricht die einschlägige gesetzliche Regelung in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG nur von "Einkünften und Bezügen". Der Senat ist aber der Auffassung, dass die Einkommensgrenze im Wege der teleologischen Analogie über den Wortlaut der zitierten Regelung hinaus auf das zu versteuernde Einkommen im Sinne der §§ 32 a Abs. 1, 2 Abs. 5 EStG zu beziehen ist, weil der Wortlaut der gesetzlichen Regelung in Bezug auf die Bestimmung der Einkommensgrenze eindeutig hinter dem erklärten Gesetzeszweck zurückbleibt.
a)
Wie sich aus den Gesetzesmaterialien ergibt, orientiert sich der Grenzbetrag von 12.000 DM in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG am einkommensteuerfreien Existenzminimum. So heißt es in der ersten Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zum Jahressteuergesetz 1996 (Bundestags-Drucksache 13/1558, 139, 140):
"Ab eigenen Einkünften und Bezügen des Kindes von 12.000 DM sollen für über 18 Jahre alte Kinder sowohl der Kinderfreibetrag als auch das Kindergeld entfallen, wobei darauf hinzuweisen ist, dass dieser Betrag in etwa dem steuerfreien Existenzminimum des Steuerpflichtigen im Rahmen des Einkommensteuertarifs entspricht. Der Ausschuss macht damit deutlich, dass der Betrag für die Unschädlichkeit der eigenen Einkünfte und Bezüge beim Kinderfreibetrag bzw. Kinderfreibetrag bei künftigen Anpassungen des steuerfreien Existenzminimums ent sprechend zu verändern ist."
Der gesetzgeberische Plan, Kindergeld nur dann für volljährige Kinder zahlen zu wollen, wenn diese bedürftig sind, und die Kindergeld-Bedürfnisgrenze typisierend am einkommensteuerfreien Existenzminimum zu orientieren, ist unter Berücksichtigung der Vorgaben der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Familienexistenzminimum (Kindergeld, Kinder- und Grundfreibeträge) aus den Jahren 1990 und 1992 (BVerfGE 82, 60; 82, 198; 87, 153) sachgerecht (vgl. auch BVerfG BStBl II 1999, 174, 180; BStBl II 199, 182, 188). Der Gesetzeszweck ist auch insoweit durch den Wortlaut des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG umgesetzt worden, als der dort genannte Grenzbetrag in Höhevon 12.000 DM für 1996 und 1997 bis auf wenige DM dem Betrag des einkommensteuerfreien Existenzminimums, dem Grundfreibetrag, für die Jahre 1996 und 1997 entspricht (dazu § 32 a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 EStG: 12.095 DM; vgl. auch die Wortwahl in der Präambel des Familienleistungsausgleichs, § 31 Satz 1 EStG: "Einkommensbetrag"); diese Entsprechung setzt sich planmäßig auch in den Jahren 1998 bis 2002 fort (vgl. §§ 32 Abs. 4 Satz 2, 32 a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 EStG in den verschiedenen Fassungen und die nachstehende Übersicht):
Jahr | kindergeldschädliche Grenze (DM) | Grundfreibetrag (DM) |
---|---|---|
1996 | 12.000 | 12.095 |
1997 | 12.000 | 12.095 |
1998 | 12.360 | 12.365 |
1999 | 13.020 | 13.067 |
2000 | 13.500 | 13.499 |
2001 | 13.500 | 13.499 |
2002 | 14.040 | 14.093 |
Die geringfügigen Betragsabweichungen lassen sich dadurch schlüssig erklären, dass der Kindergeld-Grenzbetrag (auf volle DM) durch zwölf teilbar sein muss (vgl. § 32 Abs. 4 Sätze 6 und 7 EStG).
b)
Dagegen bleibt der Wortlauf des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStGhinter dem Gesetzeszweck insoweit zurück, als der Gesetzgeber statt von "Einkommen" (genauer: von "zu versteuerndem Einkommen") nur von "Einkünften", also von einer rechnerischen Zwischengröße (vgl. Rechenwerk und Begriffsbestimmungen in § 2 Abs. 2 bis 5 EStG), spricht. Der Senat stellt fest, dass hier dem Gesetzgeber die Umsetzung seines eindeutigen Gesetzsplans, nämlich die Anknüpfung an das einkommensteuerliche Existenzminimum, in den Gesetzestext nicht hinreichend gelungen ist. Da sich Gesetzesplan und Gesetzeswortlauf nicht vollumfänglich decken, besteht eine gesetzgeberische Planwidrigkeit, besteht eine Gesetzeslücke, die es zu schließen gilt.
c)
Die vom Gesetzgeber gewollte Grenzziehung in Anlehnung an das einkommensteuerfreie Existenzminimum gebietet die Orientierung an einem wirklichen Nettobetrag, nämlich am Einkommen im Sinne der §§ 32 a Abs. 1, 2 Abs. 4, 5 EStG. Die Bezugnahme auf das "Einkommen" gewährleistet sowohl die Berücksichtigung des objektiven Nettoprinzips (Abzug der Berufsausgaben: Betriebsausgaben und Werbungskosten) als auch des subjektiven Nettoprinzips (Abzug der existenznotwendigen Privatausgaben: Sonderausgaben und außergewöhnliche Belastungen) und damit die Beachtung der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in der Entscheidung zum steuerlichen Existenzminimum aus dem Jahre 1992 (BVerfGE 87, 153; nach Kirchhof, Stbg. 1993, 508, 509, geht sogar der existenzsichernde Aufwand dem erwerbssichernden Aufwand vor). Allein die Nettogröße "Einkommen" spiegelt strukturell wirtschaftliche Bedürftigkeit bzw. wirtschaftliche Leistungsfähigkeit wider. Hingegen umfasst der Begriff "Einkünfte" zwar alle einkommensteuerlich relevanten Einnahmen, die die Leistungsfähigkeit erhöhen, nicht jedoch alle Ausgaben, die die Leistungsfähigkeit mindern.
Dabei darf gesetzgeberische Tpyisierung nicht schon konzeptionell ganze Ausgaben-Einheiten, die im Kern Kosten der Existenzsicherung für die Zukunft und des Mehrbedarfs für die gegenwärtige Existenz darstellen, ausgrenzen (ähnlich zur verfassungsrechtlich gebotenen Höhe des Grundfreibetrags Niedersächsisches Finanzgericht, BB 1991, 258, 260 f., FR 1991, 140, 142 ff.; bestätigt durch BVerfG BVerfGE 87, 153, 175 ff.). Denn es wäre verfassungswidrig, wenn etwa Eltern eines sich in Ausbildung befindlichen behinderten erwachsenen Kindes, das statt hoher Berufsausgaben hohen Behindertenmehraufwand zu tragen hat, kein Kindergeld erhalten, dagegen Eltern eines nichtbehinderten Kindes, das statt außergewöhnlicher Belastungen Werbungskosten hat, rund 3.000 DM Kindergeld im Jahr vereinnahmen. Mit anderen Worten: Wenn zwei erwachsene auszubildende Kinder jeweils 16.000 DM Einnahmen im Jahr haben und das behinderte Kind nach §§ 33, 33 b EStG abzugsfähigen Behindertenmehraufwand in Höhe von 5.000 DM, das nichtbehinderte Kind 5.000 DM nach § 9 EStG abzugsfähige Werbungkosten haben, dann muss nach Ansicht des Senats in beiden Fällen wegen Unterschreitens der 12.000 DM-Grenze Kindergeld geleistet werden.
Zwar ist die Erweiterung der Bemessungsgrundlage um "Bezüge" sinnvoll, weil viele Kinder in Ausbildung staatliche Zuschüsse erhalten, die die Bedürftigkeit eines Kindes zum Teil oder ganz entfallen lassen können. Gerade diese Erweiterung der Bemessungsgrundlage durch "Bezüge" erfordert jedoch die vollständige Berücksichtigung aller existenznotwendigen Ausgaben, wie es der Gesetzgeber an anderer Stelle durch die Entlastung bei niedrigen Erwerbseinkommen mit der ausdrücklichen Anknüpfung an das "zu versteuernde Einkommen" auch folgerichtig vollzogen hatte (vgl. § 32 d EStG 1993 bis 1995).
d)
Der Senat muss einen Aussetzungs- und Vorlagebeschluss nach Art. 100 Abs. 1 GG nicht fassen, weil er nicht feststellen kann, dass der Gesetzgeber durch seine Wortwahl "Einkünfte" in Abweichung zum erklärten Gesetzeszweck Grundrechte des Bürgersverletzen wollte. Da allerdings der hier in Bezug genommene Begriff "zu versteuerndes Einkommen" jenseits der Wortsinngrenze des Begriffs "Einkünfte" liegt, ist nicht mehr Gesetzesauslegung, sondern Gesetzesanalogie, das zulässige Rechtsanwendungsmittel (zur Zulässigkeit der Rechtsfindung durch Analogie vgl. BVerfG BVerfGE 69, 188, 203; 34, 269, 286 f.; vgl. auch Tipke/Lang, Steuerrecht, 16. Aufl. 1998, 119 ff., 144 ff., 157 ff.; Tipke, Grenzen der Rechtsfortbildung im Steuerrecht, Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft,1982, 1, 3 ff.). Ausgehend von der Bindung des Richters an "Gesetz und Recht" des Art. 20. Abs. 3 GG ist Analogie keine unzulässige freie Rechtsfindung, "sondern methodisch strikte Rechtsanwendung im Sinne des Diktums des Gesetzgebers" (so Tipke, Steuerrechtsordnung, 3 Bände, 1993, 208). Das Bundesverfassungsgericht führt dazu aus:
"Der Richter ist nach dem Grundgesetz nicht darauf verwiesen, gesetzgeberische Weisungen in den Grenzen des möglichen Wortsinns auf den Einzelfall anzuwenden. Eine solche Auffassung würde die grundsätzliche Lückenlosigkeit der positiven staatlichen Rechtsordnung voraussetzen, ein Zustand, der als prinzipielles Postulat der Rechtssicherheit vertretbar, aber praktisch unerreichbar ist. Richterliche Tätigkeit besteht nicht nur im Erkennen und Aussprechen von Entscheidungen des Gesetzgebers. Die Aufgabe der Rechsprechung kann es insbesondere erfordern, Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent, aber in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind, in einem Akt des bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen, ans Licht zu bringen und in Entscheidungen zu realisieren. Der Richter musssich dabei von Willkür freihalten; seine Entscheidung muss auf rationaler Argumentation beruhen. Es muss einsichtig gemacht werden können, dass das geschriebene Gesetz seine Funktion, ein Rechtsproblem gerecht zu lösen, nicht erfüllt. Die richterliche Entscheidung schließt dann diese Lücke nach den Maßstäben der praktischen Vernunft und den fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft" (so BVerfGE 34, 269, 287, zum Zivilrecht; übernommen von BVerfGE 69, 188, 203, zum Steuerrecht).
Ein Analogieverbot wird vom Bundesverfassungsgericht lediglich im Hinblick auf finanziell belastende Verwaltungsakte formuliert (vgl. BVerfG NJW 1996, 3146).
e)
Entsprechend dem Ergebnis der hier vorgenommenen - am Gesetzeszweck orientierten und zugleich verfassungskonformen ...-Interpretation der Berechnung der Bedürfnisgrenze (= Einkommensgrenze) im Sinne des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG istim Streitfall der Sonderausgaben-Pauschbetrag in Höhe von 63 DM (zeitanteiliger Betrag des Pauschbetrags nach § 10 cAbs. 1 EStG) zusätzlich abzuziehen. Daneben sind weitere Sonderausgaben als Vorsorgepauschale nach § 10 c Abs. 2 EStG in Höhe von 20 v.H. des vom Sohn erzielten Arbeitslohnes zu berücksichtigen. Diesen Betrag hat das Gericht mit 2.110 DM (= 10.550 DM × 20 %) ermittelt. Daraus folgt, dass von dem bisher vom Beklagten errechneten Betrag von 8.097 DM ein Betrag von 2.173 DM zusätzlich abzuziehen ist. Damit ergibt sich ein eigenes Einkommen des Kindes in Höhe von 5.924 DM, was zur Folge hat, dass der für das Streitjahr geltende Grenzbetrag von 7.000 DM (7/12 von 12.000 DM) nicht überschritten ist. Folglich war der Rückforderungsbescheid antragsgemäß aufzuheben.
3.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Die Anordnung der vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 151, 155 FGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO. Die Revisionist wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO).