Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 02.07.1999, Az.: IX 84/96
Gewährung des Veräußerungsfreibetrages bei Veräußerung einer Steuerberatungspraxis infolge eingetretener Berufsunfähigkeit; Dauerhafte Berufsunfähigkeit nach dem Gesamtbild der Erkrankung insbesondere unter Berücksichtigung der Fortführung der Berufstätigkeit lediglich in anderem Umfang
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 02.07.1999
- Aktenzeichen
- IX 84/96
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1999, 29739
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:FGNI:1999:0702.IX84.96.0A
Rechtsgrundlagen
- § 16 Abs. 4 S. 2 EStG
- § 16 Abs. 4 S. 3 EStG
- § 18 Abs. 3 S. 2 EStG
Fundstellen
- BRAK-Mitt 2000, 48
- NWB 1999, 3457
Verfahrensgegenstand
Veräußerung einer Steuerberaterpraxis wegen dauernder Berufsunfähigkeit
Einkommensteuer 1992
Der IX. Senat des Finanzgerichts Niedersachsen hat
nach mündlicher Verhandlung
in der Sitzung
vom 2. Juli 1999
im Einverständnis der Beteiligten
durch
den Richter am Finanzgericht Dr. .../ als Berichterstatter
fürRecht erkannt:
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen. Die Kläger haben die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger bei der Veräußerung seiner Steuerberaterpraxis im Jahr 1992 der erhöhte Veräußerungsfreibetrag nach § 18 Abs. 4 i.V.m. § 16 Abs. 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) zu gewähren ist.
Die Kläger sind Eheleute. Sie wurden im Streitjahr zur Einkommensteuer zusammenveranlagt. Der Kläger leidet seit 1977 an einer chronischen Stoffwechselkrankheit, infolgedessen er seit 1979 zu 60 v.H., seit 1994 zu 70 v.H. körperbehindert ist.
Der Kläger war bis 1981 als Angestellter in der Steuerabteilung eines großen Wohnungsunternehmens tätig. Nachdem dieses Unternehmen in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten war und Personal abgebaut wurde, stimmte er einem Aufhebungsvertrag zu und machte sich 1992 als Steuerbevollmächtigter selbständig. Zunächst führte er die Praxis allein mit Unterstützung durch seine Ehefrau. Nach und nach stellte er weitere Angestellte ein. In den ersten Jahren bekam er seine Aufträgeüberwiegend von seinem ehemaligen Arbeitgeber und beschäftigte sich mit Abwicklungsaufträgen des Wohnungsunternehmens. Zum 1. April 1992 veräußerte er seine Beraterpraxis und nahm anschließend als Angestellter eine Tätigkeit als Steuerreferent in dem Nachfolgeunternehmen des ehemaligen Arbeitgebers auf.
Mit der Steuererklärung für das Streitjahr 1992 erklärte der Kläger einen laufenden Gewinn von 75.191,00 DM und einen Veräußerungsgewinn von 305.000,00 DM. Die Einnahmen aus nichtselbständiger Tätigkeit betrugen in diesem Jahr 85.796,00 DM.
In der Steuererklärung beantragte der Kläger, den Veräußerungsgewinn um den erhöhten Freibetrag nach§ 16 Abs. 4 EStG wegen dauernder Berufsunfähigkeit zu mindern. Als Nachweis der dauernden Berufsunfähigkeit legte er eine Bescheinigung seines Hausarztes vom. September 1994 vor, wonach dieser das Bestehen der seit 1977 vorliegenden Krankheit bestätigt. Der Beklagte (das Finanzamt - FA -) lehnte den Ansatz des Freibetrags ab, da die Krankheit bereits seit 1977 bestanden habe und der Kläger seinen bisherigen Beruf, wenn nunmehr auch im Angestelltenverhältnis, weiterhin ausübe. Dagegen richtet sich nach erfolglosem Einspruchsverfahren die Klage.
Der Kläger trägt vor, er leide seit April 1977 an einer chronischen Stoffwechselerkrankung (Diabetes melitus). Zunächst habe er eine Behandlung auf der Basis von Tabletten durchgeführt. Im Mai 1979 sei eine Einstellung auf Insulin erfolgt. Danach habe er die Einhaltung eines Ernährungsplanes sicherstellen müssen. Um dieser planmäßigen Ernährung nachzukommen, habe er neben den Hauptmahlzeiten vier weitere Mahlzeiten täglich einplanen müssen und eingenommen. Daran habe sich bis zum Streitjahr nichts geändert.
Neben dem Ernährungsplan sei die zeitgerechte Versorgung mit Insulin für ihn wichtig gewesen. Nur durch die präzise Einhaltung dieser Auflagen ließen sich sog. Spätfolgen wie Durchblutungsstörungen, Nierenleiden, Augenerkrankungen und Stoffwechselentgleisungen vermeiden.
Nach Eröffnung seiner Steuerbevollmächtigtenpraxis am. Juli 1982 und Bestehen der Steuerberaterprüfung am. Oktober 1988 habe er sich nach und nach einen Mandantenstamm aufgebaut. Die Praxis habe einen typisch ländlichen Charakter, d.h. weit verstreut wohnende Mandanten, gehabt. Für ihn als Berater sei es selbstverständlich gewesen, für Gespräche mit den Mandanten in ihren Betrieben zur Verfügung zu stehen und sie nicht auf seine Geschäftszeiten zu verweisen. Er habe u.a. einen Blumenhändler betreut, bei dem grundsätzlich nach Geschäftsschluss Beratungsgespräche mit dem Betriebsleiter stattgefunden hätten. Darüber hinaus seien mit der Betreuung dieses Mandanten mindestens vierteljährlich Reisen nach Amsterdam verbunden gewesen, um mit dem Betriebsinhaber und dem niederländischen Steuerberater Abstimmungsgespräche zu führen. Im Lauf der Zeit habe er weitere anspruchsvolle und vergleichbare Mandate übernommen, die von ihm erwarteten, mit seinen Beratungsleistungen auch nach dem üblichen Geschäftsschluss zur Verfügung zu stehen.
Im Laufe der Zeit seien neben der Klägerin zwei Steuerfachgehilfen als Vollzeitbeschäftigte, eine Steuerfachgehilfin als Teilzeitbeschäftigte und bis zu zwei Aushilfen und eine Auszubildende in seinem Büro tätig gewesen. Mit der Ausweitung der Praxis und der damit verbundenen zunehmenden Belastung sei die Sorge über die chronische Stoffwechselerkrankung gewachsen. Einerseits seien die Blutzuckerwerte gestiegen, wenn die Insulinversorgung nicht rechtzeitig und regelmäßig erfolgt sei, andererseits hätte die Gefahr der Stoffwechselentgleisung bestanden, wenn die Ernährung nicht rechtzeitig eingenommen worden sei. Bei der freien Berufstätigkeit sei es unerlässlich gewesen, den Mandanten gegenüber keinerlei Anzeichen der Erkrankung erkennen zu lassen. Dies sei schon aus Wettbewerbsgründen erforderlich gewesen.
Während seiner freiberuflichen Tätigkeit sei es zu Stoffwechselentgleisungen gekommen, die auch zur Bewusstlosigkeit geführt hätten. Am. Februar 1994 habe er wegen seiner chronischen Erkrankung notärztlich behandelt werden müssen.
Wegen des zunehmenden Risikos habe er sich bemüht, einen Arbeitsplatz als Angestellter und einen Käufer für die Praxis zu finden. Dieses sei letzten Endes gelungen. Für den Wechsel in ein Angestelltenverhältnis sei es insbesondere darauf angekommen, eine regelmäßige Arbeitszeit vereinbaren zu können, keine Beratungsgespräche mit Dritten führen zu müssen und die Möglichkeit zu haben, sich als Diabetiker auf Zwischenmahlzeiten einstellen zu können. Diese Voraussetzungen seien durch die angestellte Tätigkeit als Referent auf dem Gebiet des Steuerrechts problemlos zu erfüllen gewesen.
Der Kläger ist der Ansicht, dass aufgrund dieser gesundheitlichen Vorgeschichte die Aufgabe der Praxis wegen der Berufsunfähigkeit außer Frage stehe. Der Begriff der dauernden Berufsunfähigkeit sei im Gesetz nicht definiert. Er bedürfe der Auslegung. Für die Auslegung dieses Begriffes könne es nicht darauf ankommen, dass er über Jahre hinweg trotz der Stoffwechselerkrankung eine freiberufliche Praxis geführt habe oder dass er später auf dem gleichen Gebiet, nämlich dem des Steuerrechts, tätig sei. Ausschlaggebend für die Praxisaufgabe seien vielmehr die wachsenden Belastungen gewesen, denen er aufgrund der Erkrankung nicht mehr gewachsen gewesen sei. Bei Fortführung der Praxis hätten sich auf Dauer unüberschaubare, gesundheitliche Folgen zweifellos eingestellt.
Die Kläger beantragen,
den Einkommensteuerbescheid 1992 vom. November 1994 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom. Februar 1996 zu ändern und die Einkommensteuer unter Berücksichtigung des Freibetrags von 120.000,00 DM niedriger festzusetzen.
Das FA beantragt,
die Klage abzuweisen.
Es bleibt bei seiner im Rechtsbehelfsverfahren vertretenen Auffassung, die Praxisaufgabe sei nicht durch eine dauernde Berufsunfähigkeit veranlasst gewesen. Die Krankheit des Klägers habe bereits seit 1977 bestanden. Sie könne daher nicht als zur dauernden Berufsunfähigkeit führend angesehen werden. Hinzu komme, dass der Kläger seinen bisherigen Beruf als Steuerberater, wenn auch im Angestelltenverhältnis, weiterhin ausüben könne.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist unbegründet.
Der angefochtene Einkommensteuerbescheid 1992 ist rechtmäßig. Die Kläger werden durch ihn nicht in ihren Rechten verletzt, da das FA die Gewährung des erhöhten Freibetrags zu Recht abgelehnt hat.
Nach § 16 Abs. 4 Sätze 2 und 3 EStG in der im Streitjahr geltenden Fassung i.V.m. § 18 Abs. 3 Satz 2 EStG wird der Gewinn aus der Veräußerung einer freiberuflichen Praxis zur Einkommensteuer herangezogen, soweit er 30.000,00 DM übersteigt; der Freibetrag wird in voller Höhe gewährt, sofern der Veräußerungsgewinn 100.000,00 DM nichtübersteigt. Nach Satz 3 des § 16 Abs. 4 tritt an die Stelle des Betrags von 30.000,00 DM der Betrag von 120.000,00 DM, wenn der Steuerpflichtige nach Vollendung seines 55. Lebensjahres oder wegen dauernder Berufsunfähigkeit seine freiberufliche Praxis veräußert oder aufgibt. Dadurch soll eine durch dauernde Berufsunfähigkeit veranlasste Praxisveräußerung oder -aufgabe steuerlich begünstigt werden. Maßgeblich ist nach dem Gesetzeswortlaut, dem Zweck und der Systematik des § 16 Abs. 4 EStG, dass die Aufgabe oder Veräußerung durch die dauernde Berufsunfähigkeit veranlasst wurde. Die berufliche Stellung des selbständig Tätigen, wie er sie mit Hilfe der eingesetzten sächlichen Mittel und des persönlichen Arbeitseinsatzes in dem konkreten Betrieb gestaltet hat, darf infolge eines nachträglichen Ereignisses sowie bisher überhaupt nicht und nur unter grundlegender Umgestaltung der bisherigen Tätigkeitsmerkmale weitergeführt werden können (BFH, Urteil vom 18. August 1981 VIII R 25/79, BStBl II 1982, 293, 294). Ein solches Ereignis wird vor allem der Eintritt einer körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung sein, also ein Invaliditätsgrund (Bundestags-Drucksache VI/1901 S. 9), der den Praxisinhaber zu einer Einstellung oder grundlegenden Umgestaltung seines bisherigen Arbeitseinsatzes zwingt.
Diese Voraussetzungen sind nach Auffassung des Gerichts im Streitfall nicht gegeben. Im Streitfall hat der Kläger nach Veräußerung seiner Steuerberatungspraxis nicht auf jegliche Berufstätigkeit verzichtet. Er hat auch nicht wie in den vom BFH entschiedenen Fällen (vgl. BFH, Urteil vom 18. August 1981,a.a.O.; vom 13. März 1986 IV R 176/84, BStBl II 1986, 606) eine völlig andere Tätigkeit ausgeübt, sondern anstelle seiner freiberuflichen Steuerberatertätigkeit eine steuerberatende Referententätigkeit im Angestelltenverhältnis aufgenommen. Dies spricht - worauf das FA zutreffend hinweist - dafür, dass nicht nur eine "gewisse Erwerbsfähigkeit in einem anderen Beruf erhalten geblieben ist" (Bundestags-Drucksache VI/1901, S. 16), sondern dafür, dass die gleiche Berufstätigkeit, wenn auch nunmehr als Angestellter, fortgesetzt wurde. Dass die angestellte Steuerreferententätigkeit überwiegend an einem Arbeitsplatz ausgeübt wird und Mandantenbesuche sowie sonstige Reisetätigkeiten entfallen, und dadurch der zeitliche Umfang der Tätigkeit auf die tarifvertragliche Arbeitszeit eingeschränkt wird, ist nach dem Vortrag des Klägers ohne Zweifel auf das Krankheitsbild zurückzuführen. Diese Art der zeitlichen Einschränkung des Umfangs der steuerberatenden Tätigkeit bedeutet jedoch keine derart grundlegende Umgestaltung der bisherigen freiberuflichen Tätigkeit, die die Annahme einer dauernden Berufsunfähigkeit rechtfertigen könnte.
Ausschlaggebend für diese Beurteilung ist das Gesamtbild der seit langem bestehenden Krankheit und der berufliche Werdegang des Klägers. Die Zuckererkrankung des Klägers wurde bereits 1979 festgestellt, gleichwohl hat der Kläger im Jahr 1982 eine freiberufliche Praxis eröffnet. Über die Anforderungen an eine freiberufliche Tätigkeit musste sich der Kläger im Klaren sein. Anlass für den damaligen Berufswechsel war nach seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung insbesondere die schlechte wirtschaftliche Situation seines damaligen Arbeitgebers und der daraus folgende Personalabbau. Der Kläger hat sich im Jahr 1982 offensichtlich in Kenntnis seiner chronischen Erkrankung nicht um eine Stelle als Angestellter bemüht, sondern sich selbständiggemacht. Diese selbständige Tätigkeit hat er immerhin zehn Jahre beibehalten, obwohl die berufliche Inanspruchnahme im Laufe der Jahre zunahm und er andererseits auf die Erkrankung hat Rücksicht nehmen müssen.
Weiter ist zu berücksichtigen, dass der Kläger bereits bei Aufnahme seiner freiberuflichen Tätigkeit einen Behinderungsgrad von 60 v.H. zuerkannt bekommen hatte und sich dieser Behinderungsgrad im Laufe der freiberuflichen Tätigkeit lediglich um 10 %, nämlich auf 70 v.H. erhöhte. Auch diese Tatsache deutet darauf hin, dass die Veräußerung der freiberuflichen Steuerberaterpraxis im Jahre 1992 wohl ihre Gründe im gesundheitlichen Bereich des Klägers hatte, gleichwohl aber eine dauernde Berufsunfähigkeit, insbesondere auch wegen der nachfolgenden nichtselbständigen Tätigkeit, zu verneinen ist. Das FA hat dementsprechend den erhöhten Freibetrag nicht gewähren können.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.