Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 20.07.1999, Az.: VII 720/98 Ki
Bezug der Einkommensgrenze beim Kindergeld auf zu versteuerndes Einkommen; Möglichkeit eines Richters zur Analogiebildung
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 20.07.1999
- Aktenzeichen
- VII 720/98 Ki
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1999, 18005
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:FGNI:1999:0720.VII720.98KI.0A
Rechtsgrundlage
- § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG
Tatbestand
Die Kl ist als Richterin tätig. Der Beklagte zahlte ihr für das Streitjahr zunächst - wie für das Vorjahr - Kindergeld für ihren Sohn S . S ist im Januar 1973 geboren und studierte im Streitjahr 1997 an der TU Mathematik. Im Sommer 1998 erklärte die Kl , dass ihr Sohn in 1997 neben einem Halbwaisengeld mit Versorgungsbezügen von 9.081,00 DM einen weiteren Betrag von 7.200,00 DM für die Betreuung eines Kleinkindes erhalten habe. Der Beklagte ermittelte hieraus einen anrechenbaren Betrag von 13.721,00 DM. Damit sei der Grenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG von 12.000,00 DM überschritten. Das Kindergeld werde zurückgefordert.
Die nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene Klage begründet die Kl im wesentlichen wie folgt: Sie sei seit 1985 verwitwet. Das Waisengeld sei nicht in die Bedürfigkeitsprüfung einzubeziehen. Das Waisengeld trete an die Stelle der Unterhaltsleistungen, die der verstorbene Vater dem Kind hätte erbringen können. Wenn aber Unterhaltsleistungen der Eltern an ihre Kinder nicht zum Wegfall des Anspruchs auf Kindergeld führten, so könne nichts anderes gelten, wenn der Unterhaltsbeitrag eines Elternteiles durch ein Waisengeld ersetzt werde. Ansonsten würde ein Kind, welches seinen Vater verloren hat, schlechter behandelt als ein Kind, das nicht verwaist sei.
Die Kl beantragt sinngemäß,
den Rückforderungsbescheid des Beklagten in der Fassung des Einspruchsbescheids vom 23. November 1998 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG werde ein Kind nur dann berücksichtigt, wenn es Einkünfte oder Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet seien, von nicht mehr als 12.000,00 DM habe. Die Waisenrente, die der Sohn der Kl beziehe, sei aber zur Bestreitung des Unterhalts geeignet. Sie müsse deshalb einbezogen werden. Im Streitfall gehöre das Waisengeld zu den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit i. S. v. § 19 Abs. 1 Nr. 2 EStG. Die Berechnung der eigenen Einkünfte und Bezüge des Kindes mit einer Gesamtsumme von 13.921,00 DM sei deshalb zutreffend ermittelt. Wegen Überschreitens der in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG genannten Grenze stehe der Kl deshalb kein Kindergeld zu.
Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte.
Dem Gericht hat die Kindergeldakte, die beim Beklagten geführt wird, vorgelegen. Wegen der rechnerischen Ermittlung des Betrags von 13.921,00 DM wird auf Bl. 70, 71 der genannten Akte Bezug genommen.
Gründe
Die Klage ist begründet.
Entgegen der Auffassung der Kl ist die Waisenrente in die Ermittlung der Bedürftigkeitsgrenze des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG einzubeziehen. Es handelt sich insoweit um Einnahmen des Kindes, die zur Bestreitung des eigenen Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt und geeignet sind. Nur weil der Sohn sich noch in Ausbildung befand, hatte er einen eigenen Anspruch auf das Waisengeld. Dies unterscheidet im Ergebnis auch den Streitfall von Fällen, in denen ein Kind allein von den Unterhaltsleistungen der Eltern abhängig ist. In solchen Fällen besteht gerade kein eigener Anspruch des Kindes gegenüber Dritten.
Die Klage hat jedoch aus anderen Gründen Erfolg.
Wie sich aus den Gesetzesmaterialien ergibt, orientiert sich der Grenzbetrag von 12.000,00 DM in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG am steuerfreien Existenzminimum. So heißt es in der ersten Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zum Jahressteuergesetz 1996 (BT-Drucksache 13/1558 - dort Seite 139 -) "ab eigenen Einkünften und Bezügen des Kindes von 12.000,00 DM sollen für über 18 Jahre alte Kinder sowohl der Kinderfreibetrag als auch das Kindergeld entfallen, wobei darauf hinzuweisen ist, dass dieser Betrag in etwa dem steuerfreien Existenzminimum des Steuerpflichtigen im Rahmen des Einkommensteuertarifs entspricht." Die Vorgabe der Orientierung am Existenzminimum ist aber durch den Wortlaut des Gesetzes nicht hinreichend umgesetzt worden. Das steuerliche Existenzminimum bildet einen Betrag ab, für den eine ertragsteuerliche Belastung nicht erfolgen darf. Bemessungsgrundlage für die tarifliche Einkommensteuer aber ist ein aus dem Einkommen hergeleiteter Wert, nämlich das zu versteuernde Einkommen (vgl. § 2 Abs. 4 bis 5 EStG). Deshalb hält es der Senat für geboten, bei der Ermittlung der Bedürftigkeitsgrenze des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG entgegen dem Wortlaut des Gesetzes mindestens das Einkommen des Kindes im jeweiligen Zeitraum einzubeziehen. Nur so ist der Wille des Gesetzgebers, nämlich die Anknüpfung an das Existenzminimum, realisiert. Das steuerfreie Existenzminimum kann hingegen nicht durch das im Gesetz umschriebene Begriffspaar Einkünfte und Bezüge hinreichend abgebildet werden. Denn weder die Einkünfte noch die Bezüge berücksichtigen den individuellen Aufwand einer Person, der ertragsteuerlich im Rahmen des Sonderausgabenabzugs nach § 10 EStG oder im Rahmen der Berücksichtigung außergewöhnlicher Belastungen nach § 33 EStG das steuerliche Existenzminimum beeinflusst.
Der Senat musste einen Aussetzungs- und Vorlagebeschluss nach Art. 100 Abs. 1 GG nicht fassen, weil er nicht feststellen kann, dass der Gesetzgeber durch seine Wortwahl "Einkünfte" in Abweichung zum erklärten Gesetzeszweck Grundrechte des Bürgers verletzen wollte. Da allerdings der hier in Bezug genommene Begriff "zu versteuerndes Einkommen" jenseits der Wortsinngrenze des Begriffs "Einkünfte" liegt, ist nicht mehr Gesetzesauslegung, sondern Gesetzesanalogie, das zulässige Rechtsanwendungsmittel (zur Zulässigkeit der Rechtsfindung durch Analogie vgl. BVerfG BVerfGE 69, 188, 203; 34, 269, 286 f.; vgl.auch Tipke/Lang, Steuerrecht, 16. Auflage 1998, 119 ff., 144 ff., 157 ff.; Tipke, Grenzen der Rechtsfortbildung im Steuerrecht, Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft, 1982, 1, 3 ff.). Ausgehend von der Bindung des Richters an "Gesetz und Recht" des Art. 20 Abs. 3 GG ist Analogie keine unzulässige freie Rechtsfindung, "sondern methodisch strikte Rechtsanwendung im Sinne des Diktums des Gesetzgebers" (so Tipke, Die Steuerrechtsordnung, 3 Bände, 1993, 208). Das Bundesverfassungsgericht führt dazu aus:
"Der Richter ist nach dem Grundgesetz nicht daraufverwiesen, gesetzgeberische Weisungen in den Grenzen des möglichen Wortsinns auf den Einzelfall anzuwenden. Eine solche Auffassung würde die grundsätzliche Lückenlosigkeit der positiven staatlichen Rechtsordnung voraussetzen, ein Zustand, der als prinzipielles Postulat der Rechtssicherheit vertretbar, aber praktisch unerreichbar ist. Richterliche Tätigkeit besteht nicht nur im Erkennen und Aussprechen von Entscheidungen des Gesetzgebers. Die Aufgabe der Rechtsprechung kann es insbesondere erfordern, Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent, aber in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind, in einem Akt des bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen, ans Licht zu bringen und in Entscheidungen zu realisieren. Der Richter muss sich dabei von Willkür freihalten; seine Entscheidung muss auf rationaler Argumentation beruhen. Es muss einsichtig gemacht werden können, dass das geschriebene Gesetz seine Funktion, ein Rechtsproblem gerecht zu lösen, nicht erfüllt. Die richterliche Entscheidung schließt dann diese Lücke nach den Maßstäben der praktischen Vernunft und den fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft (so BVerfGE 34, 269, 287 [BVerfG 14.02.1973 - 1 BvR 112/65], zum Zivilrecht; übernommen von BVerfGE 69, 188, 203, zum Steuerrecht)."
Ein Analogieverbot wird vom Bundesverfassungsgericht lediglich im Hinblick auf finanziell belastende Verwaltungsakte formuliert (vgl. BVerfG NJW 1996, 3146 [BVerfG 14.08.1996 - 2 BvR 2088/93]).
Ist aber nach dem Sinn und Zweck die Bedürftigkeitsgrenze des § 32 Abs. 4 EStG als Einkommensgrenze anzusehen, so ist im Streitfall der Sonderausgaben-Pauschbetrag von 108,00 DM nach § 10 c Abs. 1 EStG zusätzlich abzuziehen. Daneben sind als Vorsorgepauschale nach § 10 c Abs. 2 EStG i. H. v. 20 v. H. des vom Sohn erzielten Arbeitslohnes zu berücksichtigen. Diesen Betrag hat das Gericht mit 1.816,00 DM ermittelt. Mithin ergibt sich, dass von der bisher vom Beklagten errechneten Größe von 13.921,00 DM ein Betrag von 1.924,00 DM als Sonderausgaben zusätzlich abzuziehen ist. Damit ergibt sich ein eigenes Einkommen des Kindes i. H. v. 11.997,00 DM, was zur Folge hat, dass der für das Streitjahr geltende Grenzbetrag nicht überschritten ist. Mithin war der Rückforderungsbescheid antragsgemäß aufzuheben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
Die Anordnung der vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 151, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO).