Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 20.07.1999, Az.: VII 471/98 Ki

Bestimmung der kindergeldschädlichen Einkommensgrenze; Begriff des "erwerbssichernden Aufwandes"; Begriff des "existenzsichernden Aufwandes"

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
20.07.1999
Aktenzeichen
VII 471/98 Ki
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1999, 19495
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:FGNI:1999:0720.VII471.98KI.0A

Fundstelle

  • DB 2000, 69 (amtl. Leitsatz)

Verfahrensgegenstand

Kindergeld 1997

Amtlicher Leitsatz

Zur Bestimmung der kindergeldschädlichen Einkommensgrenze des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG: Die Grenze ist entsprechend dem Gesetzeszweck über den Wortlaut der zitierten Regelung "Einkünfte und Bezüge") hinaus auf das "zu versteuernde Einkommen" im Sinne der §§ 32 a Abs. 1, 2 Abs. 5 EStG zu beziehen. Danach ist nicht nur der erwerbssichernde Aufwand (Werbungskosten, Betriebsausgaben), sondern auch der existenzsichernde Aufwand (Sonderausgaben, außergewöhnliche Belastungen) zu berücksichtigen. Wegen grundsätzlicher Bedeutung ist die Revision zugelassen worden.

Der VII. Senat des Niedersächsischen Finanzgerichts hat
nach mündlicher Verhandlung
in der Sitzung vom 20. Juli 1999
für Recht erkannt:

Tenor:

Der Rückforderungsbescheid vom 23. März 1998 in der Fassung des Einspruchsbescheids vom 17. Juni 1998 wird aufgehoben.

Der Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der zu erstattenden Kosten abwenden, wenn nicht die Klägerin zuvor entsprechende Sicherheit leistet.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

1

Streitig ist, ob das Kind der Kl. mit seinem Einkommen die kindergeldschädliche Einkommensgrenze des § 32 Abs. 4 Satz 2 Einkommensteuergesetz (EStG) überschreitet.

2

Die Kl. ist Sozialhilfeempfängerin. Der Beklagte zahlte für das Streitjahr 1997 zunächst - wie für das Vorjahr - Kindergeld für ihren Sohn S.. S. ist im April 1978 geboren und befand sich während des gesamten Jahres 1997 in einer Berufsausbildung zum Industrieelektroniker. Am 18. November 1997 legte die Kl. der Beklagten eine aktuelle Ausbildungsbescheinigung vor. Dieser war u. a. zu entnehmen, dass S. für die Monate Januar bis März 1997 eine Ausbildungsvergütung in Höhe von monatlich 952 DM erhielt,vom 1. April bis 31. Juli betrug die Ausbildungsvergütung monatlich 976 DM, ab 1. August 1997 bekam S. 1.022 DM monatlich; außerdem wurde Urlaubs- und Weihnachtsgeld in Höhe von insgesamt 2.242 DM gezahlt. Der Beklagte ermittelte hieraus unter Berücksichtigung der Werbungskostenpauschale in Höhe von 2.000 DM einen anrechenbaren Betrag von 12.112 DM und ging von einem Überschreiten der kindergeldschädlichen Grenze (12.000 DM) im Sinne des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG aus. Das gezahlte Kindergeld für 1997 in Höhe von 2.640 DM wurde mit Bescheid vom 23. März 1998 zurückgefordert.

3

Die nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene Klage begründet die Kl. im wesentlichen wie folgt: Es sei nicht ihr Verschulden, dass für das Jahr 1997 Kindergeld überwiesen worden sei. Sie sei ihrer Pflicht nachgekommen und habe regelmäßig Verdienstnachweise ihres Sohnes eingereicht. Der Beklagte hätte erkennen müssen, dass ihr Sohn 1997 über der Einkommensgrenze von 12.000 DM gelegen habe. Allein dadurch, dass nunmehr die Zahlung von Kindergeld nach den Vorschriften des Einkommensteuergesetzes und der Abgabenordnung erfolge, könne zu Lasten des Kindergeldempfängers die Anwendung des Vertrauensgrundsatzes (in Abweichung zu den Bestimmungen des Sozialgesetzbuches) nicht verneint werden. Wenn dies - wie hier - gleichwohl geschehe, sei dies verfassungsrechtlich bedenklich. Die Kl. habe zudem das erhaltene Kindergeld fürden Lebensunterhalt ihres Sohnes verwandt. Entsprechend werde der Entreicherungseinwand erhoben in analoger Anwendung der Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches. Weiterhin sei es der Kl. aufgrund ihrer eingeschränkten finanziellen Verhältnisse nicht möglich, das Kindergeld für 1997 zurückzuzahlen. In Anlehnung an den Rechtsgedanken des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 des Sozialgesetzbuches (X. Buch) sei von einer rückwirkenden Aufhebung abzusehen, soweit der Betroffene dadurch im nachhinein vermehrt sozialhilfebedürftig werde.

4

Die Kl. beantragt sinngemäß,

den Rückforderungsbescheid des Beklagten vom 23. März 1998 in der Fassung des Einspruchsbescheids vom 17. Juni 1998 aufzuheben.

5

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

6

Nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG werde ein Kind nur dann berücksichtigt, wenn es Einkünfte oder Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet seien, von nicht mehr als 12.000 DM habe. Diese Grenze sei um 112 DM überschritten. Das Kindergeld sei deshalb zurückzuzahlen. Von der Rückzahlung könne auch aus Vertrauensschutz-, Entreicherungs- und anderen Gründen nicht abgesehen werden. Zum einen wäre der Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes nur dann einschlägig, wenn, was hier nicht der Fall sei, der Rückforderungsschuldner auf die Rechtmäßigkeit der an ihn geleisteten Zahlung tatsächlich vertrauen durfte. Änderungen in der Höhe des Einkommens ihres Sohnes, der in ihrem Haushalt lebe, dürften für die Kl. leicht erkennbargewesen sein; der Beklagten sei hingegen die kindergeldschädliche Einkommensveränderung erst mit der Vorlage der Bescheinigung am 18. November 1997 zugänglich gemacht worden. Zweitens sei der Rechtsgedanke des Wegfalls der Bereicherung im Rahmen des öffentlich-rechtlichen Rückforderungsanspruchs nach § 37 Abs. 2 AOnicht einschlägig. Zum dritten seien hier Rechtsgedanken des Sozialgesetzbuches nicht anwendbar, entsprechend die wirtschaftlichen Verhältnisse des Kindergeldempfängers nicht zu berücksichtigen.

7

Dem Gericht hat die Kindergeldakte, die beim Beklagten geführt wird, vorgelegen. Wegen der rechnerischen Ermittlung des Betrags von 12.112 DM wird auf Blatt 236 der genannten Akte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

8

Die Klage ist begründet. Die Kl. hat Anspruch auf Kindergeld für ihren Sohn S. für das Jahr 1997. Der angefochtene Bescheid mit dem der Beklagte das ausgezahlte Kindergeld zurückgefordert hat,ist rechtswidrig. Das Kindeseinkommen überschreitet nicht die für die Gewährung von Kindergeld maßgebliche Einkommensgrenze von 12.000 DM.

9

1.

Der Senat kann unentschieden lassen, ob die von der Kl. geltend gemachten Gesichtspunkte des Vertrauensschutzes und des bestimmungsgemäßen Verbrauchs des Kindergelds für die Entscheidung des Streitfalles von Bedeutung hätten sein können, weil die Klage schon aus anderen Gründen Erfolg hat.

10

Dahinstehen kann auch die Frage der Erforderlichkeit einer Milderungsregelung, die einen gleitenden Übergang beinhaltet, wonach der Betrag, der die kindergeldschädliche Grenze überschreitet, vom vollen Kindergeldbetrag abzuziehen ist (strukturell ähnlich etwa: §§ 16 Abs. 4, 33 a Abs. 1 Satz 4, Abs. 2 Satz 2, 46 Abs. 5 EStG; kritisch zur starren Grenzziehung: Kanzler in Herrmann/Heuer/Raupach, Kommentar zum KStG und EStG, Loseblatt, § 32 Anm. 130, Stand 1997, mit Hinweis auf BVerfGE 87, 153, 177; in diesem Sinne auch Paus, FR 1996, 337, 339 f.; Kulmsee, DStZ1998, 14, 23). Denn der Klage ist bereits in vollem Umfang aus anderen Gründen stattzugeben.

11

2.

Die Voraussetzungen für die Gewährung von Kindergeld gemäß § 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 Satz 1 Nr. 2, Abs. 4 Satz 2 EStG sind erfüllt. S. ist das leibliche Kind der Kl.. Er hatte im Streitjahr das 27. Lebensjahr noch nicht vollendet und befand sich in Berufsausbildung. Auch die im Streitfall allein streitige Einkommensgrenze von 12.000 DM wurde nicht überschritten.

12

Für ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, wird bei Vorliegen der übrigen Voraussetzung Kindergeld gezahlt, wenn das Einkommen (zuzüglich der Bezüge), das zur Bestreitung seines Unterhalts oder seiner Berufsausbildung geeignet ist, im Kalenderjahr 1997 12.000 DM nicht überschreitet. Zwar spricht die einschlägige gesetzliche Regelung in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG nur von "Einkünften und Bezügen". Der Senat ist aber der Auffassung, dass die Einkommensgrenze im Wege der teleologischen Analogie über den Wortlaut der zitierten Regelung hinaus auf das zu versteuernde Einkommen im Sinne der §§ 32 a Abs. 1, 2 Abs. 5 EStG zu beziehen ist, weil der Wortlaut der gesetzlichen Regelung in Bezug auf die Bestimmung der Einkommensgrenze eindeutig hinter dem erklärten Gesetzeszweck zurückbleibt.

13

a)

Wie sich aus den Gestzesmaterialien ergibt, orientiert sich der Grenzbetrag von 12.000 DM in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG am einkommensteuerfreien Existenzminimum. So heißt es in der ersten Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zum Jahressteuergesetz 1996 (Bundestags-Drucksache 13/1558, 139, 140):

"Ab eigenen Einkünften und Bezügen des Kindes von 12.000 DM sollen für über 18 Jahre alte Kinder sowohl der Kinderfreibetrag als auch das Kindergeld entfallen, wobei darauf hinzuweisen ist, dass dieser Betrag in etwa dem steuerfreien Existenzminimum des Steuerpflichtigen im Rahmen des Einkommensteuertarifsentspricht. Der Ausschuss macht damit deutlich, dass der Betrag für die Unschädlichkeit der eigenen Einkünfte und Bezüge beim Kindergeld bzw. Kinderfreibetrag bei künftigen Anpassungen des steuerfreien Existenzminimums entsprechend zu verändern ist."

14

Der gesetzgeberische Plan, Kindergeld nur dann für volljährige Kinder zahlen zu wollen, wenn diese bedürftig sind, und die Kindergeld-Bedürfnisgrenze typisierend am einkommensteuerfreien Existenzminimum zu orientieren, ist unter Berücksichtigung der Vorgaben der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Familienexistenzminimum (Kindergeld, Kinder- und Grundfreibeträ- ge) aus den Jahren 1990 und 1992 (BVerfGE 82, 60; 82, 198; 87, 153) sachgerecht (vgl. auch BVerfG BStBl II 1999, 174, 180; BStBl II 1999, 182, 188). Der Gesetzeszweck ist auch insoweit durch den Wortlaut des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG umgesetzt worden, als der dort genannte Grenzbetrag in Höhe von 12.000 DM für 1996 und 1997 bis auf wenige DM dem Betrag des einkommensteuerfreien Existenzminimums, dem Grundfreibetrag, für die Jahre 1996 und 1997 entspricht (dazu § 32 a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 EStG: 12.095 DM; vgl. auch die Wortwahl in der Präambel des Familienleistungsausgleichs, § 31 Satz 1 EStG: "Einkommensbetrag"); diese Entsprechung setzt sich planmäßig auch in den Jahren 1998 bis 2002 fort (vgl. §§ 32 Abs. 4 Satz 2, 32 a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 EStG in den verschiedenen Fassungen und die nachstehende Übersicht):

Jahrkindergeldschädliche Grenze (DM)Grundfreibetrag (DM)
199612.00012.095
199712.00012.095
199812.36012.365
199913.02013.067
200013.50013.499
200113.50013.499
200214.04014.093
15

Die geringfügigen Betragsabweichungen lassen sich dadurch schlüssig erklären, dass der Kindergeld-Grenzbetrag (auf volle DM) durch zwölf teilbar sein muss (vgl. § 32 Abs. 4 Sätze 6 und 7 EStG).

16

b)

Dagegen bleibt der Wortlaut des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG hinter dem Gesetzeszweck insoweit zurück, als der Gesetzgeber statt von "Einkommen" (genauer: von "zu versteuerndem Einkommen") nur von "Einkünften", also von einer rechnerischen Zwischengröße (vgl. Rechenwerk und Begriffsbestimmungen in § 2 Abs. 2 bis 5 EStG), spricht. Der Senat stellt fest, dass hier dem Gesetzgeber die Umsetzung seines eindeutigen Gesetzesplans, nämlich die Anknüpfung an das einkommensteuerliche Existenzminimum, in den Gesetzestext nicht hinreichend gelungen ist. Da sich Gesetzesplan und Gesetzeswortlaut nicht vollumfänglich decken, besteht eine gesetzgeberische Planwidrigkeit, besteht eine Gesetzeslücke, die es zu schließen gilt.

17

c)

Die vom Gesetzgeber gewollte Grenzziehung in Anlehnung an daseinkommensteuerfreie Existenzminimum gebietet die Orientierung an einem wirklichen Nettobetrag, nämlich am Einkommen im Sinne der §§ 32 a Abs. 1, 2 Abs. 4, 5 EStG. Die Bezugnahme auf das "Einkommen" gewährleistet sowohl die Berücksichtigung des objektiven Nettoprinzips (Abzug der Berufsausgaben: Betriebsausgaben und Werbungskosten) als auch des subjektiven Nettoprinzips (Abzug der existenznotwendigen Privatausgaben: Sonderausgaben und außergewöhnliche Belastungen) und damit die Beachtung der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in der Entscheidung zum steuerlichen Existenzminimum aus dem Jahre 1992 (BVerfGE 87, 153; nach Kirchhof, Stbg. 1993, 508, 509, geht sogar der existenzsichernde Aufwand dem erwerbssichernden Aufwand vor). Allein die Nettogröße "Einkommen" spiegelt strukturell wirtschaftliche Bedürftigkeit bzw. wirtschaftliche Leistungsfähigkeit wider. Hingegen umfasst der Begriff "Einkünfte" zwar alle einkommensteuerlich relevanten Einnahmen, die die Leistungsfähigkeit erhöhen, nicht jedoch alle Ausgaben, die die Leistungsfähigkeit mindern.

18

Dabei darf gesetzgeberische Typisierung nicht schon konzeptionell ganze Ausgaben-Einheiten, die im Kern Kosten der Existenzsicherung für die Zukunft und des Mehrbedarfs für die gegenwärtige Existenz darstellen, ausgrenzen (ähnlich zur verfassungsrechtlich gebotenen Höhe des Grundfreibetrags Niedersächsisches Finanzgericht, BB 1991, 258, 260 f., FR 1991, 140, 142 ff.; bestätigt durch BVerfG BVerfGE 87, 153, 175 ff.). Denn es wäre verfassungswidrig, wenn etwa Eltern eines sich in Ausbildung befindlichen behinderten erwachsenen Kindes, das statt hoher Berufsausgaben hohen Behindertenmehraufwand zu tragen hat, kein Kindergeld erhalten, dagegen Eltern eines nichtbehinderten Kindes, das statt außergewöhnlicher Belastungen Werbungskosten hat, rund 3.000 DMKindergeld im Jahr vereinnahmen. Mit anderen Worten: Wenn zwei erwachsene auszubildende Kinder jeweils 16.000 DM Einnahmen im Jahr haben und das behinderte Kind nach §§ 33, 33 b EStG abzugsfähigen Behindertenmehraufwand in Höhe von 5.000 DM, das nichtbehinderte Kind 5.000 DM nach § 9 EStG abzugsfähige Werbungskosten haben, dann muss nach Ansicht des Senats in beiden Fällen wegen Unterschreitens der 12.000 DM-Grenze Kindergeld geleistet werden.

19

Zwar ist die Erweiterung der Bemessungsgrundlage um "Bezüge" sinnvoll, weil viele Kinder in Ausbildung staatliche Zuschüsse erhalten, die die Bedürftigkeit eines Kindes zum Teil oder ganz entfallen lassen können. Gerade diese Erweiterung der Bemessungsgrundlage durch "Bezüge" erfordert jedoch die vollständige Berücksichtigung aller existenznotwendigen Ausgaben, wie es der Gesetzgeber an anderer Stelle durch die Entlastung bei niedrigen Erwerbseinkommen mit der ausdrücklichen Anknüpfung an das "zu versteuernde Einkommen" auch folgerichtig vollzogen hatte (vgl. § 32 d EStG 1993 bis 1995).

20

d)

Der Senat muss einen Aussetzungs- und Vorlagebeschluss nach Art. 100 Abs. 1 GG nicht fassen, weil er nicht feststellen kann, dass der Gesetzgeber durch seine Wortwahl "Einkünfte" in Abweichung zum erklärten Gesetzeszweck Grundrechte des Bürgers verletzen wollte. Da allerdings der hier in Bezug genommene Begriff "zu versteuerndes Einkommen" jenseits der Wortsinngrenze des Begriffs "Einkünfte" liegt, ist nicht mehr Gesetzesauslegung, sondern Gesetzesanalogie, das zulässige Rechtsanwendungsmittel (zur Zulässigkeit der Rechtsfindung durch Analogie vgl. BVerfG BVerfGE 69, 188, 203; 34, 269, 286 f.; vgl. auch Tipke/Lang, Steuerrecht, 16. Auflage 1998, 119 ff., 144 ff., 157 ff.; Tipke, Grenzen der Rechtsfortbildung im Steuerrecht, Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft, 1982, 1, 3 ff.). Ausgehend von der Bindung des Richters an "Gesetz und Recht" des Art. 20 Abs. 3 GG ist Analogie keine unzulässige freie Rechtsfindung, "sondern methodisch strikte Rechtsanwendung im Sinne des Diktums des Gesetzgebers" (so Tipke, Die Steuerrechtsordnung, 3 Bände, 1993,208). Das Bundesverfassungsgericht führt dazu aus:

"Der Richter ist nach dem Grundgesetz nicht darauf verwiesen, gesetzgeberische Weisungen in den Grenzen des möglichen Wortsinns auf den Einzelfall anzuwenden. Eine solche Auffassung würde die grundsätzliche Lückenlosigkeit der positiven staatlichen Rechtsordnung voraussetzen, ein Zustand, der als prinzipielles Postulat der Rechtssicherheit vertretbar, aber praktisch unerreichbar ist. Richterliche Tätigkeit besteht nicht nur im Erkennen und Aussprechen von Entscheidungen des Gesetzgebers. Die Aufgabe der Rechtsprechung kann es insbesondere erfordern, Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent, aber in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind, in einem Akt des bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen, ans Licht zu bringen und in Entscheidungen zu realisieren. Der Richter muss sich dabei von Willkür freihalten; seine Entscheidung muss auf rationaler Argumentation beruhen. Es muss einsichtig gemacht werden können, dass das geschriebene Gesetz seine Funktion, ein Rechtsproblem gerecht zu lösen, nicht erfüllt. Die richterliche Entscheidung schließt dann diese Lücke nach den Maßstäben der praktischen Vernunft und den fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft"

21

(so BVerfGE 34, 269, 287, zum Zivilrecht; übernommen von BVerfGE 69, 188, 203, zum Steuerrecht).

22

Ein Analogieverbot wird vom Bundesverfassungsgericht lediglich im Hinblick auf finanziell belastende Verwaltungsakte formuliert (vgl. BVerfG NJW 1996, 3146).

23

e)

Entsprechend dem Ergebnis der hier vorgenommenen - am Gesetzeszweck orientierten und zugleich verfassungskonformen - - Interpretation der Berechnung der Bedürfnisgrenze (= Einkommensgrenze) im Sinne des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG ist im Streitfallder Sonderausgaben-Pauschbetrag in Höhe von 108 DM (§ 10 c Abs. 1 EStG) zusätzlich abzuziehen. Daneben sind weitere Sonderausgaben als Vorsorgepauschale nach § 10 c Abs. 2 EStG in Höhe von 20 v. H. des vom Sohn erzielten Arbeitslohnes zu berücksichtigen. Diesen Betrag hat das Gericht mit 2.700 DM ermittelt. Daraus folgt, dass von dem bisher vom Beklagten errechneten Betrag von 12.112 DM ein Betrag von 2.818 DM (Sonderausgaben) zusätzlich abzuziehen ist. Damit ergibt sich ein eigenes Einkommen des Kindes in Höhe von 9.294 DM, was zur Folge hat, dass der für das Streitjahr geltende Grenzbetrag nicht überschritten ist. Folglich war der Rückforderungsbescheid antragsgemäß aufzuheben.

24

3.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Die Anordnung der vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 151, 155 FGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO. Die Revision ist wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO).