Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 06.07.2000, Az.: 14 K 349/98 Ki

Voraussetzungen für die rückwirkende Gewährung von Kindergeld; Berechtigtes Interesse an der Gewährung des Kindergeldes

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
06.07.2000
Aktenzeichen
14 K 349/98 Ki
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2000, 14400
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:FGNI:2000:0706.14K349.98KI.0A

Fundstelle

  • NWB DokSt 2001, 450

Tatbestand

1

Streitig ist, inwieweit der Klägerin rückwirkend Kindergeld für ihre Kinder I und G zusteht.

2

Die Klägerin war bis zum 22. Februar 1993 mit dem Beigeladenen, dem Vater der beiden Kinder I (geb. 1979) und G (geb. 1980) verheiratet. Während der Ehezeit erhielt der Beigeladene das Kindergeld. Nach der Scheidung teilte er dem Arbeitsamt S - Kindergeldkasse - mit Schreiben vom 29. März 1993 u.a. mit, dass das Sorgerecht für beide Kinder der Klägerin zugesprochen worden sei und die Kinder im Haushalt der Klägerin wohnten. Er bat, das Kindergeld direkt an die Klägerin zu überweisen und gab deren Kontonummer bei der Kreissparkasse X an. Im einzelnen wird auf das Schreiben vom 29. März 1993 Bezug genommen.

3

Das Arbeitsamt S hob daraufhin die Entscheidung über die Bewilligung des Kindergeldes gegenüber dem Beigeladenen ab Mai 1993 auf. Nach Aktenlage wurde die Klägerin mit Schreiben des Arbeitsamtes vom 1. April 1993 darauf hingewiesen, dass sie einen Anspruch auf Kindergeld haben könnte. Gleichzeitig wurde ihr ein Vordruck "Antrag auf Kindergeld/Antrag auf Kindergeldzuschlag"übersandt.

4

Mit Schreiben vom 23. Mai 1997, eingegangen beim Beklagten am 28. Mai 1997, beantragte die Klägerin Kindergeld für ihre beiden Kinder. Auf eine Rückfrage des Beklagten, warum sie erst jetzt Kindergeld beantrage, verwies die Klägerin auf die Mitteilung ihres geschiedenen Ehemannes aus dem Jahre 1993 und die Aufhebung der Kindergeldzahlung gegenüber diesem. Mit Bescheid vom 12. Juni 1997 bewilligte der Beklagte Kindergeld für die beiden Kinder I und G nur für die Zeit ab November 1996.

5

Mit dem hiergegen eingelegten Einspruch wandte die Klägerin sich gegen die Begrenzung der rückwirkenden Zahlung für die letzten 6 Monate vor Antragstellung. Es liege kein verspäteter Antrag vor, sondern ein Fehler auf Seiten des Arbeitsamtes. Da ihr geschiedener Ehemann nach der Scheidung für beide Kinder Unterhalt habe zahlen müssen, sei sie davon ausgegangen, dass er auch weiterhin das Kindergeld bekomme. Das Arbeitsamt habe ihrem geschiedenen Ehemann zwar mitgeteilt, dass er nach der Scheidung kein Kindergeld mehr erhalte, sie sei jedoch weder benachrichtigt noch sei ihr ein Antragsformular zugeschickt worden. Das Schreiben vom 1. April 1993 sei ihr nicht zugegangen. Sie sei immer davon ausgegangen, ihr geschiedener Ehemann bekomme das Kindergeld, er sei davon ausgegangen, sie bekomme das Kindergeld. Bis vor einem Monat sei ihnen gar nicht aufgefallen, dass keiner das Kindergeld erhalte.

6

Der Einspruch blieb erfolglos. Zur Begründung seiner ablehnenden Entscheidung führte der Beklagte folgendes aus: Nach § 66 Abs. 3 Einkommensteuergesetz (EStG) sei das Kindergeld rückwirkend nur für die letzten 6 Monate vor Beginn des Monats zu zahlen, in dem der Antrag auf Kindergeld bei dem örtlich zuständigen Arbeitsamt - Familienkasse - eingegangen sei. Da der Antrag der Klägerin erst am 28. Mai 1997 beim Arbeitsamt eingegangen sei, sei Kindergeld erst ab November 1996 zu bewilligen. Dahin stehen könne, ob die Klägerin das Schreiben des Arbeitsamtes vom 1. April 1993 erhalten habe oder nicht, da keine Rechtspflicht zur Zusendung eines solchen Schreibens bestehe.

7

Hiergegen richtet sich die Klage. Die Klägerin weist erneut darauf hin, dass das Schreiben des Arbeitsamtes vom 1. April 1993 nicht zugegangen sei. Entgegen der Auffassung des Beklagten obliege diesem eine Aufklärungspflicht. Hierfür spreche bereits der Inhalt des Schreibens vom 1. April 1993. Es habe Formularcharakter, müsse also in einer Vielzahl von Fällen seitens des Beklagten zumindest im Jahr 1993 Verwendung gefunden haben. Sinn und Zweck des Kindergeldgesetzes bestehe darin, den Erziehungsberechtigten bei der Erziehung der Kinder durch materielle Hilfen zu unterstützen. Dabei werde Kindergeld grundsätzlich nur auf Antrag gewährt. Jedoch solle der Anspruchsberechtigte nach der Intention des Gesetzgebers auch im Interesse der betroffenen Kinder auf seine Anspruchsberechtigung hingewiesen werden.

8

Durch das Streichen des § 66 Abs. 3 EStG zum 1. Januar 1998 habe der gesetzgeberische Zweck im Interesse der Kinder Kindergeld zu gewähren, verwirklicht werden sollen. Bei § 52 Abs. 32 b EStG dürfte es sich um einen redaktionellen Fehler des Gesetzgebers handeln.

9

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

unter Aufhebung des ablehnenden Bescheides des beklagten Arbeitsamtes den Beklagten zu verpflichten, der Klägerin für ihre Kinder I und G für die Zeit vom 1. Januar 1996 bis 31. Oktober 1996 Kindergeld zu bewilligen.

10

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

11

Er ist der Auffassung, er sei seiner Beratungspflicht nach § 14 SGB I hinreichend nachgekommen. Es könne nicht von ihm verlangt werden, zu überprüfen, ob die Klägerin das Schreiben vom 1. April 1993 tatsächlich erhalten habe bzw. aus welchen Gründen die Klägerin beim Arbeitsamt S kein Kindergeld beantragt habe. Die Vorschrift des § 52 Abs. 32 b EStG habe zur Folge, dass die Ausschlussfrist des § 66 Abs. 3 EStG bei nach dem 1. Januar 1998 gestellten Anträgen noch auf Kindergeldansprüche für die Jahre 1996 und 1997 anzuwenden sei. Im übrigen verweist der Beklagte auf die Ausführungen im Einspruchsbescheid.

Gründe

12

Die Klage ist begründet. Die zeitliche Begrenzung der Bewilligung des Kindergeldes für die Kinder I und G ab November 1996 ist rechtswidrig.

13

1.

Gemäß § 67 EStG wird Kindergeld nur auf Antrag gewährt. Nach § 66 Abs. 3 EStG in der für den streitigen Zeitraum geltenden Fassung wird Kindergeld rückwirkend nur für die letzten 6 Monate vor Beginn des Monats gezahlt, in dem der Antrag auf Kindergeld eingegangen ist. Antragsberechtigt ist neben dem Berechtigten auch derjenige, der ein berechtigtes Interesse an der Leistung des Kindergeldes hat (auf § 67 Abs. 1 Satz 2 EStG).

14

a)

Zwar hat die Klägerin selbst einen Antrag auf Kindergeld erst im Mai 1997 gestellt, so dass - stellte man auf den Eingang dieses Antrags beim Beklagten ab - die zeitliche Beschränkung der Kindergeldbewilligung ab November 1996 gemäß § 66 Abs. 3 EStG zutreffend wäre.

15

b)

Der Beklagte hat hierbei jedoch übersehen, dass der Beigeladene bereits mit Schreiben vom 29. März 1993 gebeten hatte, das Kindergeld für die beiden Kinder an die Klägerin auszuzahlen. Dieses Schreiben des Beigeladenen stellt einen Antrag i.S.d. § 67 Abs. 1 Satz 2 EStG auf Zahlung des Kindergeldes an die Klägerin dar. Die Formulierung "Ich möchte Sie bitten, das Kindergeld direkt an meine Ex-Frau zu überweisen" lässt nach Auffassung des Senats keine andere Auslegung zu. Der von der Vertreterin des Beklagten in der mündlichen Verhandlung geäußerten Ansicht, man könne hierin nur eine "Anregung" zur Zahlung des Kindergeldes an die Klägerin sehen, vermag sich der Senat nicht anzuschließen.

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2.

Der Beigeladene hat auch ein berechtigtes Interesse an der Leistung des Kindergeldes.

17

Der Begriff des berechtigten Interesses umfasst neben rechtlichen auch persönliche und wirtschaftliche Interessen (Hermann/Heuer/Raupach, § 67 EStG Rz. 13; Seewald/Felix, Kindergeldrecht, § 67 Rz. 28). Insbesondere haben Personen, die dem Kind gegenüber unterhaltsverpflichtet sind, ein berechtigtes Interesse in diesem Sinne (vgl. Schmidt, Einkommensteuergesetz Kommentar, § 67 Rz. 4; Berleberg, Familienleistungsausgleich, § 67 EStG Rz. 12; Hermann/Heuer/Raupach, Kommentar zum Einkommensteuergesetz, § 67 Rz. 13; Blümich, Kommentar zum Einkommensteuergesetz, § 67 Rz. 21).

18

Im Streitfall ist der Beigeladene seinen Kindern gegenüber unstreitig unterhaltsverpflichet. Da das an die Klägerin zu zahlende Kindergeld bei der Berechnung der von dem Beigeladenen zu erbringenden Unterhaltszahlungen hälftig angerechnet wird, ist ein wirtschaftliches Interesse des Beigeladenen an der Leistung des Kindergeldes zweifellos gegeben. Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass der Beigeladene als Vater der Kinder auch ein persönliches Interesse daran hat, dass das Kindergeld zur Bestreitung des Lebensunterhaltes seiner Kinder zur Verfügung steht.

19

Die Dienstanweisung des Beklagten in DA Fam EStG 67.3, wonach ein berechtigtes Interesse bei anderen Personen dann nicht anzunehmen sein soll, wenn der Anspruchsberechtigte den Unterhaltsverpflichtungen gegenüber seinen Kindern nachkommt, ist für den Senat nicht nachvollziehbar. Es ist kein Grund dafür ersichtlich, warum das Interesse im oben bezeichneten Sinne des Vaters der Kinder an der Kindergeldleistung wegfallen soll, wenn die Mutter als Anspruchsberechtigte ihren Kindern Unterhalt in dem ihr obliegenden Umfang gewährt. Der Hinweis der Vertreterin des Beklagten in der mündlichen Verhandlung auf § 74 EStG vermag die in der Dienstanweisung DA Fam EStG 67.3 vertretende Auffassung ebenfalls nicht zu untermauern. § 74 EStG regelt die Auszahlung des Kindergeldes in Sonderfällen. Die Frage, wer antragsberechtigt im Sinne des § 67 EStG ist, ist hiervon unabhängig zu beurteilen.

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3.

Da die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Kindergeld für die beiden Kinder der Klägerin unstreitig vorliegen, § 66 EStG Abs.3 in der für den streitigen Zeitraum geltenden Fassung wegen des bereits im Jahr 1993 gestellten Antrags des Beigeladenen keine Begrenzung der rückwirkenden Kindergeldbewilligung rechtfertigt, war der Klage stattzugeben.

21

4.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 135, 139 Abs. 4 Finanzgerichtsordnung (FGO).

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5.

23

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i.V.m. § 708, Nr. 10, 711 ZPO.

24

6.

25

Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung der Frage, wer als Person mit berechtigtem Interesse i.S.d. § 67 Abs. 1 Satz 2 anzusehen ist, zuzulassen.