Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 12.01.2000, Az.: 9 L 4267/99

Asyl; Asylantragsteller; Asylantragstellung; Asylbeantragung; Asylbewerber; Irak; Minderjähriger; Nachfluchtgrund; Nachfluchttatbestand; politische Verfolgung; Rückkehrgefährdung; Sippenhaft; Verfolgung

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
12.01.2000
Aktenzeichen
9 L 4267/99
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2000, 41956
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 16.08.1999 - AZ: 6 A 5937/98

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Minderjährigen Asylbewerbern droht wegen ihrer Asylantragstellung regelmäßig auch dann keine politische Verfolgung durch den irakischen Staat, wenn sie aus dem Zentralirak stammen.

2. Minderjährigen Asylbewerbern aus dem Zentralirak droht regelmäßig nicht allein wegen der Asylantragstellung der Eltern politische Verfolgung in Form der Sippenhaft.

Tenor:

Die Kläger zu 2. bis 6., die in den Jahren 1986, 1987, 1989, 1992 und 1995 in Ain Sifne (arabisch: Al-Sheichan), einem Ort im Gebiet des von der irakischen Zentralregierung beherrschten Teils des Irak geboren sind, sind irakische Staatsangehörige kurdischer Volks- und yezidischer Glaubenszugehörigkeit. Ihrer Mutter ist nach dem für ihre Person rechtskräftig gewordenen, für die Kläger zu 2. bis 6. weiterhin streitbefangenen Urteil des Verwaltungsgerichts Abschiebungsschutz gemäß § 51 Abs. 1 AuslG zugesprochen worden.

Tatbestand:

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Die Kläger zu 2. bis 6., die in den Jahren 1986, 1987, 1989, 1992 und 1995 in Ain Sifne (arabisch: Al-Sheichan), einem Ort im Gebiet des von der irakischen Zentralregierung beherrschten Teils des Irak geboren sind, sind irakische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit und yezidischer Glaubenszugehörigkeit. Ihrer Mutter ist nach dem für ihre Person rechtskräftig gewordenen, für die Kläger zu 2. bis 6. weiterhin streitbefangenen Urteil des Verwaltungsgerichts Abschiebungsschutz gemäß § 51 Abs. 1 AuslG zugesprochen worden.

Entscheidungsgründe

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Die vom Senat hinsichtlich der Kläger zu 2. bis 6. zugelassene Berufung des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten ist auch begründet.

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Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte zu Unrecht zur Gewährung von Abschiebungsschutz für die Kläger zu 2. bis 6. verpflichtet. Ihnen steht kein Anspruch auf die Feststellung zu, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG bei ihnen vorliegen.

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Den Klägern zu 2. bis 6. droht im Falle ihrer Rückkehr in den Irak insbesondere nicht deshalb politische Verfolgung seitens des irakischen Staates, weil sie durch ihre Mutter im Ausland um Asyl nachgesucht haben. Es ist nicht überwiegend wahrscheinlich, dass das irakische Regime diesen Umstand zum Anlass nehmen würde, sie einer schweren Bestrafung gemäß Art. 180 oder Art. 202 des Irakischen Strafgesetzbuches zu unterziehen oder in anderer asylerheblicher Weise in ihren Rechtsgütern zu beeinträchtigen. Dies folgt daraus, dass die Kläger zu 2. bis 6. bei der Stellung ihrer Asylanträge erst zwischen 4 und 13 Jahre alt waren und daher nach der derzeitigen Erkenntnislage nichts dafür spricht, dass das irakische Regime allein die Stellung von Asylanträgen als eine eigenverantwortliche Willensäußerung der Kläger ansehen und zum Anlass für eine politische Verfolgung nehmen würde (vgl. Beschluss des Senats v. 28.7.1999 -- 9 L 5005/99 -- sowie Beschluss v. 14.10.1999 -- 9 L 2840/99 --). Der Senat differenziert in inzwischen ständiger Rechtsprechung grundsätzlich einerseits zwischen der Asylantragstellung von irakischen Staatsangehörigen aus dem Nord-Irak und andererseits von denen aus den von der Zentralregierung beherrschten Landesteilen. Nur im letzteren Fall ist regelmäßig allein die Asylantragstellung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit einer politischen Verfolgung bedroht. Handelt es sich aber um minderjährige Asylantragsteller, führt dieser Umstand regelmäßig auch dann nicht zu einer politischen Verfolgung, wenn diese aus dem Zentralirak stammen. Der Senat hat dazu im Einzelnen in seinem Beschluss vom 28. Juli 1999, aaO, ausgeführt:

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"Grundsätzlich geht der Senat allerdings davon aus, dass irakische Staatsangehörige, die aus dem der staatlichen Hoheitsgewalt unterworfenen Gebiet stammen, anders als diejenigen mit Herkunft aus den autonomen kurdischen Gebieten, wegen des Asylantrages und des unerlaubten Auslandsaufenthaltes politische Verfolgung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit befürchten müssen (Beschl. v. 8.3.1999 -- 9 L 4394/98, so auch VGH Bad.-Württ. Urt. v. 21.1.1999 -- A 2 S 2429/98 --). Das irakische StGB und andere Rechtsvorschriften stellen das "Verbreiten von Falschnachrichten" über Irak im Ausland (Art. 180 irak. StGB) sowie "Missachtung gegenüber dem irakischen Volk" (Art. 202 irak. StGB) unter schwere Strafe. Auch die illegale Ausreise ohne Ausreisegenehmigung ist mit mehrjähriger Haftstrafe bedroht (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 27. Januar 1999, amnesty international, Auskunft an das VG Arnsberg vom 23.10. 1997).

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Es ist überwiegend wahrscheinlich, dass die aus dem Hoheitsgebiet des irakischen Staates stammenden Asylbewerber im Falle einer Rückkehr einer Bestrafung auf der Grundlage dieser Vorschriften oder anderen erheblichen Beeinträchtigungen der in § 51 Abs. 1 AuslG geschützten Rechtsgüter ausgesetzt werden.

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Dies steht nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme auf Grund des ausführlichen, differenzierten und insgesamt überzeugenden Gutachten des Deutschen Orient -- Instituts vom 30. April 1999 fest. Danach müssen Flüchtlinge aus dem Zentralirak allein wegen des Asylantrages mit politischer Verfolgung rechnen, auch wenn das irakische Regime mittlerweile in Rechnung stellt, dass Ausreisen auch aus allein wirtschaftlichen Gründen erfolgen. Dies folgt aus dem Umstand, dass Irak keine Auswanderungs- und/oder Ausreisetradition hat. In Verbindung mit dem unbedingten Machtstreben des herrschenden Regimes führt dies dazu, dass eine dauerhafte Ausreise auch ohne politischen Hintergrund traditionell als Abwendung von dem Land und etwas Negatives angesehen wird, das zu negativer Behandlung führt. Bei den Ausreisenden, die zusätzlich in einem europäischen, an der Anti -- Irak -- Allianz beteiligten Land um politisches Asyl nachsuchen, wird umso mehr von landesfeindlichen Motiven ausgegangen.

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Die dem entgegenstehende Einschätzung des Auswärtigen Amtes (z.B. Lageberichte vom 27.1.1999 und vom 31.8.1998) vermag nicht zu überzeugen. Dieses führt zwar zunächst aus, es könne nicht ausgeschlossen werden, dass irakische Sicherheitsorgane bereits das Stellen eines Asylantrages in die Nähe der genannten Strafvorschriften rückten. Erfahrungswerte lägen jedoch nicht vor, auch nicht zu der Frage, ob den irakischen Stellen ein Asylantrag überhaupt bekannt werde. Daneben gingen irakische Sicherheitskräfte offensichtlich willkürlich und unsystematisch vor -- eine generelle Einschätzung sei deswegen kaum zu treffen. Allerdings könne auch davon ausgegangen werden, dass dem irakischen Regime bewusst sei, dass es sich bei irakischen Asylbewerbern und Flüchtlingen vielfach um Wirtschaftsflüchtlinge handele. Vor diesem Hintergrund seien Verfolgungsmaßnahmen allein wegen eines Asylantrages (bei Wirtschaftsflüchtlingen) nicht beachtlich wahrscheinlich.

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Wie sich aus dem Gutachten des Deutschen Orient-Instituts an den Senat ersehen lässt, steht der Umstand, dass dem irakischen Regime die wirtschaftlichen Gründe für die Ausreise bewusst sind, der Annahme einer Verfolgungsgefahr jedoch nicht entgegen. Denn bereits die Tatsache der (illegalen) Ausreise für sich wird als makelbehaftete Abwendung vom Irak angesehen. Im Übrigen sind es eher die vermögenderen Staatsbürger, denen es gelingt, das Land zu verlassen. Aus diesem Grund ist der irakische Staat gerade bestrebt, die Auswanderung der wirtschaftlichen Leistungsträger und den weiteren Abfluss von Wirtschaftsgütern aus dem Irak zu verhindern (Deutsches Orient-Institut, Auskunft an das VG vom Aachen vom 30.6.1998).

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Die soeben dargestellte grundsätzliche Einschätzung einer Verfolgungsgefahr wegen eines Asylantrages und der illegalen Ausreise durch den Senat gilt im Falle des aus Bagdad stammenden Beigeladenen, der im Zeitpunkt der Ausreise erst 13 bzw. knapp 14 Jahre alt war, jedoch nicht. Die Beweisaufnahme hat gegenteilig ergeben, dass angesichts seines Alters nicht davon ausgegangen werden kann, der irakische Staat werde dem Beigeladenen die Ausreise und den Asylantrag als landesfeindliche und deswegen zu verfolgende Einstellung vorwerfen. Das Deutsche Orient -- Institut hat in seinem Gutachten vom 30. April 1999, die Frage des Senats, ob die Gefahr einer politischen Verfolgung auch für einen im Zeitpunkt der Asylantragstellung noch Minderjährigen bestehe, dessen Antrag vom Vormund gestellt worden ist, verneint. Es hat hierzu ausgeführt:

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"Allzu klar ist in diesem Falle, daß die Ausreise und der Asylantrag nicht auf dem eigenen Willen des Beigeladenen beruht, daß dieser vielmehr zunächst wohl dem väterlichen und schließlich dem Willen des bestellten Vormunds entspricht. In einem solchen Fall ist es aus unserer Sicht unrealistisch anzunehmen, dass der irakische Staat in der Asylbeantragung eine ernstzunehmend persönliche Willensäußerung des Beigeladenen sehen könnte. Wenn überhaupt, hätten möglicherweise die Verwandten im Irak, die den Jungen ins Ausland geschickt haben, irgendetwas zu befürchten."

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Den Klägern zu 2. bis 6. droht wegen der Asylantragstellung der Mutter auch nicht unter dem Blickwinkel der Sippenhaft mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine politische Verfolgung. Zwar legen die dem Senat vorliegenden Erkenntnisquellen eher den Schluss nahe, dass der irakische Zentralstaat als Instrument der Verfolgung und Einschüchterung von Regimegegnern auch die Sippenhaft anwendet (Stellungnahme von amnesty international vom 17.11.1997 an VG Bayreuth). Auch das Auswärtige Amt spricht in seiner Stellungnahme vom 28. Oktober 1997 an das VG Stade davon, dass regelmäßige Berichte des VN-Menschenrechts-Berichterstatters (z.B. Bericht vom 15.10.1996) zahlreiche Fälle der Anwendung von Sippenhaft im Irak belegten. Im Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 25. Oktober 1999 ist angeführt, dass es im Irak in Ausnahmefällen zur Anwendung von Sippenhaft (meist Geiselnahme von Familienangehörigen von Flüchtlingen) komme. Daneben würden Familien von gefassten (z.T. nur angeblichen) Regimegegnern oder Angehörigen, die Irak illegal, d.h. ohne die erforderliche Ausreisegenehmigung, verlassen hätten, benachteiligt (Entzug der Lebensmittelkarten, Entlassung u.ä.). Familienangehörige seien bei Strafe verpflichtet, den staatlichen Behörden zu melden, dass Angehörige vom Wehrdienst desertiert seien. Der VN-Menschenrechts-Berichterstatter für Irak gehe von der Existenz einer "Schuld durch Assoziation" im Irak aus: Familienangehörige würden für das Fehlverhalten ihrer Angehörigen belangt (u.a. als Abschreckungsmethode). Die dem Senat vorliegenden Erkenntnisse lassen aber nicht den Schluss zu, dass der irakische Zentralstaat -- bei aller Unberechenbarkeit seines Handelns -- das Mittel der Sippenhaft gegen jegliche oppositionelle Tätigkeit einsetzt, und zwar uneingeschränkt gleichermaßen gegen alle Familienangehörige im engeren oder sogar im weiteren Sinne, seien es Männer, Frauen oder -- wie hier -- auch minderjährige Kinder. Das Auswärtige Amt weist in der oben angeführten Stellungnahme vom 28. Oktober 1997 darauf hin, dass Fälle der Sippenhaft gegen minderjährige Angehörige von Asylantragstellern (im konkreten Fall ein ca. drei Monate altes Kind) nicht bekannt seien. Den jüngeren Erkenntnisquellen ist vielmehr -- einschränkend -- zu entnehmen, dass eine gewissermaßen allgemein praktizierte Sippenhaft im Zentralirak nicht erfolgt. So kommt das Deutsche Orient-Institut in seiner Stellungnahme vom 31. Oktober 1999 an das VG Trier zu der Feststellung, dass generell zwar die Gefahr einer Verfolgung auch von Familienangehörigen bestehe, Kinder und Frauen aber "wohl eher nicht Opfer (einer Sippenhaft) werden, obwohl zumindest im Hinblick auf die Ehefrau das auch nicht gerade auszuschließen ist". Bei einer oppositionellen Tätigkeit (im konkreten Fall: Mitarbeit in der Organisation "Ärzte ohne Grenze") könne es aber zu einem Zugriff im weiteren familiären Umkreis und dort innerhalb der Männer kommen. In seiner weiteren Stellungnahme vom 6. Dezember 1999 an das VG Trier bewertet das Deutsche Orient-Institut die Wahrscheinlichkeit einer Sippenhaft von Kindern wegen frauenspezifischer Angelegenheiten als "durchaus unrealistisch" und als "weit neben der Sache" liegend. Angesichts dieser Erkenntnislage hat der Senat bereits in seinem Beschluss vom 26. November 1999 (9 L 4663/98) festgestellt, dass zwar einerseits bei einer hervorgehobenen oppositionellen Tätigkeit eines Elternteils (im entschiedenen Fall eine führende Position in der Union der Frauen Kurdistan, Wahlhelferin, Journalistin für den Radiosender der KDP, aktive politische Tätigkeit) die beachtliche Gefahr einer Sippenhaft auch für minderjährige Kinder besteht. Andererseits sprechen aber keine nachvollziehbaren Anhaltspunkte für einen gewissermaßen schrankenlosen Einsatz der Sippenhaft. Der Senat geht daher davon aus, dass eine Sippenhaft jedenfalls in den Fällen einer hervorgehobenen oppositionellen Tätigkeit droht, nicht aber vom irakischen Staat auch schon allein wegen der Asylantragstellung eingesetzt wird, namentlich nicht gegen minderjährige Kinder. Diese Einschätzung deckt sich im Ergebnis mit der oben dargestellten bisherigen Rechtsprechung des Senats zur asylrechtlichen Relevanz der Asylantragstellung von Minderjährigen. _