Oberlandesgericht Celle
Urt. v. 19.12.2002, Az.: 14 U 259/01

Geltendmachung eines Anspruchs auf Schadensersatz und Schmerzensgeld aus einem Verkehrsunfall; Notwendigkeit eines kausalen Zusammenhangs zwischen Unfall und krankhaftem Leiden; Beweislastverteilung in Bezug auf den Kausalitätsnachweis; Begriff der "Körperverletzung" im Sinne des Deliktsrechts

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
19.12.2002
Aktenzeichen
14 U 259/01
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2002, 30240
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2002:1219.14U259.01.0A

Fundstelle

  • OLGReport Gerichtsort 2004, 330-331

In dem Rechtsstreit
...
hat der 14. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle
auf die mündliche Verhandlung vom 12. November 2002
durch
den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht ...,
den Richter am Oberlandesgericht ... und
die Richterin am Landgericht ...
für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung der Klägerin gegen das am 7. August 2001 verkündete Urteil des Einzelrichters der 4. Zivilkammer des Landgerichts Verden wird zurückgewiesen.

Die Klägerin hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung seitens der Beklagten wegen der Kosten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages leisten.

Die Revision wird zugelassen.

Wert der Beschwer: 18.032 EUR

Tatbestand

1

Die Klägerin begehrt aus einem Verkehrsunfallereignis Schmerzensgeld in Höhe von 30.000 DM für die Zeit bis zur letzten mündlichen Verhandlung, materiellen Schadensersatz in Höhe von 345,76 DM für Heilbehandlungskosten sowie die Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten für nach der letzten mündlichen Verhandlung entstehende weitere immaterielle Schäden.

2

Am 9. Dezember 1997 erlitt die Klägerin in R. als Beifahrerin im Fahrzeug ihres Ehemannes, das dieser steuerte, einen Verkehrsunfall, für den die Beklagten gesamtschuldnerisch zu 100 % haften. Nach dem Unfall hatte die Klägerin zunächst keinerlei gesundheitliche Beschwerden. Später stellte sich ein Kribbeln in der linken Hand ein, das mit der Zeit an Intensität zunahm. Am 20. Januar 1998 suchte die Klägerin deswegen erstmals einen Arzt auf, der sie arbeitsunfähig schrieb. Die Schmerzen in der linken Hand nahmen zu. Nunmehr leidet die Klägerin unter einem sog. Morbus Sudeck, wobei sich die Krankheit mittlerweile derart verschlimmert hat, dass es zu einer Versteifung der Hand mit geschlossenen Fingern gekommen ist. Eine Besserung ist nicht zu erwarten.

3

Die Klägerin hat behauptet, sie habe sich bei dem Unfall mit der linken Hand am Armaturenbrett abgestützt gehabt und auf Grund der Kollision mit dem von der Beklagten zu 1 geführten Fahrzeug einen kurzen schweren Anstoß in der Hand verspürt. Aus diesem Anstoß habe sich der Morbus Sudeck entwickelt.

4

Die Beklagten haben behauptet, zwischen der Kollision und der Entwicklung des Morbus Sudeck bei der Klägerin bestehe kein Ursachenzusammenhang. Die Klägerin habe weder die linke Hand zum Abstützen am Armaturenbrett eingesetzt noch sei der kollisionsbedingte Anstoß geeignet gewesen, die linke Hand zu verletzen.

5

Nach Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens von Dr. W. vom 11. Mai 2001 hat der Einzelrichter der 4. Zivilkammer des Landgerichts Verden mit Urteil vom 7. August 2001 die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat er ausgeführt, die Klägerin habe nicht mit der erforderlichen Gewissheit bewiesen, dass der Unfall vom 9. Dezember 1997 ursächlich für den bei ihr aufgetretenen Morbus Sudeck sei. Es komme nämlich auch in Betracht, dass die Krankheit spontan entstanden und nur zufällig zeitlich nah zum Unfall aufgetreten sei.

6

Außerdem könnten andere traumatische Ereignisse die Krankheit ausgelöst haben, sodass nicht festgestellt werden könne, dass gerade das Verhalten der Beklagten zu 1 zu den gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Klägerin geführt habe.

7

Mit ihrer form- und fristgerecht erhobenen Berufung greift die Klägerin die Beweiswürdigung des Landgerichts an. Sie hält die Kausalität zwischen Unfall und ihrer Erkrankung an dem sog. Morbus Sudeck für bewiesen.

8

Die Klägerin beantragt,

unter Abänderung des angefochtenen Urteils nach ihren - der Klägerin - Anträgen aus der ersten Instanz zu erkennen.

9

Die Beklagten beantragen,

die Berufung der Klägerin gegen das am 7. August 2001 verkündete Urteil des Einzelrichters der 4. Zivilkammer des Landgerichts Verden zurückzuweisen.

10

Die Beklagten verteidigen das angefochtene Urteil unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens.

11

Der Senat hat Beweis erhoben gemäß Beschluss vom 4. Juli 2002 (Bl. 256/

12

257 d. A. II) durch mündliche Erläuterung des schriftlichen Gutachtens seitens des Sachverständigen Dr. W.. Zum Ergebnis der Beweisaufnahme wird Bezug genommen auf die Protokollniederschrift vom 12. November 2002 (Bl. 264 - 266 d. A. II).

Gründe

13

Die zulässige Berufung der Klägerin hat nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme keinen Erfolg. Das Landgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die Klägerin hat nicht bewiesen, dass ihre Erkrankung an dem sog. Morbus Sudeck eine kausale Folge des Unfallgeschehens vom 9. Dezember 1997 ist, für das die Beklagten als Gesamtschuldner einstehen müssen. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die zutreffenden Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils Bezug genommen, die sich der Senat zu Eigen macht. Lediglich im Hinblick auf das Berufungsvorbringen und das Ergebnis der Beweisaufnahme ist Folgendes auszuführen:

14

Maßgeblich ist, ob die Klägerin durch das Unfallereignis eine Verletzung an der linken Hand erlitten hat. Die Klägerin muss eine Primärverletzung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB nach den Grundsätzen des § 286 ZPO zur vollen Überzeugung des Gerichts beweisen. Daran fehlt es. Der Sachverständige Dr. W. hat sein schriftliches Gutachten mündlich dahin erläutert, dass zwar auch Bagatellunfälle und Bagatellverletzungen, wie beispielsweise Prellungen oder Verstauchungen, die Sudecksche Dystrophie verursachen können. Das bloße Abstützen mit der Hand allein würde als Ursache jedoch nicht ausreichen. Es müsse schon irgendeine traumatische Einwirkung gegeben sein. Über die Frage, ob bei der Klägerin ein solches Trauma stattgefunden habe, könne er nur spekulieren. Es komme darauf an, wie die Abstützung erfolgt sei.

15

Unstreitig hat die Klägerin unmittelbar nach dem Unfall keinerlei Beschwerden im Bereich des linken Armes und der linken Hand beklagt. Vielmehr haben sich Beschwerden in Form eines Kribbelns an der linken Hand erst zwei Wochen nach dem Unfallereignis eingestellt. Aus diesem Vorbringen ergibt sich nicht der juristische Tatbestand der Körperverletzung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB. Eine Körperverletzung setzt nämlich eine nicht ganz unwesentliche körperliche Befindlichkeitsbeeinträchtigung voraus [Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 62. Auflage, Bearbeiter Thomas zu § 823 Rn. 4 m. w. N.]. Vorliegend ist bei dem bloßen Spüren eines schweren Anstoßes die Erheblichkeitsschwelle für eine Körperverletzung noch nicht überschritten.

16

Im Übrigen reicht ein schwerer Anstoß nach den überzeugenden und nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen Dr. W. nicht aus, um die Krankheit Morbus Sudeck auszulösen. Vielmehr müsste die Klägerin eine Verstauchung oder Prellung beklagt haben. Das ist jedoch bereits nach dem Vorbringen der Klägerin nicht der Fall. Mit Verstauchungen oder Prellungen gehen nach der allgemeinen Lebenserfahrung regelmäßig auffallende Beschwerden einher, die die Klägerin gerade nicht empfunden hat.

17

Für die haftungsbegründenden Tatsachen trägt die Klägerin die volle Beweislast des § 286 ZPO [vgl. Zöller, Zivilprozessordnung, 23. Auflage, Bearbeiter Greger zu § 287 Rn. 3]. Die schriftlichen und mündlichen Erläuterungen des Sachverständigen Dr. W. lassen konkrete andere Möglichkeiten als den Anstoß, den die Klägerin erlitten haben mag, als Auslöser für ihre Erkrankung als möglich erscheinen: Entwicklung ohne äußeren Anlass bei ca. 10 % der Patienten oder ein bisher nicht bekanntes Trauma vor oder unmittelbar nach dem Unfall. Unter diesen Umständen ist der Senat mit dem Landgericht nicht vollends davon überzeugt, dass der Verkehrsunfall vom 9. Dezember 1997 den Morbus Sudeck bei der Klägerin verursacht hat. Es besteht mithin die ernsthafte Möglichkeit, dass sich die Erkrankung schicksalshaft entwickelt hat. In den Genuss der Beweismaßerleichterung des § 287 ZPO kann die Klägerin nicht kommen, weil schon der Haftungsgrund in Frage steht, der allein nach § 286 ZPO zu beweisen ist; die Anwendung des § 287 ZPO auf diese Frage wäre systemwidrig [Zöller-Greger, § 287 Rn. 3]. Demzufolge war die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

18

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.

19

Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

20

Die Revision war gemäß § 543 Abs. 2 ZPO zuzulassen, weil die Sache grundsätzliche Bedeutung hat, soweit es um die Frage geht, ob § 287 ZPO für den Beweis einer Primärverletzung nicht dann Anwendung finden kann, wenn der Vollbeweis nach § 286 ZPO wegen der Art der Unfallfolge nicht geführt werden kann.

21

Der Wert der Beschwer ist im Hinblick auf § 26 Nr. 8 EGZPO festgesetzt worden. Dabei hat sich der Senat an den Beschluss des Landgerichts Verden vom 21. August 2001 (Bl. 201 d. A. I) gehalten. 35.345,76 DM entsprechen 18.072 EUR.