Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 19.09.2019, Az.: 3 A 6515/17

Gegenstandswert, Jugendhilferecht; Jugendhilfe; Maßgebliche Sach- und Rechtslage

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
19.09.2019
Aktenzeichen
3 A 6515/17
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2019, 70022
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Bei einer Verpflichtungsklage auf Bewilligung von Jugendhilfeleistungen kann es schon wegen des Gebotes zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes nicht regelhaft maßgeblich auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt eines zuvor ergangenen Ablehnungsbescheides ankommen.
In jugendhilferechtlichen Verfahren bestimmt sich der Gegenstandswert nicht nach § 23 Abs. 1 Satz 2 RVG i. V. m. § 52 GKG, sondern nach § 23 Abs. 3 Satz 2 RVG.
Bei Klagen auf zukünftige Leistungen ist, wenn es an einer konkreten Benennung des streitig gestellten Zeitraums fehlt, der Zeitraum maßgebend, für den die begehrten Leistungen aus jugendhilfefachlicher Sicht typischerweise bewilligt werden, maximal der Jahreswert der Leistungen.

Tenor:

Das Verfahren wird eingestellt.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Der Gegenstandswert wird auf 40.405,80 EUR festgesetzt.

Gründe

1.

Nachdem die Beteiligten das Verfahren übereinstimmend für erledigt erklärt haben, ist es entsprechend § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen und gemäß § 161 Abs. 2 VwGO nach billigem Ermessen über die Kosten zu entscheiden. Billigem Ermessen entspricht es, dass der Beklagte die Kosten trägt. Denn er ist dem Klagebegehren letztlich von sich aus nachgekommen und hat damit die Erledigung herbeigeführt, ohne dass die Gründe dafür auf einer Veränderung von Umständen nach Klageerhebung beruhen, die allein in der Sphäre der Klägerin liegen. Außerdem hat der Beklagte auch nicht von sich aus, sondern erst auf Grund der Durchführung eines Erörterungstermins im parallel geführten Eilverfahren und entsprechender rechtlicher Hinweise des Berichterstatters die begehrten Leistungen gewährt.

In diesem Zusammenhang weist der Berichterstatter auf Folgendes hin: Bei einer Verpflichtungsklage auf Bewilligung von Jugendhilfeleistungen, deren Gewährung der Jugendhilfeträger zuvor mit einem Ablehnungsbescheid abgelehnt hatte, kann es nicht regelmäßig maßgeblich auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der ablehnenden Verwaltungsentscheidung ankommen und kann die leistungsberechtigte Person nicht gehalten sein, ggf. nach Klageerhebung fortlaufend weitere Leistungsanträge bei dem Jugendhilfeträger zu stellen, um damit eine aktuelle Beurteilung ihres jugendhilferechtlichen Bedarfs außerhalb des Prozessrechtsverhältnisses zu erreichen. Das würde dem Gebot effektiven Rechtsschutzes widersprechen. Denn es würde letztlich bedeuten, dass sie, um nicht (zumindest) für die Dauer des Klageverfahrens auf die streitige Leistung verzichten zu müssen, sich diese zunächst auf eigene Kosten selbst beschafften muss. Denn da nach der Rechtsprechung ein Jugendhilfeträger nicht für die Vergangenheit zur Bewilligung von Leistungen verpflichtet werden kann, würde es einer leistungsberechtigten Person bezogen auf den Zeitraum zwischen Ablehnungsentscheidung und rechtskräftigem Abschluss des Klageverfahrens nichts nützen, wenn sich in einem ggf. mehrjährigen gerichtlichen Klageverfahren letztlich herausstellte, dass die mit der Klage angegriffene Ablehnungsentscheidung der Behörde rechtswidrig war, weil im Zeitpunkt ihres Erlasses doch ein Anspruch auf die streitige Leistung bestand. Andererseits ist es auch kaum denkbar, einer Verpflichtungsklage auf Gewährung von Jugendhilfeleistungen unter Zugrundelegung der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Ablehnungsentscheidung noch stattzugeben, wenn zwischenzeitlich der jugendhilferechtliche Bedarf oder eine sonstige Anspruchsvoraussetzung entfallen ist. Bei einer erfolgten Selbstbeschaffung würde demgegenüber eine Verpflichtungsklage unzulässig und müsste diese auf eine Klage auf Aufwendungsersatz für die selbstbeschaffte Leistung umgestellt werden. Leistungsberechtigten, die nicht über genügende finanzielle Mittel für eine Selbstbeschaffung verfügen, wäre dieser Weg von vornherein versperrt.

Weitere Leistungsanträge bei der Behörde für Zeiträume nach Klageerhebung erscheinen unabhängig von diesen prozessualen Überlegungen im Übrigen aber auch deshalb als überflüssig, weil die Bewilligung von Jugendhilfe regelmäßig gerade nicht antragsabhängig ist, sondern nur voraussetzt, dass der Bedarf an den Jugendhilfeträger in einer Form herangetragen wird, die ihm eine fachliche Entscheidung über den geltend gemachten Hilfebedarf ermöglicht. Wenn im Rahmen einer nach erfolgter förmlicher Ablehnung bereits anhängig gemachten Verpflichtungsklage seitens der leistungsbegehrenden Person zu ihrem behaupteten Hilfebedarf fortlaufend aktuelle Sachverhaltsangaben gemacht werden, dann hat sich der beklagte Jugendhilfeträger damit selbstverständlich inhaltlich zu befassen und seine bereits ergangene Ablehnungsentscheidung fortlaufend unter Berücksichtigung des Vortrags der leistungsbegehrenden Person zu überprüfen. Kommt der Jugendhilfeträger dabei zu der Überzeugung, dass auf Grund inzwischen eingetretener Veränderungen der Sachlage nunmehr ein Jugendhilfebedarf besteht und mit den im Klageverfahren streitigen Jugendhilfeleistungen zu decken ist, hat er diese unverzüglich zu bewilligen. Es erschließt sich nicht, wieso der Jugendhilfeträger in einer solchen Situation an seinem ursprünglichen Klageabweisungsantrag festhalten können soll. Prozessual kann er seine Kosteninteressen vielmehr hinreichend dadurch wahren, dass er das anhängige Klageverfahren nach nunmehr erfolgter Bewilligung unter Protest gegen die Kostenlast für erledigt erklärt und dabei darauf verweist, dass die Klage bis zum Eintritt der veränderten Umstände, auf die er unverzüglich reagiert habe, unbegründet gewesen ist. Reagiert der Jugendhilfeträger aber nicht unverzüglich auf im Laufe der bereits anhängigen Klage eingetretene und vorgetragene Veränderungen der Sachlage, sondern hält (zunächst) weiterhin an seinem Klagabweisungsantrag fest, macht es unter dem Gesichtspunkt der Gewährung effektiven Rechtsschutzes keinen Sinn, von der leistungsbegehrenden Person zu verlangen, dass sie von der Behörde den Erlass eines weiteren Ablehnungsbescheides fordert und nachfolgend eine weitere Klage erhebt.

Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 188 VwGO.

2.

Die Festsetzung des Gegenstandswertes beruht auf § 33 Abs. 1 RVG. Die Höhe des festgesetzten Wertes folgt aus § 23 Abs. 3 Satz 2 RVG.

a)

Streitgegenständlich im vorliegenden Verfahren waren jugendhilferechtliche Ansprüche auf die Bewilligung von Schulbegleitung und einer ambulanten Autismustherapie. Da in jugendhilferechtlichen Streitigkeiten gemäß § 188 VwGO Gerichtskosten nicht erhoben werden, fallen Gerichtskosten nicht an. Angesichts dessen kann die Wertfestsetzung nicht auf § 23 Abs. 1 Satz 2 RVG in Verbindung mit § 52 GKG gestützt werden. Die gegenteilige Auffassung des 10. Senates des Nds. Oberverwaltungsgerichts (vgl. zuletzt Beschluss vom 04.07.2019, 10 OA 74/19, www. rechtsprechung.niedersachsen.de; m. w. N.), dass in jugendhilferechtlichen Verfahren für die Wertfestsetzung auf § 23 Abs. 1 Satz 2 RVG in Verbindung mit § 52 GKG zurückgegriffen werden müsse, weil sich die Gerichtskostenfreiheit dieser Verfahren nicht unmittelbar aus dem GKG, sondern „erst“ aus der VwGO ergebe, ist falsch. Nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 GKG ist das GKG (nur) anzuwenden für Verfahren vor den Verwaltungsgerichten „nach der VwGO“. Damit sind aber bereits nach dem Tatbestand des § 2 Abs. 2 Nr. 1 GKG von der Anwendung dieses Gesetzes dem Grunde nach diejenigen Verfahren ausgeschlossen, in denen „nach der VwGO“ keine Gerichtskosten erhoben werden, also gerade die von § 188 VwGO erfassten Verfahren. Im Übrigen setzt auch der Tatbestand des § 23 Abs. 1 Satz 2 RVG bereits seinem Wortlaut nach voraus, dass in dem betroffenen Verfahren Gerichtskosten tatsächlich anfallen (können). Das ergibt sich aus dem dort verwendeten Verb „erhoben“, das seinem Wort- aber auch seinem Regelungssinn nach einen tatsächlich stattfindenden oder zumindest rechtlich möglichen Vorgang im Sinne eines Festsetzungsaktes beschreibt. Ein vom 10. Senat des Nds.OVG offensichtlich angenommener „rechtsvirtueller“ Zwischenakt, in dem in einer rechtslogischen Sekunde ein Kostenerhebungstatbestand nach dem GKG gleichsam zunächst auflebt, um anschließend vor einer Umsetzbarkeit in der realen Welt in Anwendung des § 188 VwGO sogleich wieder unterzugehen, wird davon dagegen nicht umfasst. Aus der vom 10. Senat des Nds. OVG für seine Auffassung angeführten Gesetzesbegründung zur Neufassung des § 23 Abs. 1 Satz 2 RVG lässt sich insoweit schon deshalb nichts herleiten, weil dort ausdrücklich nur von „gerichtsgebührenfreien“, nicht aber von gerichtskostenfreien Verfahren die Rede ist. Das macht Sinn, weil damit der Regelungsbedarf für die in § 23 Abs. 1 Satz 2 RVG in Abgrenzung zu § 23 Abs. 1 Satz 1 RVG erfassten Fälle beschrieben wird, lässt aber gerade nicht den Schluss zu, sondern spricht vielmehr dagegen, dass damit auch gänzlich gerichtskostenfreie Verfahren in den Regelungsbereich des § 23 Abs. 1 Satz 2 GKG einbezogen sein sollen.

b)

Nach § 23 Abs. 3 Satz 2 RVG ist der Wert nach billigem Ermessen zu bestimmen. In Fällen, in denen jugendhilferechtliche Leistungen für die Zukunft erstritten werden sollen, die aus jugendhilfefachlicher Sicht typischerweise zeitabschnittsweise bewilligt werden, entspricht es allgemeiner Auffassung in der Rechtsprechung, für die Bestimmung des Gegenstandswertes auf die danach typischerweise festzulegenden Bewilligungszeiträume abzustellen, maximal begrenzt auf den Zeitraum eines Kalenderjahres. Ausgehend davon sind für die Bestimmung des Gegenstandswerts der vorliegenden Klage die Jahreskosten der streitbefangenen Maßnahmen zu Grunde zu legen. Diese sind vom Beklagten – insoweit rechnerisch nachvollziehbar und von der Klägerin nicht streitig gestellt – mit 36.777,- EUR für die Schulbegleitung und 3.628,80 EUR für die Autismustherapie beziffert worden. Aus der Summe dieser Einzelwerte ergibt sich der im Tenor ausgewiesene Gesamtwert.