Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 25.09.2019, Az.: 6 A 6386/16

Familieneinheit; Gesundheitssystem; Irak; nationales; Rückkehrprognose; Sichelzellanämie; Sichelzellkrankheit

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
25.09.2019
Aktenzeichen
6 A 6386/16
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2019, 70019
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Die genetisch bedingte Sichelzellkrankheit (Sichelzellenanämie) ist im Irak unter Berücksichtigung der gegenwärtigen Lage des dortigen Gesundheitssystems nicht in adäquater Weise fachärztlich behandelbar.
2. Im Falle einer Nichtbehandlung einer Sichelzellkrankheit drohen erhebliche konkrete Gefahren für Leib und Leben im Sinne des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG.
3. Von einer gemeinsamen Rückkehr im Familienverband ist für die vom Bundesamt nach § 60 Abs. 5 AufenthG anzustellende Rückkehrprognose im Regelfall auch dann auszugehen, wenn für einzelne Familienmitglieder bereits ein nationales Abschiebungsverbot festgestellt wurde (vgl. BVerwG, Urteil vom 04.07.2019 – 1 C 45/18, juris LS 3, Rn. 21).


Tenor:

Das Verfahren wird eingestellt, soweit die Kläger die Klage zurückgenommen haben.

Im Übrigen wird die Beklagte verpflichtet, in Bezug auf die Klägerin zu 5. festzustellen, dass hinsichtlich des Zielstaats Irak die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG vorliegen, in Bezug auf die Kläger zu 1. bis 4. und 6. diejenigen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG.

Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16. Oktober 2016 wird aufgehoben, soweit er dem vorgenannten Verpflichtungsausspruch entgegensteht.

Die Kläger tragen 2/3, die Beklagte trägt 1/3 der Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand:

Die Kläger, irakische Staatsangehörige kurdischer Volks- und yezidischer Glaubenszugehörigkeit, begehren die Zuerkennung von Abschiebungsverboten.

Nach Angabe der Kläger zu 1. und 2. reisten diese gemeinsam mit ihren minderjährigen Kindern, den Klägern zu 3. bis 6., im Juni 2016 aus dem Irak aus und im Juli 2016 in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo sie in einer Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtling (im Folgenden: Bundesamt) Asylanträge stellten.

Zu ihren persönlichen Verhältnissen erklärten die Kläger zu 1. und 2. im Rahmen ihrer Anhörung beim Bundesamt, sie stammten aus einem kleinen Ort im Bezirk Sharia in der Provinz Dohuk. Beide erklärten, die Schule nicht besucht zu haben. Er, der Kläger zu 1., habe u.a. als Hilfsarbeiter im Baubereich gearbeitet; sie, die Klägerin zu 2., sei Hausfrau gewesen. Zu den Gründen ihrer Ausreise gaben sie an, viele Yeziden aus dem Shingal seien zu ihnen nach Dohuk geflohen, so dass auch sie Angst vor dem „Islamischen Staat“ (IS) bekommen hätten. Ihre Tochter, die Kläger zu 5., sei zudem krank. Sie habe eine Erbkrankheit, die zur Folge habe, dass das Blut die Milz nicht richtig passieren könne, wodurch sich die Milz ständig vergrößere. Die Erkrankung erfordere eine ständige Behandlung. In Dohuk sei ihre Tochter behandelt worden und hätte fünfmal Bluttransfusionen bekommen. Die Ärzte hätten gesagt, dass die Milz operativ entfernt werden müsse, was allerdings 3.000,00 US-Dollar kosten würden, zuzüglich weiterer Folgekosten für Medikamente. Dies hätten sie nicht finanzieren können, zumal er, der Kläger zu 1., manchmal nur in einer Woche im Monat Arbeit gefunden und monatlich lediglich ca. 200,00 US-Dollar verdient habe. Es sei schwer gewesen, die Familie hiervon zu ernähren; zum Teil hätten sie in den Lebensmittelmärkten anschreiben lassen. Die Flucht nach Deutschland hätten sie durch den Verkauf ihres Hauses finanziert. In Deutschland sei ihre Tochter bereits in Behandlung gewesen und habe Medikamente gegen die Schmerzen bekommen.

Mit Bescheid vom 16. Oktober 2016, den Klägern am 22. Oktober 2016 zugestellt, lehnte das Bundesamt den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1) und erkannte den Klägern den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Nr. 2). Zudem stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen (Nr. 3) und drohte die Abschiebung der Kläger in den Irak an (Nr. 4). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) befristete es auf dreißig Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nr. 5). Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, die Kläger hätten sich allgemein auf die unsichere Lage im Irak berufen, von der die gesamte Bevölkerung gleichermaßen betroffen sei. Auch ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG sei in Bezug auf die Klägerin zu 5. nicht zuzuerkennen. Diese Bestimmung solle lediglich vor gravierenden Beeinträchtigungen schützen, diene jedoch nicht dazu, der Klägerin zu 5. eine „hochwertigere Behandlung“ in der Bundesrepublik zu ermöglichen.

Gegen diesen Bescheid haben die Kläger am 26. Oktober 2016 Klage erhoben. Sie überreichten zur Begründung diverse ärztliche Bescheinigungen, darunter ein fachärztliches Attest von Herrn Prof. Dr. S., leitender Oberarzt des Zentrums für Kinder- und Jugendmedizin des Klinikums M-Stadt-Mitte vom 20. August 2018. Dieser diagnostizierte bei der Klägerin zu 5. nach einer molekulargenetischen Untersuchung eine „Sichelzellkrankheit aufgrund des compound-heterozygoten Status für Hämoglobin S und Hämoglobin D“, ferner rezidivierende Schmerzzustände sowie eine chronisch-hämolytische Anämie.

Mit Beschluss vom 14. August 2019 hat das Gericht Beweis erhoben über die Erkrankung der Klägerin zu 5. sowie drohende Gesundheitsrisiken im Falle ihrer Nichtbehandlung durch Einholung eines schriftlichen Gutachtens des Sachverständigen Herrn Prof. Dr. S.. Mit Schreiben vom 3. September 2019 hat dieser ein schriftliches Gutachten erstattet.

Die Kläger haben mit Schriftsatz vom 6. September 2019 ihr Einverständnis zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erteilt und zusätzlich erklärt, die Klage zurückzunehmen, soweit sie ursprünglich auch die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und des subsidiären Schutzstatus begehrt haben. Die Beklagte hat bereits mit Generalerklärung des Bundesamts vom 25. Februar und 24. März 2016 auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

Die Kläger beantragen sinngemäß,

die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16. Oktober 2016 zu verpflichten, festzustellen, dass bezüglich des Irak Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1 AufenthG vorliegen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Das Verfahren ist nach § 92 Abs. 3 S. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) nach der teilweisen Klagerücknahme mit der Kostenfolge des § 155 Abs. 2 VwGO einzustellen.

Die im Übrigen aufrechterhaltene Klage, über die der Berichterstatter gemäß § 76 Abs. 1 Asylgesetz (AsylG) anstelle der Kammer als Einzelrichter sowie im Einverständnis der Beteiligten gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheidet, hat Erfolg.

Die Kläger haben gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zuerkennung von Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1 AufenthG. Der Bescheid des Bundesamtes vom 16. Oktober 2016, mit dem dieses Begehren abgelehnt worden ist, verletzt die Kläger in ihren Rechten und ist aufzuheben, soweit er dem vorgenannten Verpflichtungsausspruch entgegensteht (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO).

1.

Die Klägerin zu 5. hat einen Anspruch auf Zuerkennung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG. Hiernach soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden (Satz 2). Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist (Satz 3). Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist (Satz 4).

Erforderlich für das Vorliegen einer Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG ist dabei zunächst, dass sich die vorhandene Erkrankung des Ausländers in einer Weise verschlechtert, die zu einer erheblichen (konkreten) Gefahr für Leib oder Leben führt, d.h. dass eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung (alsbald) nach der Rückkehr droht (vgl. BVerwG, Urteil vom 22.03.2012 – 1 C 3/11 -, juris Rn. 34; Beschluss vom 17.08.2011 – 10 B 13/11 u. a., juris Rn. 2). Eine wesentliche Verschlechterung des Gesundheitszustands ist dabei nicht schon bei jeder befürchteten ungünstigen Entwicklung anzunehmen, sondern nur bei außergewöhnlich schweren körperlichen oder psychischen Schäden (OVG NRW, Beschluss vom 30.12.2004 – 13 A 1250/04.A, juris Rn. 56).

Darüber hinaus muss die Gefahr nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG konkret sein, d.h. die drohende Rechtsgutsverletzung darf nicht nur im Bereich des Möglichen liegen, sondern muss mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu erwarten sein. Dieses setzt voraus, dass die Verschlechterung des Gesundheitszustandes „alsbald“ nach der Rückkehr des Betroffenen in sein Heimatland eintreten wird, weil er auf die dortigen unzureichenden Möglichkeiten zur Behandlung seines Leidens angewiesen wäre und auch anderswo wirksame Hilfe nicht in Anspruch nehmen könnte (BVerwG, Urteil vom 22.03.2012 - 1 C 3/11, juris Rn. 34). Hierbei wird in zeitlicher Hinsicht regelmäßig ein Prognosezeitraum von etwa einem Jahr nach der Einreise in den Zielstaat als angemessen angesehen, wobei sich aus den besonderen Umständen des Einzelfalls, insbesondere der Natur der Erkrankung, ein abweichender Entscheidungszeitraum ergeben kann (Nds. OVG, Beschluss vom 22.3.2006 – 10 LA 287/05, n.v., S. 6; VG Oldenburg, Beschluss vom 27.01.2016 - 7 B 283/16, juris Rn. 11).

Unter Berücksichtigung dieses rechtlichen Maßstabs liegen die Voraussetzungen für die Zuerkennung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG hinsichtlich der Klägerin zu 5. vor.

Die Klägerin zu 5. leidet gemäß einer fachärztlichen Diagnose an einer sogenannten Sichelzellkrankheit (auch bekannt als Sichelzellenanämie). Hierbei handelt es sich um ein seltenes, genetisch bedingtes Leiden (geschätzte Zahl der Erkrankten in Deutschland: 3.000 Patienten), welches die roten Blutkörperchen in eine gekrümmte, sichelzellähnliche Form zwängt. Ursächlich hierfür ist eine Punktmutation in dem Gen, welches an der Bildung des roten Blutfarbstoffs Hämoglobin beteiligt ist. Die infolge der Erkrankung starr verformten Zellen verursachen Entzündungen an den Innenwänden der Blutgefäße, so dass sich die Adern verengen und vernarben sowie sogenannte „Schmerzkrisen“ auftreten, d.h. massive Schmerzzustände. Das Blut wird zähflüssig und kann wichtige Organe schlechter versorgen. In der Folge kann es, oft schon im Kindesalter, zu Schlaganfällen kommen, ferner zu Schäden an Milz und Lunge (Der Spiegel, Artikel vom 2. März 2019, „Blutsschwestern“, S. 61 f). Nach dem schriftlichen Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. S. weist die bei der Klägerin zu 5. bestehende Erkrankung dabei einen mittleren Schweregrad auf und bedarf einer lebenslangen Behandlung. Diese umfasse zunächst prophylaktische Maßnahmen in Gestalt einer Medikation mit Hydroxycarbamid, als „kurative Behandlung“ sei eine Knochenmarktransplantation in Betracht zu ziehen. In jedem Fall müsse gewährleistet sein, dass der behandelnde Arzt Erfahrungen mit Sichelzellkrankheiten haben.

Eine derartige Behandlung durch auf Sichelzellkrankheiten spezialisiertes medizinisches Fachpersonal vermag die Klägerin zu 5. im Irak indessen ausweislich der dem Gericht vorliegenden Erkenntnismittel nicht zu erlangen.

Die medizinische Versorgungssituation im Irak bleibt angespannt; Korruption ist weitverbreitet. Die für die Grundversorgung der Bevölkerung besonders wichtigen örtlichen Gesundheitszentren (ca. 2.000 im gesamten Land) sind entweder geschlossen oder wegen baulicher, personeller oder Mängel der Ausrüstung nicht in der Lage, die medizinische Grundversorgung sicherzustellen. Die große Zahl von Flüchtlingen belastet das Gesundheitssystem zusätzlich, zumal infolge der fortdauernden Kampfhandlungen im Land nicht nur eine Grundversorgung sichergestellt werden muss, sondern auch die Behandlung schwieriger Schusswunden und Kriegsverletzungen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, Stand: Dezember 2018, S. 25).

Ein staatliches Krankenversicherungssystem existiert nicht. Alle irakischen Staatsbürger, die sich als solche ausweisen können, haben (formalen) Zugang zum Gesundheitssystem. Das Gesundheitswesen besteht dabei aus zum einen aus einem öffentlichen Sektor, zum anderen aus einem privaten, dessen Leistungen besser sind, zugleich aber auch teurer. Fast alle Iraker leben etwa eine Stunde vom nächstliegenden Krankenhaus bzw. Gesundheitszentrum entfernt. In ländlichen Gegenden wohnt jedoch ein bedeutender Teil der Bevölkerung weiter entfernt von solchen Einrichtungen; zudem kann die Versorgungslage bei gravierenden Krankheitsbildern problematisch werden. Die Erstversorgung ist hier grundsätzlich gegeben, allerdings gestaltet sich die medizinische Versorgung umso schwieriger, je kleiner und abgeschiedener das jeweilige Dorf ist. Staatliche wie private Krankenhäuser sind fast ausschließlich in den irakischen Städten zu finden (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, Gesamtaktualisierung am 20. November 2018, letzte Kurzinformation eingefügt am 9. April 2019, S. 110). Bei der Inanspruchnahme privatärztlicher Leistungen muss der Patient zunächst eine Art Praxisgebühr bezahlen (in der Regel zwischen 15.000 und 20.000 irakische Dinare). Für Untersuchungen und Laboranalysen sind danach noch zusätzliche Kosten zu veranschlagen. Medikamente, die der Patient direkt vom Arzt bekommt, sind gleich vor Ort zu bezahlen. In den staatlichen Zentren zur Erstversorgung entfällt zwar in der Regel die Praxisgebühr, jedoch verbleiben die Kosten für eventuelle Zusatzleistungen (BFA, a.a.O., S. 110 f.).

Einem Bericht des European Asylum Support Office zufolge ist die gesundheitliche Infrastruktur in der Kurdischen Autonomieregion besser als im Rest des Irak. Die Gesundheitsversorgung erfolge vornehmlich durch 59 öffentliche Spitäler und hunderte medizinische Grundversorgungseinrichtungen (Primary Health Care Centre). Darüber hinaus gebe es private Krankenhäuser und Ordinationen. Alle Iraker in der Autonomieregion hätten Zugang zu medizinischen Grundversorgungseinrichtungen und Anspruch auf gesundheitliche Behandlung, Zahnbehandlungen und Notversorgungen in öffentlichen Krankenhäusern oder Grundversorgungseinrichtungen. Die zur Verfügung gestellten Dienste seien allerdings vom Budget, von der jeweils verfügbaren Ausstattung und dem existierenden Bestand an Medikamenten ebenso abhängig wie von der Ausbildung des medizinischen Personals (ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Medizinische Versorgung (insbesondere bei Herzproblemen) in Dohuk, Erbil und im gesamten Irak [a-10955-2 (10956)], 18. April 2019 m.w.N.). Die große Anzahl von Binnenflüchtlingen in der Region hat nach Erkenntnissen von ACCORD überdies einen enormen Druck auf die Kapazität des Gesundheitssystems ausgeübt und zu Fällen geführt, in denen Wartelisten für Behandlungen erstellt worden seien. In den letzten drei Jahren sei die Bevölkerung von Dohuk um fast 20 Prozent angestiegen und beherberge mehr als 50 Prozent aller syrischen Flüchtlinge im Irak, ferner mehr als eine halbe Million Binnenflüchtlinge. Aufgrund der vielen Binnenflüchtlinge in Dohuk sei das Gesundheitssystem überfordert, weil die Arbeitsbelastung durch zusätzliche Patienten in den Gesundheitszentren um mehr als 65 Prozent angestiegen sei. Dies habe zu Engpässen beim Gesundheitspersonal, der Vergabe essentieller Medikamenten und der Bereitstellung medizinischer Ausrüstung geführt (ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Medizinische Versorgung (insbesondere bei Herzproblemen) in Dohuk, Erbil und im gesamten Irak [a-10955-2 (10956)], 18. April 2019 m.w.N.).

Bei Berücksichtigung dieser Erkenntnismittel sowie unter Würdigung der glaubhaften Angaben der Kläger zu 1. und 2. zu ihrer finanziellen Situation im Irak erscheint es nach Auffassung des Einzelrichters ausgeschlossen, dass die Klägerin zu 5. im Falle einer Rückkehr in der Lage wäre, eine Behandlung der bei ihr diagnostizierten Sichelzellkrankheit durch Fachärzte zu erlangen.

Bei einer Nichtbehandlung der Krankheit nach Rückkehr in den Irak drohen der Klägerin zu 5. zudem mit erheblicher Wahrscheinlichkeit binnen kurzer Zeit außergewöhnlich schwere körperliche Schäden im Sinne des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG. Der Einzelrichter folgt in diesem Zusammenhang den schlüssigen Ausführungen des ärztlichen Sachverständigen Prof. Dr. S. in seinem schriftlichen Gutachten vom 3. September 2019. Hiernach besteht bei inadäquat behandelter Sichelzellkrankheit ein hohes Risiko für gravierende und irreversible Folgeprobleme. So könne eine inadäquate Behandlung bei Sichelzellkrankheit zum Tode führen, z.B. aufgrund von nicht erkannten Infektionen, etwa aufgrund nicht erkannter Sequestrationskrisen mit „pooling“ der Erythrozyten in der Milz. Folgeprobleme könnten bei einem Abbruch der Behandlung sehr zeitnah auftreten, etwa im Rahmen von Infektionen. Einzelne organbezogene Komplikationen würden demgegenüber oft erst nach zehn bis zwanzig Jahren problematisch.

2.

Die Kläger zu 1. bis 4. und 6. besitzen überdies einen Anspruch auf Zuerkennung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG.

Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Dies ist zu bejahen, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene im Falle seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Schlechte humanitäre Bedingungen im Abschiebezielstaat begründen dabei im Allgemeinen kein Abschiebungsverbot. Anderes kann nur in besonderen Ausnahmefällen gelten, in denen humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen. Dies kann der Fall sein, wenn der Betroffene bei einer Rückkehr aufgrund der humanitären Bedingungen nicht in der Lage wäre, ein Leben zumindest am Rande des Existenzminimums zu führen (BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 – 10 C 15.12, juris Rn. 23 ff. unter Hinweis auf EGMR, Urteile vom 27.05.2008 - 26565/05 (N. / Vereinigtes Königreich), vom 28.02.2008 - 37201/06 (Saadi / Italien) sowie vom 07.07.1989 – 14038/88 (Soering / Vereinigtes Königreich); VG Köln, Urteil vom 09.07.2019 – 17 K 2965/18.A, juris Rn. 101 f.). Auch im Falle einer familiären Lebensgemeinschaft ist dabei für jedes Familienmitglied gesondert zu prüfen, ob ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG (oder § 60 Abs. 7 AufenthG) vorliegt (BVerwG, Urteil vom 04.07.2019 – 1 C 45/18, juris LS 1).

Für die Prognose der bei einer Rückkehr drohenden Gefahren ist bei realitätsnaher Betrachtung der Rückkehrsituation außerdem im Regelfall davon auszugehen, dass eine im Bundesgebiet in familiärer Gemeinschaft lebende Kernfamilie (Eltern und minderjährige Kinder) im Familienverband in ihr Herkunftsland zurückkehrt (BVerwG, Urteil vom 04.07.2019 – 1 C 45/18, juris LS 2). Von einer gemeinsamen Rückkehr im Familienverband ist für die Rückkehrprognose im Regelfall sogar auch dann auszugehen, wenn einzelnen Familienmitgliedern bereits bestandskräftig ein Schutzstatus zuerkannt oder für sie ein nationales Abschiebungsverbot festgestellt worden ist (BVerwG, Urteil vom 04.07.2019 – 1 C 45/18, juris LS 3 unter Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung: BVerwG, Urteile vom 21.09.1999 – 9 C 12.99, BVerwGE 109, 305 und vom 27.07.2000 – 9 C 9.00, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 39).

Der grund- und konventionsrechtliche Schutz des bestehenden Kernfamilienverbandes beeinflusst die rechtliche Bewertung dieser Rückkehrkonstellation und verbietet auch bei bestehender Bleibeberechtigung einzelner Mitglieder in der Regel eine getrennte Betrachtung einzelner Familienmitglieder für den Rückkehrfall. Nicht erst die für den Vollzug der Abschiebung zuständige Ausländerbehörde, sondern bereits das Bundesamt hat davon auszugehen, dass Art. 6 GG und Art. 8 EMRK einer Trennung der in familiärer Gemeinschaft lebenden Kernfamilie entgegenstehen und es daher zur Rückkehr – wegen bestandskräftiger Bleiberechte – entweder nicht oder nur im Familienverband kommen wird. Das Bundesamt entscheidet damit nicht über inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse, die es auch nicht einzelfallbezogen inzident zu prüfen hat. Es berücksichtigt im Rahmen der realitätsnahen Prognose lediglich das im Regelfall aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK folgende Trennungsverbot bei der anzustellenden Prognoseentscheidung, welche Gefahren den einzelnen Familienmitgliedern im Herkunftsland drohen (BVerwG, Urteil vom 04.07.2019 – 1 C 45/18, juris Rn. 21).

Unter Berücksichtigung dieses rechtlichen Maßstabs ist den Klägern zu 1. bis 4. und 6. ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG zuzuerkennen. Im Falle einer hypothetischen Rückkehr im Familienverband gemeinsam mit der achtjährigen Klägerin zu 5. wären sie nicht in der Lage, ihren Lebensunterhalt in einer Weise zu bestreiten, dass sie ihr Existenzminimum sichern könnten.

Abgewiesene Asylbewerber sind bei ihrer Rückkehr in die Region Kurdistan-Irak erheblichen Schwierigkeiten ausgesetzt, wenn sie, wie die Kläger, nicht auf ein unterstützendes (familiäres) Netzwerk zurückgreifen können. Rückkehrer stellen für die Region Kurdistan-Irak auch deshalb eine besondere Belastung bzw. Herausforderung dar, weil der Fokus der staatlichen und nichtstaatlichen Hilfeleistungen auf den Binnenflüchtlingen liegt, nicht hingegen auf den Rückkehrern (VG Aachen, Urteil vom 03.04.2019 – 4 K 1853/16.A, juris Rn. 70). In der Region Kurdistan-Irak besteht eine angespannte humanitäre Situation. Neben einer dort schon länger herrschenden Wirtschafts- und Finanzkrise haben die in der Region Kurdistan-Irak lebenden etwa 1,8 Mio. Binnenflüchtlinge (IDPs) zuzüglich der dort lebenden ca. 240.000 syrischen Flüchtlinge zu einer kritischen humanitären Versorgungslage der Flüchtlinge, Binnenflüchtlinge und der lokalen Bevölkerung geführt. Auch die Lage auf dem Arbeitsmarkt in der Region Kurdistan-Irak ist prekär. Die Region befindet sich in einer schweren Wirtschaftskrise, aufgrund derer es nur wenige Arbeitsplätze gibt, dies bei gleichzeitigem Anstieg der Waren- und Mietpreise. Zugleich existieren zu wenige staatliche und internationale humanitäre Hilfeleistungen. Das durchschnittliche monatliche Einkommen im Irak beträgt zwischen 200,00 und 500,00 US-Dollar. In der Region Kurdistan haben 87 % der Haushalte weniger als 850 US-Dollar als monatliches Einkommen zur Verfügung (siehe hierzu überzeugend sowie mit Nachweisen auf zahlreiche Erkenntnismittel: VG Aachen, Urteil vom 03.04.2019 – 4 K 1853/16.A, juris Rn. 34 ff.).

Diese humanitäre Lage würde auch die Kläger zu 1. bis 4. und 6. sowie den im Jahr 2018 geborenen Kläger im Verfahren 6 A 5730/18 in gravierender Weise betreffen, weil die Kläger bereits bei der Anhörung beim Bundesamt angegeben hatten, durchschnittlich von lediglich ca. 200,00 US-Dollar im Monat gelebt zu haben, also von einem Einkommen, welches am untersten Ende des landesweiten Durchschnitts liegt. In dieser Situation erscheint es ausgeschlossen, dass die Familie ihr Existenzminimum sichern könnte, insbesondere dann, wenn man berücksichtigt, dass sie im Falle einer Rückkehr im Familienverband zugleich diejenigen Kosten für eine rudimentäre medikamentöse Behandlung der Klägerin zu 5. tragen müsste, die zwar schwere körperliche Folgeschäden nicht zu verhindern vermag, aber zumindest die bei einer Sichelzellkrankheit eintretenden Schmerzkrisen im Ansatz lindern könnte.

3.

Die im streitgegenständlichen Bescheid des Bundesamtes enthaltene Abschiebungsandrohung ist hinsichtlich der Bezeichnung Irak als Zielstaat gemäß § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO aufzuheben. Die Kläger haben einen Anspruch auf Zuerkennung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 7 S. 1, Abs. 5 AufenthG, was nach § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AsylG der Bezeichnung des Staates Irak in der Abschiebungsandrohung entgegensteht.

Die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG ist mit der Aufhebung der Abschiebungsandrohung gegenstandslos geworden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 S. 1, S. 2 ZPO.