Sozialgericht Lüneburg
Urt. v. 17.02.2015, Az.: S 16 KR 96/14

Bibliographie

Gericht
SG Lüneburg
Datum
17.02.2015
Aktenzeichen
S 16 KR 96/14
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2015, 44810
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

1. Der Bescheid vom 17.12.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.03.2014 wird aufgehoben.

2. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin hautstraffende Operationen im Bereich der Brüste, der Bauchdecke, der Oberschenkel einschließlich Liposuktion zu gewähren.

3. Die außergerichtlichen Kosten der Klägerin trägt die Beklagte.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Gewährung einer postbariatrischen Wiederherstellungsoperation bei Vorliegen einer Genehmigungsfiktion nach § 13 Abs. 3 a Satz 6 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch, Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V).

Die 1972 geborene Klägerin hat nach einem Magenbanding 50 kg Körpergewicht abgenommen. Unter Vorlage ärztlicher Atteste von Frau Dr. H. vom 06.09.2013, Dr. I. vom 30.08.2013, des Arztes Herrn J. vom 09.09.2013, des Arztes Herrn K. vom 18.09.2013, des Dr. L. vom 27.08.2013 sowie dem Bericht der M.-Klinik vom 18.09.2013 beantragte die Klägerin mit Eingang bei der Beklagten am 25.10.2013 Reduktionsplastiken der überstehenden Hautfalten im Bereich der Beine, des Bauches sowie der Brüste. Mit Schreiben vom 05.11.2013 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass - bevor entschieden werden könne - am 02.02.2013 eine Untersuchung durch den MDK durchgeführt werde. Das Gutachten erstattete N. am 09.12.2013. Die Sachverständige kam darin zu dem Ergebnis, dass unter Berücksichtigung der vorliegenden Befunde und der anamnestischen Angaben eine eindeutige medizinische Indikation für die beantragten Operationen mit Bauchdeckenstraffung, Mammastraffung, Liposuktion der Oberschenkel mit anschließender Weichteilreduktion nicht bestätigt werden könne, da weder Bewegungs- noch Funktionseinschränkungen vorliegen noch therapieresistente entzündliche Hautveränderungen. Am ehesten nachvollziehbar sei der Antrag auf eine gewebereduzierende Operation an den Oberschenkeln, da die Weichteilüberschüsse hier am ausgeprägtesten aufträten. Mit Bescheid vom 17.12.2013 gewährte die Beklagte dementsprechend eine gewebereduzierende Operation an den Oberschenkeln ohne Liposuktion und lehnte im Übrigen den Antrag ab.

Im Widerspruchsverfahren bezieht sich die Klägerin auf den Bericht der M.-Klinik vom 06.01.2014. Die Beklagte veranlasste eine erneute Prüfung durch den Arzt des MDK N. und wies unter Bezugnahme auf den Bescheid vom 17.12.2013 und die dort getroffene medizinische Sachverhaltsaufklärung mit Widerspruchsbescheid vom 14.03.2014 den Widerspruch zurück.

Im Klageverfahren verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter und meint, sehr wohl einen Anspruch auf die beantragten Reduktionsoperationen zu haben. Zum einen sei sie der Ansicht, dass die Reduktionsoperationen als Sachleistung gemäß § 13 Abs. 3 a Satz 6 SGB V als genehmigt gelte, da über den Antrag nicht innerhalb der dort geforderten 5-Wochen-Frist entschieden worden sei. Eine rechtzeitige schriftliche Mitteilung der Beklagten an die Klägerin, man könne die 5-Wochen-Frist des § 13 Abs. 3 a Satz 1 SGB V nicht einhalten, wie sie § 13 Abs. 3 a Satz 5 zwingend vorschreibe, sei nicht erfolgt. Als Folge dessen sei die Genehmigungsfiktion des § 13 Abs. 3 a Satz 6 SGB V eingetreten. Die Klägerin bezieht sich auf diverse Urteile, die in solchen Fällen die begehrten Maßnahmen als genehmigt angenommen haben. Zudem sei § 13 Abs. 3 a SGB V nicht auf Erstattungsansprüche beschränkt. Der Eintritt der Genehmigungsfiktion bewirke, dass die Prüfung der medizinischen Notwendigkeit ein Ende finde und dem Antragsteller der materielle Sachleistungsanspruch zufalle. Anderenfalls wäre durch das Patientenrechtgesetz keine Änderung der Rechtslage eingetreten, da die angegangene Krankenkasse dann weiter prüfen könnte. Genau dies habe der Gesetzgeber nicht gewollt. Er habe vielmehr bestimmt, dass mit dem Eintritt der Genehmigungsfiktion das Antragsverfahren in der Hauptsache erledigt sei. Die Genehmigungsfiktion ersetze einen positiven Bewilligungsbescheid. Zum anderen führte die Klägerin aus, dass die beantragten Operationen medizinisch notwendig seien.

Die Klägerin beantragt,

1. den Bescheid vom 17.12.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.03.2014 aufzuheben,

2. die Beklagte zu verurteilen, Straffungsoperationen im Bereich der Brüste, Bauchdecke und Oberschenkel, letztere mit einer Liposuktion verbunden, zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie führte aus, dass der Versicherten mit Schreiben vom 05.11.2013 mitgeteilt worden sei, dass, bevor über den Antrag entschieden werden könne, eine medizinische Untersuchung erforderlich sei. Hieraus ergebe sich eindeutig, dass und warum die Beklagte die Frist nach § 13 Abs. 3 a Satz 1 SGB V nicht habe einhalten können. Die Beklagte sei ihrer Mitteilungspflicht nach § 13 Abs. 3 a Satz 5 SGB V deshalb nachgekommen. Dass eine Verwaltungsentscheidung zwingend ein Zitat der gesetzlichen Vorschrift enthalten müsse, sei absolut nicht erforderlich. Die Versicherte habe auch so eindeutig erkennen können, was zur Entscheidungsfindung in ihrer Angelegenheit noch erforderlich gewesen sei und wie sich der zeitliche Ablauf gestaltet habe. Zudem greife die Genehmigungsfiktion nur dann ein, wenn der Antrag eine grundsätzlich von der Kasse innerhalb des Systems der GKV geschuldete Leistung betreffe und sie dem Qualitätsgebot und dem Wirtschaftlichkeitsgebot entspreche. Es sei nicht die Absicht des Gesetzgebers gewesen, im Rahmen der Genehmigungsfiktion das Wirtschaftlichkeitsgebot gemäß § 12 Abs. 1 SGB V außer Kraft zu setzen. Selbst wenn die Genehmigungsfiktion greifen sollte, dürften die Leistungen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig und unwirtschaftlich seien, könnten Versicherte auch im Rahmen der Genehmigungsfiktion nicht beanspruchen.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung von Befundberichten bei Dr. J. und Dr. H. Es hat zudem Dr. O. mit der Erstattung eines chirurgischen Gutachtens beauftragt, das dieser in der mündlichen Verhandlung vom 17.02.2015 erstellte. Dr. O. kam zu dem Ergebnis, dass eine OP-Indikation für die Oberschenkelkorrektur beidseits mit Hauptstraffung und zusätzlicher Liposuktion bestehe. Die übrigen begehrten Operationen hinsichtlich Arme, Bauch und Brüste stellten dagegen kosmetische Operationen dar.

Außer der Gerichtsakte war die Beklagtenakte, die Klägerin betreffend, Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidungsfindung. Auf ihren Inhalt wird wegen des weiteren Sachverhalts ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist form- und fristgerecht erhoben und daher zulässig.

Die Klage ist auch begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 17.12.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.03.2014 war aufzuheben, da eine Genehmigungsfiktion nach § 13 Abs. 3 a SGB V eingetreten ist mit der Folge, dass die Beklagte zu den begehrten Leistungen zu verurteilen war.

Die Klägerin kann sich  auf § 13 Abs. 3 a SGB V berufen. Danach hat die Krankenkasse über einen Antrag auf Leistungen zügig, spätestens bis zum Ablauf von 3 Wochen nach Antragseingang, oder in Fällen, in denen eine gutachterliche Stellungnahme, insbesondere des Medizinischen Dienstes, eingeholt wird, innerhalb von 5 Wochen nach Antragseingang zu entscheiden. Kann die Krankenkasse die Frist nach Satz 1 nicht einhalten, teilt sie dies dem Leistungsberechtigten unter Darlegung der Gründe rechtzeitig schriftlich mit (Satz 5). Erfolgt keine Mitteilung eines hinreichenden Grundes, gilt die Leistung nach Ablauf der Frist als genehmigt (Satz 6). Beschaffen sich Leistungsberechtigte nach Ablauf der Frist eine erforderliche Leistung selbst, ist die Krankenkasse nach § 13 Abs. 3 a Satz 7 SGB V zur Erstattung der hierdurch entstandenen Kosten verpflichtet. Diese Vorschrift beruht auf dem Patientenrechtsgesetz vom 20.2.2013 und ist zum 26.2.2013 in Kraft getreten. Sie zielt darauf ab, die Entscheidungsprozesse der Krankenkassen im Interesse der Patienten zu beschleunigen. Deshalb werden der Krankenkasse durch diese Vorschrift im Verwaltungsverfahren bestimmte Fristen auferlegt, die verhindern sollen, dass Versicherte unzumutbar lange auf eine Entscheidung warten müssen (Beck-Online-Kommentar SGB V, § 13 Rdnr. 21a). Der spezifische Schutzzweck dieser Norm liegt also darin, Antragsteller bzw. Versicherte in dem grundrechtsrelevanten Bereich des Gesundheitsschutzes (vgl. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz - GG) vor den Folgen eines unangemessen langen Verwaltungsverfahrens zu schützen (Hauck/Noftz, SGB V, Loseblatt, Ergänzungslieferung 3/2014, § 13 Rdnr. 58l). Insoweit kommt der Vorschrift gegenüber der zu langsam arbeitenden Krankenkasse auch eine gewisse Sanktionswirkung zu (Prof. Ulrich Wenner, Patientenrechte im Krankenversicherungsrecht, SGB, 2013, Seiten 162 ff., SG Mannheim Urteil vom 03.06.2014, Aktenzeichen: S 9 KR 3174/13).

Die Beklagte hat die 5-Wochen-Frist nach § 13 Abs. 3 a SGB V nicht eingehalten und der Klägerin die Gründe hierfür nicht mitgeteilt. Zwar hat die Beklagte auf den Antrag vom 25.10.2013 der Klägerin mit Schreiben vom 05.11.2013 mitgeteilt, dass, bevor über den Antrag entschieden werden könne, eine medizinische Untersuchung erforderlich sei und diese am 02.12.2013 durchgeführt werden solle. In diesem Schreiben war jedoch weder hervorgehoben, dass überhaupt eine gesetzliche Frist nicht eingehalten werden kann oder soll, noch wird ausdrücklich und verständlich ein Grund für eine fehlende Fristeinhaltung mitgeteilt. Vor Ablauf der 5-Wochen-Frist am 29.11.2013 war demnach die auf den 02.12.2013 festgesetzte Untersuchung überhaupt nicht vorgesehen. Die gesetzliche Verpflichtung hat eine wichtige Brückenfunktion zwischen der Bindung an die Entscheidungsfristen und den an die Überschreitung geknüpften Sanktionen nach Satz 6 und 7. Normzweck ist es, den Versicherten Klarheit darüber zu verschaffen, ob die Entscheidung fristgerecht erfolgt oder eine Selbstbeschaffung zulässig ist. Die vorgeschriebene Schriftform trägt der Bedeutung der Mitteilung Rechnung und hat Klarstellungs- und Beweisfunktion (vgl. Sozialgericht Marburg, Urteil vom 15.01.2015, Az. S 6 KR 160/13). Hervorzuheben ist insoweit, dass der Gesetzgeber ausdrücklich und unmissverständlich im Wortlaut von einer Mitteilung eines hinreichenden Grundes für die Nichteinhaltung der Frist spricht und damit an die benannte Warnfunktion anknüpft. Wenn die Nichteinhaltung einer gesetzlichen 5-Wochen-Frist schon nicht mitgeteilt wird und auch nicht die Folgen aufgeführt werden, dann wird die mit § 13 Abs. 3 a SGB V gesetzlich normierte Warnfunktion nicht erfüllt.

Durch die Genehmigungsfiktion gilt die Genehmigung der beantragten Leistung durch einen fingierten Verwaltungsakt als erlassen.

Dabei steht der Klägerin nicht nur ein Anspruch auf Kostenerstattung für die Selbstbeschaffung der begehrten Leistung zu,  sondern auch der hier geltend gemachte Versorgungsanspruch als Sachleistungsanspruch. Dem steht § 13 Abs. 3 a SGB V nicht entgegen. Nach dem klaren Wortlaut der Norm gewähren Satz 6 und Satz 7 mittels einer Genehmigungsfiktion einen Sachleistungsanspruch oder einen Kostenerstattungsanspruch für die erforderliche Leistung. Zwar hatte der Gesetzgeber zunächst lediglich einen Kostenerstattungsanspruch für erforderliche Leistungen ins Auge gefasst, wie es sich aus dem Entwurf des Patientenrechtsgesetz (PatRechtG) ergibt (BR-Drucks. 312/12, S.46, siehe auch BT-Drucks. 17/10488, S. 32). Nachdem durch den Ausschuss für Gesundheit des Deutschen Bundestags im November 2012 mit dem Satz 6 eine Genehmigungsfiktion der Leistung bei Nichteinhaltung der Fristen neben der in Satz 7 geregelten Kostenerstattung aufgenommen worden war (BT-Drucks. 17/11710 S.30), um es dem Versicherten zu erleichtern, sich die ihm zustehende Leistung zeitnah zu beschaffen, wurden Satz 6 und Satz 7 - ohne weitere den klaren Wortlaut im Sinne der Beklagten einschränkende Erläuterungen - in der Gesetzesänderung aufgenommen. Beide Sätze stehen ihrem Wortlaut nach gleichberechtigt nebeneinander. Wäre der Geltungsbereich des § 13 Abs. 3 a SGB V lediglich auf einen Kostenerstattungsanspruch beschränkt, käme Satz 6 kein eigener Regelungsgehalt zu. Zudem schlösse eine solche Auslegung mittellose Versicherte, die nach Ablauf der Frist nicht in der Lage sind, sich die begehrte Leistung selbst zu beschaffen, entgegen des Gleichbehandlungsgebots nach Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) praktisch aus dem Schutzbereich des § 13 Abs. 3 a SGB V aus (so im Ergebnis auch SG Dessau-Roßlau, Urteil vom 18.12.2013 - S 21 KR 282/13 -, SG Nürnberg, Beschluss vom 25.3.2014 - S 7 KR 100/14 ER - und Urteil vom 27.3.2014 - S 7 KR 520/13 - und wohl auch SG Dortmund, Beschluss vom 31.1.2014 - S 28 KR 1/14 ER - sowie Noftz in Hauck/Haines, SGB V, Erg.-Lfg. 1/14, § 13 S. 78g ff). Selbst wenn man sich der Auffassung anschließen würde, § 13 Abs. 3 a SGB V gewähre nur einen Kostenerstattungsanspruch, so gelangt man zu keinem anderen Ergebnis, da der Kostenerstattungsanspruch auch einen Anspruch auf Freistellung umfasst  (SG Marburg, Urteil vom 15. Januar 2015 – S 6 KR 160/13).

Dem Anspruch steht auch nicht entgegen, dass der Sachverständige Dr. O. in der mündlichen Verhandlung lediglich einen Anspruch auf Liposuktion und Operation der Oberschenkel für medizinisch notwendig hielt. Durch die Fiktion der Genehmigung ist die Leistungsberechtigung der Klägerin wirksam verfügt und die Beklagte mit allen Einwendungen (wie z. B. der Frage, ob es sich um eine neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode handelt und ob die Leistung erforderlich im Sinne des § 12 Abs. 1 S. 1 SGB V ist) ausgeschlossen. Nur auf diese Weise kann der Wunsch des Gesetzgebers, generalpräventiv die Zügigkeit des Verwaltungsverfahrens zu verbessern, umgesetzt werden. Dieses Ziel würde ins Leere laufen, könnte die Genehmigungsfiktion durch eine (außerhalb der Frist erfolgende) nachträgliche Prüfung der einzelnen Leistungsvoraussetzungen wieder erlöschen (vgl. LSG NRW, Urteil vom 23.05.2014, AZ. L 5 KR 222/14 B ER, SG Gelsenkirchen, Urteil, vom 29.01.2015, Az. S 17 KR 479/14, SG Augsburg, 27.11.2014, AZ. S 12 KR 183/14).

Aus alledem folgt, dass die Klage Erfolg haben musste unabhängig davon, ob das Gutachten des Dr. O. zu dem Ergebnis gekommen ist, dass lediglich die Operation an den Beinen einschließlich Liposuktion medizinisch notwendig ist, während die übrigen begehrten Operationen lediglich Schönheitsoperationen darstellen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).