Verwaltungsgericht Braunschweig
Urt. v. 01.03.2002, Az.: 4 A 234/01
Außenkontakt; Betreuung; Down-Syndrom; Eingliederungshilfe; Erlebnisreise; geistige Behinderung; Gemeinschaftsreise; Kostenübernahme; Langzeiteinrichtung
Bibliographie
- Gericht
- VG Braunschweig
- Datum
- 01.03.2002
- Aktenzeichen
- 4 A 234/01
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2002, 42331
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 39 BSHG
- § 40 Abs 1 Nr 8 BSHG
- § 19 Abs 1 BSHG§47V
Tenor:
Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung ihres Bescheides vom 19. März 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Niedersächsischen Landesamtes für Zentrale Soziale Aufgaben vom 10. Juli 2001 verpflichtet, die Kosten für die Erlebnis- und Gemeinschaftsreise vom 7. bis 18. Mai 2001 in den Harz in Höhe von 274,05 € (= 536,-- DM) zu übernehmen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens; Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden nicht erhoben.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte kann eine vorläufige Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des festzusetzenden Vollstreckungsbetrages abwenden, sofern nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Übernahme der Kosten einer Erlebnis- und Gemeinschaftsreise aus Mitteln der Eingliederungshilfe.
Die am 8. September 1962 geborene Kläger besuchte von 1970 bis 1973 die Sonderschule für geistig Behinderte. Seit dem 1. Januar 1974 lebt er stationär beim Lobetalarbeit e.V. in Celle und besucht dort die Heimsonderschule G-Bereich. Er leidet an Mongolismus (Down-Syndrom) schweren Grades. Die Kosten für die Betreuung des Klägers in dieser Einrichtung (Langzeiteinrichtung mit sichergestellter schulischer Versorgung) trägt das Niedersächsische Landesamt für Zentrale Soziale Aufgaben im Rahmen seiner sachlichen Zuständigkeit gemäß § 100 Abs. 1 Nr. 1 BSHG.
Nach dem Entwicklungsbericht vom 7. August 1998 benötigt der Kläger aufgrund der Schwere seiner Behinderung bei allen Tätigkeiten ständige Hilfe und Aufsicht und kann sich nur innerhalb des Heimgeländes selbständig bewegen. Er kann nicht lesen, schreiben und rechnen. Neben einer einmal jährlich stattfindenden Gemeinschaftsreise hat der Kläger brieflichen und telefonischen Kontakt zu seiner Mutter und gelegentliche Besuche der Betreuerin. In Begleitung eines Mitarbeiters der Einrichtung nimmt er rege an vielen öffentlichen Veranstaltungen des Dorfes Garßen, der Stadt Celle und der Lobetalarbeit teil. Auf dieser Basis lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 9. September 1999 die Kostenübernahme für eine Gemeinschaftsreise im Jahr 1999 ab, weil nach dem Entwicklungsbericht vom 7. August 1998 hinreichende Außenkontakte vorlägen. Am 14. Februar 2001 beantragte er die Übernahme der Kosten für eine Gemeinschaftsreise vom 7. Bis 18. Mai 2001 in die Kreuzbachhütte im Harz. Zur Begründung wird auf den Schriftwechsel aus dem Jahr 1999 hingewiesen und nochmals die Schwere der Behinderung des Klägers hervorgehoben. Die nun geplante Gemeinschaftsreise fördere seine Entwicklung, um ihm das Leben außerhalb seiner Wohngruppe und in der Gemeinschaft zu ermöglichen bzw. zu erleichtern. Dieser Antrag wurde durch den Bescheid der Beklagten vom 19. März 2001 abgelehnt, weil der Kläger objektiv in der Lage sei, an den angebotenen Freizeitaktivitäten z.B. in Garßen und Celle teilzunehmen. Der hiergegen eingelegte Widerspruch, in dem ergänzend ausgeführt wurde, dass Mitbewohnern mit ähnlicher geistiger Behinderung von deren zuständigen Kostenträgern die Kostenübernahme bewilligt worden sei, wurde durch den Widerspruchsbescheid des Nds. Landesamtes für Zentrale Soziale Aufgaben vom 10. Juli 2001 zurückgewiesen.
Hiergegen hat der Kläger am 10. August 2001 den Verwaltungsrechtsweg beschritten. Zur Begründung führt sie im Wesentlichen aus, dass es sich bei der Gemeinschaftsreise um eine Maßnahme handele, die im Sinne des § 40 Abs. 1 Nr. 8 BSHG i.V.m. § 19 Nr. 1 Eingliederungshilfe-VO geeignet sei, den Behinderten die Begegnung und den Umgang mit nicht behinderten Personen zu ermöglichen und zu erleichtern. Ihm könne auch nicht entgegengehalten werden, dass eine Teilnahme an dieser Gemeinschaftsreise wegen ausreichender Außenkontakte nicht erforderlich sei. Die bestehenden Außenkontakte seien auch unter Berücksichtigung ihrer behinderungsbedingten Orientierungslosigkeit nicht geeignet, die positiven Aspekte zu ersetzen, die mit einer Gemeinschaftsreise verbunden sind. Aus diesem Grunde müssten die Kosten für diese Erlebnisreise, an der er auch tatsächlich teilgenommen habe, aus Eingliederungshilfemitteln übernommen werden.
In der mündlichen Verhandlung hat die Betreuerin des Klägers Art und Umfang dieser Außenkontakte näher erläutert. Danach handelt es sich um kleinere Aktivitäten im Umfang von jeweils ca. zwei Stunden, die nur etwa sechs Mal im Jahr stattfinden. Hinzu kämen gelegentliche auch kurzfristige Besuche bei der Betreuerin zum Kaffeetrinken, wozu die Betreuerin den Kläger jeweils abholt und wieder zurückbringt.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 19. März 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Niedersächsischen Landesamtes für Zentrale Soziale Aufgaben vom 10. Juli 2001 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die Kosten für die Erlebnis- und Gemeinschaftsreise vom 7. bis 18. Mai 2001 in den Harz in Höhe von 536,00 DM zu übernehmen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vortrags der Beteiligten im Übrigen wird auf die Gerichtsakte und den beigezogenen Verwaltungsvorgang der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig und auch begründet.
Es ist insoweit unstreitig, dass der Kläger zum Personenkreis des § 39 BSHG gehört und damit dem Grunde nach Anspruch auf Eingliederungshilfe hat. Außerdem ist im vorliegenden Fall der Anspruch auf Übernahme der Kosten von Reisen der vorliegenden Art nach § 40 Abs. 1 Nr. 8 BSHG (in der bis zum 30. Juni 2001 geltenden Fassung; vgl. BGBL. I 2001, S. 1046, 1111, 1139) i.V.m. § 19 Nr. 1 der VO zu § 47 BSHG (Eingliederungshilfe-VO) grundsätzlich gegeben. Gemäß § 19 Nr. 1 Eingliederungshilfe-VO umfasst die Hilfe nach § 40 Abs. 1 Nr. 8 BSHG nämlich Maßnahmen, die geeignet sind, dem Behinderten die Begegnung und den Umgang mit nicht behinderten Personen zu ermöglichen, zu erleichtern oder diese vorzubereiten. Die Aufgabe der Eingliederung ist es, eine vorhandene Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und den Behinderten in die Gesellschaft einzugliedern. In Anlehnung an die Rechtsprechung niedersächsischer Verwaltungsgerichte hat das Niedersächsische Landesamt für Zentrale Soziale Aufgaben für seinen Zuständigkeitsbereich nach § 100 BSHG die Rundschreiben vom 07. Januar 1995, 29. November 1996 und zuletzt vom 27. November 1997 verfasst, in denen es um Gemeinschaftsreisen für Behinderte in Heimen im Rahmen der Eingliederungshilfe geht. In diesen Rundschreiben geht das Niedersächsische Landesamt für Zentrale Soziale Aufgaben davon aus, dass Gemeinschaftsreisen Maßnahmen der Eingliederungshilfe nach § 40 Abs. 1 Nr. 8 BSHG sind, die in aller Regel als Gruppenfahrten aus behindertenpädagogischen Gründen durchgeführt werden. Sie sind deshalb keine Urlaubsreisen, aber auch keine Kurmaßnahmen. Die Maßnahme muss geeignet sein, dem Behinderten am Zielort die Begegnung und den Umgang mit nicht behinderten Personen zu ermöglichen oder zu erleichtern. Sie soll zudem durch die Vermittlung neuer Eindrücke und die Entwicklung der Bereitschaft zu Aktivitäten in der Gemeinschaft die Persönlichkeitsentwicklung fördern, vor allem im Hinblick auf eine positive Lebenseinstellung und eine vergrößerte Selbständigkeit. Ziele einer Gemeinschaftsreise sind insbesondere, das Zusammenleben in einer Gemeinschaft unter veränderten Bedingungen kennen zu lernen, einzuüben und die Sozialisationsfähigkeiten zu fördern, die Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit zu fördern, die Orientierungsfähigkeit in einer anderen als er sonst gewohnten Umgebung zu entwickeln oder zu stärken, die Teilnehmer mit ihnen ungewohnten Lebensformen bekannt zu machen, die Fähigkeit der Teilnehmer zur Kontaktaufnahme und zur Herstellung neuer Beziehungen zu fördern und zu stärken (Integration), eine stationäre Maßnahme durch eine ergänzende behindertenpädagogische Maßnahme am anderen Ort und unter veränderten situativen Anforderungen an den Behinderten zu unterstützen. Zwischen den am Verfahren Beteiligten ist unumstritten, dass die hier im Streit befindliche Gemeinschaftsreise in den Harz diesen Maßstäben gerecht wird. Umstritten ist allein, ob der Kläger zu dem begünstigten Personenkreis gehört. Nach Nr. 2 des Rundschreibens gehören zu dem begünstigten Personenkreis diejenigen Personen, die nicht über hinreichende Außenkontakte außerhalb der Einrichtung verfügen, in der sie betreut werden.
Aufgrund der Entwicklungsberichte vom 7. August 1998 und 26. September 2000 sowie der Stellungnahmen der Einrichtung vom 18. August 1999, 3. September 1999, 8. März 2001 und 31. Mai 2001 lässt sich zur Überzeugung des erkennenden Gerichts entgegen der Ansicht der Beklagten nicht herleiten, dass der Kläger über Außenkontakte auch zu nicht behinderten Mitmenschen in einem Umfang verfügt, die Maßnahmen nach § 19 Nr. 1 Eingliederungshilfe-VO nicht mehr erforderlich erscheinen lassen. Nach dieser Regelung umfassen Hilfen zur Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft Maßnahmen, die geeignet sind, dem Behinderten die Begegnung und den Umgang mit nicht behinderten Personen zu ermöglichen, zu erleichtern oder diese vorzubereiten. Es reicht somit aus, wenn die Maßnahme geeignet ist, den Umgang mit nicht behinderten Personen auch nur zu erleichtern. Aus den Stellungnahmen der Einrichtung und den ergänzenden Erläuterungen in der mündlichen Verhandlung ergibt sich, dass der Kläger in dem hier maßgebenden Zeitraum bis zum Erlass des Widerspruchsbescheides vom 10. Juli 2001 unabhängig von Aktivitäten der Einrichtung nur etwa alle vier Wochen von seiner Betreuerin besucht oder von dieser abgeholt wird. Kontakte zu seiner Mutter beschränken sich auf Briefe und Telefonate. Derartige Außenkontakte im familiären Bereich sowie zu Betreuern sind sehr sinnvoll und unterstützenswert, um den Kontakt zur Familie und zu Betreuern zu erhalten und die Eigenständigkeit des Klägers zu fördern, diese Kontakte im weiteren Familienkreis haben jedoch qualitativ eine ganz andere Bedeutung als Kontakte zu sonstigen nicht behinderten Personen, weil Familienangehörige/Betreuer grundsätzlich eher geneigt und in der Lage sind, auf die behinderungsbedingten Probleme eines Familienangehörigen/Betreuten einzugehen. Deshalb sind solche Kontakte auch nicht geeignet, Außenkontakte zu sonstigen nicht behinderten Personen zu ersetzen.
Auch die Aktivitäten der Einrichtung außerhalb des Einrichtungsgeländes sind nicht geeignet, ausreichende Außenkontakte zu nicht behinderten Menschen zu ermöglichen. Dabei muss zum einen beachtet werden, dass der Kläger nur in Begleitung von Betreuern an Aktivitäten außerhalb der Einrichtung, z.B. Gaststättenbesuche und öffentliche Veranstaltungen, teilnehmen kann. Im Übrigen ergibt sich dies auch bereits daraus, dass die beschriebenen Freizeitaktivitäten nach den überzeugenden Ausführungen in der mündlichen Verhandlung nur ca. sechs Mal im Jahr und dann auch nur für die Dauer von ca. 2 Stunden stattfinden. Schon diese geringe Dauer lässt es nicht zu, Außenkontakte zu nicht behinderten Menschen aufzubauen. Weitere Außenkontakte erwirbt der Kläger auch nicht durch seine Beschulung, weil die Heimsonderschule im Bereich der Einrichtung liegt, so dass er auch in diesem Rahmen nicht in der Lage war, Kontakte zu nicht behinderten Personen aufzubauen, die außerhalb der Einrichtung wohnen. Hinzu kommt, dass das Nds. Landesamt für Zentrale Soziale Aufgaben in seinem aktuellen Erlass vom 27. November 1997 unter Nr. 4.1 selbst in überzeugender Weise davon ausgeht, dass Gemeinschaftsreisen eine Mindestdauer von 6 Tagen dauern müssen, um die gewünschten Zwecke erreichen zu können. Deshalb sind Kurzzeitaktivitäten regelmäßig schon aufgrund ihrer geringeren Dauer nicht geeignet, die positiven Aspekte, die mit einer Gemeinschaftsreise verbunden sind, zu ersetzen. Zu weiteren eigenständigen Außenkontakten außerhalb der Einrichtung ist der Kläger aufgrund seiner behinderungsbedingten Orientierungslosigkeit und damit verbundenen Hilflosigkeit nicht in der Lage.
Somit gehört der Kläger zu dem Personenkreis, den auch das Niedersächsische Landesamt für Zentrale Soziale Aufgaben durch sein Rundschreiben vom 27. November 1997 begünstigen möchte. Weiter hat das erkennende Gericht bei seiner Entscheidung auch berücksichtigt, dass gemäß Nr. 4.2 des Rundschreibens Zuschüsse zu Gemeinschaftsreisen bei Gemeinschaftsreisen von insgesamt nicht mehr als 13 Tagen im Jahr, frühestens erst im nächsten Kalenderjahr in Betracht kommen. Nach Aktenlage ist beim Kläger zumindest seit 1998 keine Gemeinschaftsreise mit Zuschüssen unterstützt worden, so dass dieser zeitliche Abstand beachtet worden ist.
Aus diesem Grunde hat die Klage Erfolg.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO.
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 167 VwGO i.V.m. 708 Nr. 11, 711 ZPO.