Verwaltungsgericht Braunschweig
Urt. v. 01.03.2002, Az.: 3 A 216/01
Dauer des Zusammenlebens; eheähnliche Gemeinschaft; Haushaltsgemeinschaft; intimer Kontakt; Lebensgemeinschaft; Pflege; Pflegeverhältnis; Schwerstbehinderung; Sozialhilfe; Wirtschaftgemeinschaft
Bibliographie
- Gericht
- VG Braunschweig
- Datum
- 01.03.2002
- Aktenzeichen
- 3 A 216/01
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2002, 41854
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 122 BSHG
Tenor:
Der Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger für die Zeit vom 01.02.2001 bis zum 30.08.2001 Hilfe zum Lebensunterhalt in gesetzlicher Höhe zu bewilligen. Die Bescheide vom 18.01.2001 und 28.02.2001 i.d.F. des Widerspruchsbescheides des Beklagten vom 28.08.2001 werden aufgehoben, soweit sie dem entgegenstehen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens; Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden nicht erhoben.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Der Beklagte kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe der vollstreckbaren Kosten abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Weitergewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt über den 01.02.2001 hinaus ohne Annahme einer eheähnlichen Gemeinschaft.
Der am 23.08.1929 geborene Kläger ist schwerstbehindert. Seit seinem Zuzug aus Berlin im Jahre 1986 steht er im laufenden Sozialhilfebezug. Nach einem vom 26.07. bis 30.07.1993 dauernden Krankenhausaufenthalt im Krankenhaus W. zog der Kläger in die Wohnung der Frau J. Straße 2 in W.. Unter dem 02.09.1993 teilte er der damals zuständigen Stadt W. mit, seine Sozialhilfe solle auf das Konto der Frau J. überwiesen werden. Am 25.01.1995 fand durch Mitarbeiter der damals zuständigen Stadt W. ein Hausbesuch in der Wohnung des Klägers und der Frau J. statt; auf das im Verwaltungsvorgang des Beklagten befindliche Protokoll über diesen Hausbesuch wird Bezug genommen. Nach Prüfung des Vorliegens einer eheähnlichen Gemeinschaft zwischen dem Kläger und Frau J. leistete die Stadt W. weiter Hilfe zum Lebensunterhalt und Hilfe in besonderen Lebenslagen.
Am 15.01.2001 fand durch Mitarbeiter des Beklagten ein zweiter Hausbesuch statt; auf das Protokoll über diesen Hausbesuch im Verwaltungsvorgang wird Bezug genommen.
Auf der Grundlage der bei diesem Hausbesuch getroffenen Feststellungen lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 18.01.2001 die Weitergewährung der Hilfe zum Lebensunterhalt über den 01.02.2001 hinaus ab und führte zur Begründung an, dass zwischen dem Kläger und Frau J. eine eheähnliche Gemeinschaft bestehe und Frau J. aufgrund ihres Einkommens den Lebensunterhalt des Klägers decken könne und müsse. Mit Bescheid vom 28.02.2001 wurde dem Kläger das Pflegegeld in Höhe von 800,00 DM monatlich über den 01.02.2001 hinaus weiter bewilligt. Gegen diese Bescheide hat der Kläger mit Schreiben vom 14.02. und 19.03.2001 Widerspruch eingelegt und zur Begründung angeführt, zwischen ihm und Frau J. bestehe keine eheähnliche Gemeinschaft, sondern eine reine Zweckgemeinschaft. Die gemeinsame Nutzung der Wohnung und die festgestellte Art des gemeinsamen Wirtschaftens habe rein pflegerische Gründe.
Am 11.07.2001 hat der Kläger Klage zunächst als Untätigkeitsklage erhoben, die er nach Erlass des Widerspruchsbescheides vom 28.08.2001 als Verpflichtungsklage weiterführt.
Der Kläger beantragt,
den Beklagten zu verpflichten, ihm Hilfe zum Lebensunterhalt ohne Berücksichtigung des Einkommens der Frau J. über den 01.02.2001 hinaus zu bewilligen und die Bescheide des Beklagten vom 18.01.2001 und 28.02.2001 i.d.F. des Widerspruchsbescheides vom 28.08.2001 aufzuheben, soweit sie dem entgegenstehen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er vertritt weiterhin die Auffassung, dass zwischen dem Kläger und Frau J. eine eheähnliche Gemeinschaft anzunehmen sei.
Die erkennende Kammer hat das Verfahren durch Beschluss vom 12.11.2001 auf die Berichterstatterin als Einzelrichterin übertragen.
Das Gericht hat am 17.01.2001 durch Besichtigung der Wohnung und Vernehmung der Frau J. als Zeugin Beweis erhoben. Auf das Protokoll vom 17.01.2002 wird Bezug genommen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze, den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie die Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der Entscheidungsfindung.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig und begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf Weitergewährung laufender Hilfe zum Lebensunterhalt über den 01.02.2001 hinaus ohne Berücksichtigung einer eheähnlichen Gemeinschaft mit Frau J.. Die diese Leistungen ablehnenden angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten.
Gemäß § 122 BSHG dürfen Personen, die in eheähnlicher Gemeinschaft leben, hinsichtlich der Voraussetzungen sowie des Umfanges der Sozialhilfe nicht besser gestellt werden als Ehegatten. Eine eheähnliche Gemeinschaft ist eine auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaft eines Mannes und einer Frau, die sich durch besondere innere, das gegenseitige Einstehen der Partner füreinander begründende Bindung auszeichnet und damit über eine Haushalts- und Wirtschaftsgemeinschaft hinausgeht (BVerwG, Urt. v. 17.05.1995, BVerwGE 98, 195, 198). Sind diese Voraussetzungen erfüllt, so ist bei der Berechnung des Sozialhilfeanspruchs eines Partners das Einkommen und Vermögen des anderen Partners zu berücksichtigen (§§ 122 Satz 1, 11 Abs. 1 Satz 2 BSHG). Entscheidend für die Frage, ob zwischen zwei Personen verschiedenen Geschlechts eine eheähnliche Gemeinschaft besteht, ist dabei das Gesamtbild der festzustellenden Indizien, wobei die "schlichte" Erklärung, eine solche Gemeinschaft bestehe nicht, zum Ausschluss der Annahme des Vorliegens einer eheähnliche Gemeinschaft nicht ausreicht (B. d. erk. Kammer v. 25.04.2001 - 3 B 114/01 -). Das Bundesverwaltungsgericht hat zur Überprüfung des Vorliegens einer eheähnlichen Gemeinschaft Folgendes ausgeführt:
"Als Hinweistatsachen für das Vorliegen einer Verantwortungs- und Einstehungsgemeinschaft i.S. des § 122 Satz 1 BSHG sind beispielhaft anzusehen: eine lange Dauer des Zusammenlebens (gewichtigstes Indiz), bei Zusammenfall des Beginns des Zusammenlebens mit dem Beginn des streitgegenständlichen Leistungszeitraums auch Dauer und Intensität der Bekanntschaft vor Begründung der Wohngemeinschaft, der Anlaß für das Zusammenziehen, die konkrete Lebenssituation der Partner während der streitgegenständlichen Zeit und die - nach außen erkennbare - Intensität der gelebten Gemeinschaft. Entscheidend ist stets das Gesamtbild der für den streitgegenständlichen Zeitraum feststellbaren Indizien. Diese Maßstäbe erleichtern infolge der Indizwirkung äußerer Umstände die tatrichterliche Feststellung einer auf Dauer angelegten Lebensgemeinschaft, erfordern aber in jedem Fall eine Würdigung des Gesamtbildes der für den streitgegenständlichen Zeitraum feststellbaren Indizien und lassen damit für die Annahme einer Umkehr der Beweislast bei Vorliegen einer langjährigen Wohngemeinschaft keinen Raum"
(BVerwG, E v. 24.06.1999 - 5 B 114/98 -, recherchiert in Juris).
Nach diesen Grundsätzen hat der Beklagte dem Kläger zu Unrecht auf der Grundlage des § 122 BSHG die laufende Hilfe zum Lebensunterhalt über den 01.02.2001 hinaus verweigert. Das Vorliegen einer eheähnlichen Gemeinschaft im Sinne des § 122 BSHG ist nicht zur Überzeugung des Gerichts dargetan worden.
Zwar nutzen der Kläger und Frau J. nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme die Räumlichkeiten der Wohnung im Wesentlichen gemeinsam, obwohl der Kläger in Verfolgung seines eigenen Interesses vorgetragen hat, es bestehe lediglich ein Untermietverhältnis über das Zimmer mit dem Einzelbett und sein Wohnzimmer. Die Beweisaufnahme hat ergeben, dass auch Frau J. zeitweise in dem Zimmer mit dem Einzelbett übernachtet. Auch spricht nichts dafür, dass der Kläger über das in einer ehelichen Gemeinschaft normale Maß hinaus sein Wohnzimmer alleine nutzt. Auch die derzeitige Nutzung des Schlafzimmers durch den Kläger steht der Annahme eines Untermietverhältnisses bezüglich der lediglich zwei Zimmer entgegen.
Auch ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ein gemeinsames Wirtschaften anzunehmen. Frau J. kauft für den Kläger und sich ein, bereitet die Mahlzeiten zu und führt den gesamten Haushalt. Die Kosten wurden bis zur Einstellung der Hilfe zum Lebensunterhalt von dem gemeinsamen Konto bestritten, auch das derzeit noch gewährte Pflegegeld fließt auf dieses Konto und wird offenbar teilweise zum Lebensunterhalt verbraucht, steht aber nach den - glaubwürdigen - Aussagen der Frau J. jedenfalls zum Teil dem Kläger persönlich zur Verfügung. Aus diesem Grunde ist auch ein gemeinsames Wirtschaften anzunehmen.
Die Dauer des Zusammenlebens ist ganz erheblich, da der Kläger bereits Mitte des Jahres 1993 in die Wohnung der Frau J. gezogen ist.
Aber auch bei Vorliegen dieser äußeren Umstände, die als Indizien für die Annahme einer eheähnlichen Gemeinschaft sprechen, ist entsprechend der oben zitierten Rechtsprechung auf das Gesamtbild der und die Intensität der gelebten Gemeinschaft im Sinne einer Verantwortungs- und Einstehungsgemeinschaft abzustellen. Hier ergibt sich nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme, dass zwischen dem Kläger und Frau J. eine solche Gemeinschaft trotz Vorliegens der äußeren Indizien nicht besteht. Aus den Aussagen der Frau J. bezüglich der Dauer und Intensität der Bekanntschaft vor Begründung der Wohngemeinschaft, dem Anlass des Zusammenziehens und der konkreten Lebenssituation der Partner (vgl. BVerwG, E v. 24.06.1999, a.a.O.) ergibt sich, dass eine eheähnliche Gemeinschaft nicht vorliegt. Das Gericht hat während der Vernehmung der Frau J. als Zeugin die Überzeugung von ihrer Glaubwürdigkeit gewonnen. Die Zeugin hat während der Vernehmung ohne Zögern die Geschichte ihrer Beziehung zum Kläger und ihre Motivation, den Kläger in ihre Wohnung aufzunehmen und bei sich zu behalten, sachlich, ohne Übertreibungen, aber doch voll menschlicher Wärme geschildert. So hat sie glaubhaft geschildert, dass sie den Kläger bereits im Jahr 1970 kennen gelernt hatte und dass zu diesem Zeitpunkt keine Liebesbeziehung, sondern eine freundschaftliche Beziehung bestand, in der sie zum Zeitpunkt ihrer eigenen Scheidung ihre Probleme mit dem Kläger besprechen konnte. Erst im Jahre 1993, also 23 Jahre später, haben sie sich im Krankenhaus in W. wieder getroffen. Hier handelt es sich nicht um einen kurzen Zeitraum, wie es der Beklagte in seinem Schriftsatz vom 11.02.2002 mit der Formulierung, man habe sich "bereits im Sommer 1993" wieder getroffen, offenbar nahe legen will. Es lag auch vor dem Zusammenziehen keine lang dauernde vertraute Beziehung im Sinne einer Liebesbeziehung vor. Frau J. hat ihre Motivation, den Kläger in ihrer Wohnung aufzunehmen, dahingehend geschildert, dass der Kläger nach ihrer Auffassung in der Wohnung in F. nicht ausreichend versorgt wurde, und dass sie es aufgrund ihres bisherigen Lebens einfach für selbstverständlich hielt, den Kläger, der ihr nach ihrer Scheidung durch die Gespräche geholfen hatte und der nach ihrer Überzeugung 1993 niemanden anders hatte, aufzunehmen. Dieses für einen Außenstehenden wenig nachvollziehbare Verhalten wurde durch die Erklärung der Frau J. während der Vernehmung für das Gericht durch die sachliche Aussage und ihr selbstverständliches Auftreten nachvollziehbar. Ebenso überzeugend hat Frau J. die Frage des Gerichts beantwortet, warum sie den inzwischen schwerstpflegebedürftigen Kläger, dessen Gesundheitszustand ihr jegliche Bewegungsfreiheit nimmt, nicht jetzt in ein Pflegeheim gibt. Ihre Antwort war, dass der Kläger, der während seiner Anfälle äußerst unwirsch und unfreundlich reagiert, in einem Pflegeheim lediglich ruhig gestellt, eventuell am Bett angebunden werde. Diese Aussage ist für das Gericht, das während des Ortstermins mit dem Kläger eine solche Situation selbst erlebt hat, ohne weiteres nachvollziehbar. Professionelles Pflegepersonal in einem Heim kann in solchen Situationen mit dem Kläger keinesfalls so bestimmt, aber trotzdem voller menschlicher Wärme umgehen, wie Frau J. dies während des Termins gezeigt hat. Nach der Darstellung, die Frau J. glaubhaft von ihrer eigenen Lebensauffassung gegeben hat, ist das Gericht davon überzeugt, dass Frau J. aus eigener moralischer Überzeugung und Verantwortungsbewusstsein jetzt die Entscheidung, den Kläger in ein Pflegeheim zu geben, nicht treffen kann, ohne dass diese Haltung dem Kläger gegenüber eine Verantwortungs- und Einstehungsgemeinschaft im Sinne des § 122 BSHG darstellt. Diese Überzeugung gewinnt das Gericht aus der Aussage der Frau J. zur Frage der Intimität des Zusammenlebens. Zwar führt der Beklagte in seinem Schriftsatz vom 11.02.2002 zu Recht an, dass das vorliegende Zusammenleben auch Einblicke in die Intimsphäre des anderen eröffnet, jedoch ist Frau J. nach ihren glaubhaften Aussagen bemüht, diese Intimität hinsichtlich ihrer Person nur in dem pflegerisch notwendigen Umfang zuzulassen. So hat sie zwar ausgeführt, dass sie selbstverständlich den Kläger nackt sieht, da dies bei den notwendigen pflegerischen Maßnahmen und angesichts des Gesundheitszustandes des Klägers nicht zu umgehen ist. Sie hat aber deutlich gemacht, dass sie eine Intimität im Hinblick auf ihre eigene Körperlichkeit nach Möglichkeit vermeidet. So hat sie dargestellt, dass sie sich nach Möglichkeit nicht in Anwesenheit des Klägers auszieht bzw. die Toilette benutzt und nach Möglichkeit auch vermeidet, dass der Kläger dabei ist, wenn sie sich wäscht. Aus diesen Aussagen wird zur Überzeugung des Gerichts letztendlich deutlich, dass es sich hier nicht um eine intime Beziehung im Sinne eines ehelichen Zusammenlebens handelt, sondern dass nur die Intimitäten geduldet werden, die pflegerisch notwendig sind. Diese Verhaltensweise der Frau J. gegenüber dem Kläger schließt aber zur Überzeugung des Gerichts die Annahme einer eheähnlichen Gemeinschaft im Sinne des § 122 BSHG aus.
Nach alledem steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass zwischen dem Kläger und Frau J. zwar eine Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft besteht, nicht aber eine eheähnliche Gemeinschaft im Sinne des § 122 BSHG, wie sie ihre Ausprägung in der oben zitierten Rechtsprechung gefunden hat.
Dem Kläger steht deshalb ein Anspruch auf die Bewilligung von laufender Hilfe zum Lebensunterhalt ohne Berücksichtigung des Einkommens der Frau J. in gesetzlicher Höhe zu. Die dem entgegenstehenden Bescheide sind aufzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit findet ihre rechtliche Grundlage in § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.