Verwaltungsgericht Braunschweig
Urt. v. 21.03.2002, Az.: 3 A 31/01

betreutes Wohnen; Hilfe; Sicherstellung; örtliche Zuständigkeit

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
21.03.2002
Aktenzeichen
3 A 31/01
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2002, 42321
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Wird ein Hilfeempfänger außerhalb einer stationären Einrichtung untergebracht und von der Einrichtung weiter ambulant betreut, so richtet sich die örtliche Zuständigkeit des Sozialhilfeträgers nach § 97 Abs. 1 Satz 1 BSHG. Ein Fall des § 97 Abs. 1 Satz 2 BSHG ist regelmäßig nicht gegeben.

2. § 103 Abs. 2 BSHG regelt nicht die örtliche Zuständigkeit des Sozialhilfeträgers.

Tenor:

Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens; Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des festzusetzenden Kostenerstattungsbetrages abwenden, wenn nicht der Beklagte zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand:

1

Die Parteien streiten um die Frage der örtlichen Zuständigkeit nach § 97 Bundessozialhilfegesetz - BSHG -.

2

Der dem Personenkreis des § 39 BSHG zuzurechnende Herr W. hatte seinen gewöhnlichen Aufenthalt zunächst im Bereich des Beklagten. In der Zeit vom 25.07.1988 bis 31.08.1999 war er stationär in einem Wohnheim für Behinderte im Bereich des Klägers untergebracht, wo er auch die Werkstatt für Behinderte besucht. Zum 01.09.1999 wechselte Herr W. aus dem Wohnheim in eine eigene Wohnung bzw. Wohngemeinschaft. Dort erhält er von dem bisherigen Einrichtungsträger Hilfe in der Form des ambulant betreuten Einzelwohnens gemeinsam mit anderen geistig behinderten Personen. Er besucht weiterhin die Werkstatt für Behinderte und wird von dem ursprünglichen Einrichtungsträger ambulant betreut. Ihm wurden vom Kläger ab 01.09.1999 Hilfe zum Lebensunterhalt und Eingliederungshilfe vorläufig nach § 43 SGB I bewilligt.

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Der Kläger ist der Auffassung, dass die örtliche Zuständigkeit des Beklagten für die Hilfegewährung gemäß § 97 Abs. 1 Satz 2 BSHG weiterhin gegeben ist. Die im vorliegenden Fall gewährte Hilfe stelle sich anders dar als ein bloßer Bedarf auf Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt im Falle eines Umzuges. Der Wechsel von der stationären Unterbringung in das betreute Wohnen im Zuständigkeitsbereich des gleichen Anbieters stelle eine Fortsetzung der Hilfe im Rahmen eines von vornherein feststehenden Hilfekonzeptes dar und damit einen Anwendungsfall des § 97 Abs. 1 Satz 2 BSHG, zumal bei Herrn W. davon auszugehen sei, dass fortdauernd Hilfe zu gewähren sei. § 97 Abs. 1 Satz 2 BSHG habe das ausdrückliche Ziel, die Zahl der Kostenerstattungsfälle zwischen den Sozialhilfeträgern zu verringern sowie örtliche Sozialhilfeträger, in deren Bereich Einrichtungen betrieben werden, zu schützen. Das OVG Lüneburg habe zur Regelung des § 97 Abs. 2 Satz 1 BSHG a.F. in einem Beschluss vom 20.05.1992 - 4 M 2409/92 - entschieden, dass eine Unterbringung im Sinne dieser Vorschrift die Aufnahme in der Therapieform des betreuten Wohnens darstelle. Auch das Verwaltungsgericht Braunschweig habe mit Beschluss vom 17.01.2000 - 3 B 771/99 - eine Zuständigkeit nach § 79 Abs. 1 Satz 2 BSHG in einem vergleichbaren Fall bejaht.

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Mit der am 25. Januar 2001 erhobenen Klage begehrt der Kläger aus diesem Grunde die Feststellung, dass die örtliche Zuständigkeit für die Gewährung von Sozialhilfe für Herrn W. bei dem Beklagten liegt.

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Der Kläger beantragt,

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festzustellen, dass für die Gewährung von Sozialhilfe (Hilfe zum Lebensunterhalt und Eingliederungshilfe) für Herrn W. die örtliche Zuständigkeit gemäß § 97 Abs. 1 Satz 2 BSHG bei dem Beklagten liegt.

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Der Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

9

Er ist der Auffassung, dass mit dem Übergang in die ambulante Betreuung die Hilfemaßnahme, die in der stationären Unterbringung des Herrn W. bestand, endete und nunmehr eine qualitativ andere Hilfe eingesetzt habe. Diese Hilfe habe er weder veranlasst noch sichergestellt im Sinne des § 97 Abs. 1 Satz 2 BSHG. Der Fall sei deswegen mit dem im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht Braunschweig im Beschluss vom 17.01.2000 behandelten Fall nicht vergleichbar.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze und die herangezogenen Verwaltungsvorgänge der Parteien Bezug genommen, die Gegenstand der Beratung waren.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage ist nicht begründet.

12

Eine örtliche Zuständigkeit des Beklagten nach § 97 Abs. 1 Satz 2 BSHG zur Gewährung von Sozialhilfeleistungen an Herrn W. ist nicht gegeben. § 97 BSHG unterscheidet in den Abs. 1 und 2 bei den Bestimmungen über die örtliche Zuständigkeit der Sozialhilfeträger zwischen der Hilfe in vollstationären Einrichtungen und der offenen Hilfe. Danach bestimmt sich die örtliche Zuständigkeit für die Hilfeleistungen für Herrn W. seit dem 01.09.1999 nicht mehr nach § 97 Abs. 2 Satz 1 BSHG. Nach dieser Bestimmung richtet sich die örtliche Zuständigkeit grundsätzlich nur dann, wenn die Hilfe in einer Anstalt, einem Heim oder einer gleichartigen Einrichtung, d.h. vollstationär, geleistet wird. An dieser Voraussetzung fehlt es im Falle des Herrn W., nachdem dieser in eine Wohngemeinschaft gezogen ist und ein eigenes Mietverhältnis begründet hat und dort ambulant von den Fachkräften der Behinderteneinrichtung betreut wird, bei der er zuvor stationär untergebracht war (vgl. OVG Münster, Urt. v. 30.11.1998 in FEVS 49, S. 476 f.). Dass es sich bei der Herrn W. gewährten Hilfe nicht um eine Hilfe in einer Anstalt, einem Heim oder einer gleichartigen Einrichtung im Sinne des § 97 Abs. 2 Satz 1 BSHG handelt, ist zwischen den Beteiligten nicht umstritten.

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Die Zuständigkeit des Beklagten, die während der Zeit der stationären Unterbringung des Herrn W. aus § 97 Abs. 2 Satz 1 BSHG folgte, ist auch nicht gemäß § 103 Abs. 2 BSHG erhalten geblieben. Nach § 103 Abs. 2 BSHG gilt als Aufenthalt in einer Einrichtung, wenn jemand außerhalb der Einrichtung untergebracht wird, aber in ihrer Betreuung bleibt oder aus der Einrichtung beurlaubt wird. Obwohl einiges dafür spricht, dass der Tatbestand dieser Bestimmung im vorliegenden Fall erfüllt ist, da Herr W. weiterhin von der Lebenshilfe betreut wird, die Wohnung, die er bewohnt, von dieser angemietet ist und er außerdem ein Arbeitsverhältnis bei der dem Einrichtungsträger zugeordneten Werkstatt für Behinderte innehat, so hat dies keine Auswirkungen auf die Zuständigkeit der Sozialhilfeträger. Denn § 103 Abs. 2 BSHG betrifft allein Fragen der Kostenerstattung und nicht die Frage der Zuständigkeit. Aus Sinn und Zweck der Zuständigkeitsregelungen des BSHG folgt keine analoge Anwendung dieser Vorschrift im Zuständigkeitsrecht (vgl. VG Berlin, B. v. 17.03.1998 - 32 A 102/98 in ZfF 1999, S. 272 ff. unter Hinweis auf die andere Ansicht von Brühl, Mein Recht auf Sozialhilfe, 13. Aufl., VIII.1.B.). Das Verwaltungsgericht Berlin weist in der angeführten Entscheidung vom 17.03.1998 zutreffend darauf hin, dass die Interessenlage eine andere ist als bei einer völligen stationären Unterbringung. Die Zuständigkeit des örtlichen Sozialhilfeträgers sei wegen der Vielgestaltigkeit der möglichen Ansprüche in der offenen Hilfe sinnvoll und die Hilfe könne durch einen ortsfremden Sozialhilfeträger nicht in gleicher Weise geleistet werden, während bei der stationären Unterbringung in der Regel nur Abrechnungen mit dem Träger der stationären Einrichtung zu erfolgen hätten, die auch von einem ortsfremden Sozialhilfeträger durchgeführt werden könnten.

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Eine Zuständigkeit des Beklagten folgt auch nicht aus § 97 Abs. 1 Satz 2 BSHG. Gemäß § 97 Abs. 1 Satz 2 BSHG bleibt die Zuständigkeit für Sozialhilfeleistungen eines nach § 97 Abs. 1 Satz 1 BSHG zuständigen Sozialhilfeträgers bis zur Beendigung der Hilfe auch dann bestehen, wenn die Hilfe außerhalb seines Bereichs sichergestellt wird. Denn mit der Anmietung einer Wohnung im Bereich des Klägers und dem Übergang aus der stationären Betreuung in eine ambulante Betreuung wird die konkrete Hilfemaßnahme nicht fortgesetzt, sondern es wird nunmehr eine qualitativ andere Hilfe, nämlich die ambulante Betreuung in der Wohnform des betreuten Wohnens geleistet (vgl. erk. Kammer in den B. v. 20.10.2000 - 3 B 256/00 - und v. 06.12.2000 - 3 B 300/00 - und VG Berlin, B. v. 17.03.1998, a.a.O.). Auch wenn der Hilfeempfänger, wie dies vorliegend der Fall ist, weiterhin in sehr umfassender Betreuung durch die ursprüngliche stationäre Einrichtung verbleibt, so hat doch die ihm gewährte Hilfe eine andere Qualität erlangt. Diese konkrete Hilfemaßnahme, nämlich die ambulante Hilfe im betreuten Wohnen, hat der Beklagte auch weder veranlasst noch sichergestellt im Sinne des § 97 Abs. 1 Satz 2 BSHG. Eine solche Sicherstellung setzt in der Regel ein Hilfekonzept und ein aktives Mitwirken des bisher zuständigen Trägers voraus (vgl. VG Berlin, B. v. 17.03.1998, a.a.O.). Diese Voraussetzungen sind hier - anders als in dem Fall des Verfahrens vor der erkennenden Kammer mit dem Az. 3 B 771/99 - nicht gegeben.

15

Auch eine analoge Anwendung des § 97 Abs. 1 Satz 2 BSHG auf den vorliegenden Fall kommt nicht in Betracht. Dies ist bereits deswegen ausgeschlossen, weil in den Zuständigkeitsvorschriften eine systemwidrige Regelungslücke nicht erkennbar ist (vgl. VG Berlin, B. v. 17.03.1998, a.a.O.). Der der Regelung des § 97 Abs. 2 Satz 1 BSHG zugrunde liegende Gesichtspunkt des Schutzes des Einrichtungsortes kann darum nicht eine analoge Anwendung des § 97 Abs. 1 Satz 2 BSHG und die Annahme einer Zuständigkeit des Beklagten begründen.

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Die Klage ist deswegen mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 i.V.m. § 188 Satz 2 VwGO abzuweisen. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus den §§ 708 i.V.m. 711 ZPO.