Oberlandesgericht Celle
v. 26.04.2001, Az.: 14 U 164/99

Anspruch auf Zahlung eines Schmerzensgeldes wegen eines Verkehrsunfalls; Ersatz eines Verdienstausfallschadens; Ersatz materieller und immaterieller Schäden

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
26.04.2001
Aktenzeichen
14 U 164/99
Entscheidungsform
Teilurteil
Referenz
WKRS 2001, 30498
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2001:0426.14U164.99.0A

Verfahrensgang

vorgehend
LG Verden - 15.06.1999 - AZ: 4 O 61/97

Amtlicher Leitsatz

Zur Schadensersatzpflicht bei einer sog. Konversionsneurose

In dem Rechtsstreit
...
hat der 14. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle
auf die mündliche Verhandlung vom 13. März 2001
durch
den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht ... und
die Richter am Oberlandesgericht ... und ...
für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung des Klägers wird das am 15. Juni 1999 verkündete Urteil des Einzelrichters der 4. Zivilkammer des Landgerichts Verden geändert.

  1. 1.

    Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger über einen vorprozessual gezahlten Betrag von 5.000 DM hinaus ein weiteres Schmerzensgeld in Höhe von 35.000 DM zu zahlen.

  2. 2.

    Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger alle weiteren auf dem Verkehrsunfall vom 3. Juli 1992 auf der Bundesstraße 6 in der Gemarkung W. beruhenden materiellen Schäden zu ersetzen, soweit diese Schadensersatzansprüche nicht die in diesem Rechtsstreit beziffert geltend gemachten Ansprüche des Klägers auf Ersatz seines Verdienstausfallschadens für den Zeitraum vom 1. September 1995 bis zum 30. Juni 1997 betreffen und nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind.

  3. 3.

    Es wird weiter festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger alle nach dem 13. März 2001 entstehenden immateriellen Schäden aus dem Verkehrsunfall vom 3. Juli 1992 auf der Bundesstraße 6 in der Gemarkung W. zu ersetzen, soweit diese derzeit noch nicht hinreichend sicher vorhersehbar sind.

  4. 4.

    Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

    Der Beklagten bleibt nachgelassen, die Zwangsvollstreckung des Klägers durch Sicherheitsleistung in Höhe von 42.000 DM abzuwenden, wenn nicht der Kläger vor der Zwangsvollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.

    Beide Parteien dürfen Sicherheit durch eine unbedingte, unbefristete und selbstschuldnerische Bürgschaft einer deutschen Großbank, öffentlichen Sparkasse oder Volksbank leisten.

  5. 5.

    Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlussurteil vorbehalten.

Beschwer für die Beklagte: über 60.000 DM.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten über das Ausmaß der materiellen und immateriellen Schäden des Klägers aus einem Verkehrsunfall vom 3. Juli 1992 auf der Kreuzung der Bundesstraße 6/ Kreisstraße 34 in W., für dessen Folgen die Beklagte als Haftpflichtversicherung des Unfallgegners dem Grunde nach unbestritten in vollem Umfang einzustehen hat.

2

Zu dem Unfall kam es, als der Kläger mit seinem Kraftrad Honda verkehrsbedingt vor einem Zebrastreifen hielt und der Fahrer des bei der Beklagten haftpflichtversicherten Lkw in Folge Unaufmerksamkeit von hinten auf das Krad auffuhr. Der Kläger, der hierdurch eine Kontusion der Lendenwirbelsäule und einen Bruch des Daumens erlitt, verblieb nach dem Unfall bis zum 5. Juli 1992 stationär im Krankenhaus und war bis Mitte September 1992 arbeitsunfähig krankgeschrieben. Die Beklagte zahlte vorprozessual ein Schmerzensgeld von 5.000 DM.

3

Am 14. September 1992 wurde der Kläger erneut unverschuldet in einen Auffahrunfall verwickelt, für dessen Folgen die Streithelferin des Klägers in vollem Umfang haftet. Bei diesem Unfall erlitt der Kläger eine erstgradige HWSDistorsion und eine Rückenprellung. Nach diesem Unfall war der Kläger bis zum 25. Oktober 1992 arbeitsunfähig krankgeschrieben.

4

Der zum Zeitpunkt des Unfalls am 3. Juli 1992 40 Jahre alte Kläger, der bis zu diesem Unfall als Lehrer für Fachpraxis, Fachrichtung Elektrotechnik, an der Berufsbildenden Schule in C. arbeitete, war in der Folgezeit durch Krankschreibungen verschiedentlich dienstunfähig. Er unterzog sich wegen einer anhaltenden Schmerzsymptomatik unterschiedlichen Untersuchungen und Therapiemaßnahmen, u.a. auch solchen auf neurologischem und psychiatrischem Gebiet. Mit Ablauf des Monats August 1995 wurde der Kläger wegen Dienstunfähigkeit in den Ruhestand versetzt.

5

Mit der Klage hat der Kläger ein weiteres angemessenes Schmerzensgeld von mindestens noch 35.000 DM, den Ersatz seines Verdienstausfallschadens für die Zeit vom 1. September 1995 bis zum 30. Juni 1997 in Höhe von 8.610,86 DM sowie die Feststellung der weiter gehenden Ersatzpflicht der Beklagten für immaterielle und materielle Schäden begehrt.

6

Er hat geltend gemacht, er sei ein Jahr nach dem Unfall vom 3. Juli 1992 zu 50% und seitdem zu 30% in seiner Erwerbsfähigkeit eingeschränkt. Er sei gegen seinen Willen auf Grund von Beeinträchtigungen, die auf diesen Unfall zurückzuführen seien, vorzeitig in den Ruhestand versetzt worden und müsse deshalb u.a. geringere Versorgungsbezüge hinnehmen. Noch heute leide er in Folge der beim Unfall vom 3. Juli 1992 erlittenen Beeinträchtigungen unter erheblichen Schmerzen im Bereich der Lendenwirbel und des Kreuzbeins, die in seine Beine ausstrahlten. Bei Belastung empfinde er reißende Schmerzen im Bereich der oberen Lendenwirbelsäule, aus denen sich ein ständiger Stuhl und Harndrang sowie Erschöpfungszustände entwickelten. Schmerzen aus dem Bereich der mittleren Brustwirbelsäule strahlten in den linken Arm sowie in den Brustraum aus, wodurch Gefühle von Übelkeit und Schwindel, Herzbeschwerden und Atemnot hervorgerufen würden. Die Verspannungen im Wirbelsäulenbereich führten zu Schlafstörungen, Niedergeschlagenheit und Konzentrationsstörungen. Er sei auf Grund dieser anhaltenden Beschwerden nicht in der Lage, seinen Beruf auszuüben oder seinen Tagesablauf auch nur zu planen. Vielmehr müsse er seinen Tagesablauf dem täglichen Krankheitsbild anpassen. Durch dauernde Krankengymnastik und Wärmebehandlung trete gelegentlich eine Besserung ein. Seine Lebensgestaltung sei auf Grund dessen stark eingeschränkt.

7

Der Kläger hat beantragt,

  1. 1.

    die Beklagte zu verurteilen, an ihn ein über den gezahlten Betrag von 5.000 DM hinaus gehendes Schmerzensgeld sowie 8.610,86 DM nebst 4% Zinsen auf 6.500,05 DM ab Rechtshängigkeit sowie 4% Zinsen auf weitere 2.110,81 DM ab dem 17. Juni 1997 zu zahlen,

  2. 2.

    festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihm allen materiellen und immateriellen Schaden zu ersetzen, der ihm aus dem Verkehrsunfall vom 3. Juli 1992 noch entstehen wird, soweit nicht der Anspruch auf einen Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergegangen ist.

8

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

9

Sie hat bestritten, dass die geklagten Beeinträchtigungen des Klägers auf das Unfallereignis vom 3. Juli 1992 zurückzuführen seien. Die Gesundheitsbeeinträchtigungen des Klägers seien vielmehr vollständig ausgeheilt. Soweit tatsächlich noch körperliche Beeinträchtigungen bei ihm festzustellen seien, beruhten diese auf dem zweiten Unfall vom 14. September 1992 und einer sich auf Grund dieses Unfalls entwickelten Konversionsneurose. Das Bestehen eines Verdienstausfallschadens hat die Beklagte mit Nichtwissen bestritten.

10

Das Landgericht hat gemäß Beweisbeschluss vom 22. Juli 1997 (GA 120/121) Beweis durch Einholung medizinischer Sachverständigengutachten erhoben. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das orthopädische Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. R. vom 20. März 1998 (GA 141 - 187) und das psychiatrische Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. N. (Aktendeckel) Bezug genommen.

11

Das Landgericht hat nach der Beweisaufnahme die Klage insgesamt abgewiesen. Auf Grund des orthopädischen Gutachtens stehe fest, dass die unfallbedingten körperlichen Schäden des Klägers, die Kontusion der Lendenwirbelsäule und der Bruch des Daumens, folgenlos ausgeheilt seien. Insoweit sei ein weiteres Schmerzensgeld nicht gerechtfertigt. Die heute noch feststellbaren Beeinträchtigungen beruhten nicht auf unfallabhängigen Veränderungen auf orthopädischem Gebiet. Auf Grund des psychiatrischen Gutachtens sei davon auszugehen, dass beim Kläger eine Konversionsneurose vorliege, die erst durch das zweite Unfallereignis vom 14. September 1992 das Ausmaß einer psychischen Störung erreicht habe. Hierfür habe die Beklagte jedoch nicht einzustehen.

12

Gegen dieses Urteil wendet sich der Kläger mit seiner Berufung, mit der er seine erstinstanzlichen Prozessziele weiterverfolgt. Er wiederholt und vertieft sein Vorbringen und macht geltend, dass bereits der Unfall vom 3. Juli 1992 für die psychischen Schäden ursächlich geworden sei und die Beklagte, soweit keine eindeutige Abgrenzung der Haftungsanteile möglich sei, jedenfalls als Gesamtschuldnerin mit der ... Versicherung, die in vollem Umfang für den Zweitunfall einzustehen habe, hafte.

13

Der Kläger hat der ... Versicherung in der Berufungsinstanz den Streit verkündet, diese ist auf Seiten des Klägers dem Rechtsstreit beigetreten.

14

Der Kläger beantragt,

  1. 1.

    das angefochtene Urteil zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, ihm über den vorprozessual gezahlten Betrag von 5.000 DM hinaus ein weiteres angemessenes Schmerzensgeld sowie 8.610,86 DM nebst 4% Zinsen auf 6.500,05 DM seit Rechtshängigkeit und auf weitere 2.110,81 DM seit dem 17. Juni 1997 zu zahlen,

  2. 2.

    festzustellen, dass die Beklagte (hilfsweise - als Gesamtschuldnerin neben der ... VersicherungsAG, ...) verpflichtet ist, ihm auch allen weiteren materiellen und immateriellen Schaden aus dem Verkehrsunfall vom 3. Juli 1992 zu ersetzen, soweit der Anspruch nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige übergangsberechtigte Dritte übergegangen ist, immaterielle Ansprüche nur insoweit, als sie zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung nicht hinreichend sicher vorhersehbar sind.

15

Die Streithelferin hat sich dem Antrag des Klägers angeschlossen.

16

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

17

Sie macht geltend, dass der Unfall vom 3. Juni 1992 für die Konversionsneurose des Klägers nicht (mit)ursächlich geworden sei. Der Kläger habe nach den Ausführungen im Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. N. diesen Unfall psychisch gut verkraftet. Für die Konversionsneurose und deren Folgeerscheinungen habe allein die Streithelferin einzustehen.

18

Wegen der weiteren Einzelheiten des beiderseitigen Parteivorbringens wird auf den vorgetragenen Inhalt der wechselseitigen Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen Bezug genommen.

19

Der Senat hat gemäß Beweisbeschluss vom 15. Juni 2000 (GA 299/300) durch Einholung eines ergänzenden schriftlichen Sachverständigengutachtens Beweis erhoben. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das ergänzende psychiatrische Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. N. (Aktendeckel) Bezug genommen, das im Einverständnis der Parteien und der Streithelferin von Dr. H. im Senatstermin vom 13. März 2001 mündlich erläutert worden ist.

Entscheidungsgründe

20

Die Berufung ist begründet, soweit der Rechtsstreit im Hinblick auf den Schmerzensgeldanspruch (I.) und im Hinblick auf die Feststellungsanträge (II.) entscheidungsreif ist. Der Rechtsstreit ist hingegen noch nicht entscheidungsreif, soweit der Kläger Ersatz seines bezifferten Verdienstausfallschadens begehrt; insoweit ist weitere Sachaufklärung erforderlich.

21

I.

Die Beklagte haftet dem Kläger gemäß §§ 823 Abs. 1, 830 Abs. 1 Satz 2, 841 Abs. 1 BGB in vollem Umfang auf Zahlung eines weiteren angemessenen Schmerzensgeldes für die bei ihm auf Grund des Unfalls vom 3. Juli 1992 eingetretenen psychischen Schäden nebst hieraus resultierenden körperlichen Folgeerscheinungen.

22

1.

Die Beklagte hat über die unmittelbaren körperlichen Verletzungen des Klägers auch für dessen jetzige Beeinträchtigungen einzustehen, auch wenn diese nicht auf unfallbedingt organischen, sondern psychischen Schäden beruhen. Psychisch vermittelte Gesundheitsschäden fallen ebenfalls unter die Ersatzpflicht der §§ 823, 847 BGB, wenn sie sich als Folge der Verletzungshandlung des Schädigers darstellen. Dies gilt auch, wenn sie auf einer psychischen Fehlverarbeitung des Geschädigten beruhen, soweit hinreichende Gewissheit besteht, dass diese Folge ohne den Unfall nicht eingetreten wäre. Die Zurechnung solcher Schäden scheitert auch nicht daran, dass sie auf einer konstitutiven Schwäche des Verletzten beruhen. Es entspricht ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung, dass sich der Schädiger nicht darauf berufen kann, dass der Schaden nur deshalb eingetreten ist oder ein besonderes Ausmaß erlangt hat, weil der Verletzte in Folge von körperlichen Anomalien oder Dispositionen für die aufgetretene Krankheit besonders anfällig gewesen ist. Dies gilt grundsätzlich auch für psychische Schäden, die aus einer besonderen Labilität des Geschädigten erwachsen. Denn der Schädiger hat keinen Anspruch darauf, so gestellt zu werden, als habe er einen bis dahin Gesunden verletzt (vgl. zu Vorstehendem insgesamt BGH NJW 1998, 813 f.; 810 ff.; 1996, 2425, 2427 [BGH 30.04.1996 - VI ZR 55/95]; 1993, 1523 f. je mit weiteren Nachweisen).

23

So liegt es hier. Das Unfallereignis am 3. Juli 1992 hat beim Kläger zu einer Kontusion der Lendenwirbelsäule und einem Bruch des linken Daumens geführt. Diese nicht nur ganz unwesentlichen Gesundheitsbeeinträchtigungen als unmittelbare Folge des Unfall sind zwischen den Parteien unstreitig.

24

Dass der Kläger weiter gehende Primärverletzungen bei diesem Unfall erlitten hat, hat er nicht bewiesen. Auf Grund des Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. R., dem der Senat folgt, lässt sich insbesondere nicht feststellen, dass es auch zu einem unfallbedingten Bruch des ersten Lendenwirbelkörpers gekommen ist. Vielmehr hat der Sachverständige auf Grund einer nachvollziehbaren Auswertung der Aufnahmen der Wirbelsäule des Klägers ausgeführt, dass die Veränderungen dieses Wirbelkörpers sich als Folge des im Heranwachsendenalter durchlebten Morbus Scheuermann darstellten. Diese Vorerkrankung habe im Verlauf von 20 Jahren zu sekundären degenerativen Veränderungen geführt, wobei die festzustellende Keilwirbeldeformität typisch sei. Diesen Ausführungen ist der Kläger in der Berufungsinstanz nicht mehr entgegengetreten. Auch darüber hinaus hat der Sachverständige die Beschwerdesymptomatik des Klägers nicht auf orthopädische oder neurologische Defekte zurückführen können.

25

2.

Auf Grund der psychiatrischen Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. N. vom 9. März 1999 nebst Ergänzung vom 28. September 2000, das der Sachverständige Dr. H. im Senatstermin erläutert hat, steht jedoch in einer gemäß § 287 ZPO für die haftungsausfüllende Kausalität ausreichenden Wahrscheinlichkeit fest, dass der Kläger in Folge der beim Unfall vom 3. Juli 1992 erlittenen Kontusion der Lendenwirbelsäule und der nachfolgenden Halswirbelsäulendistorsion 1. Grades durch den Unfall vom 14. September 1992 unter schmerzbedingten Bewegungseinschränkungen im Bereich der Hals und Lendenwirbelsäule sowie an Schwindel und Nystagmus bei schnellen Drehbewegungen des Kopfes leidet. Derartige anhaltende somatoforme Schmerzstörungen entsprächen im Zusammenhang mit einer mittelgradigen depressiven Episode mit somatischen Symptomen dem Bild einer Konversionsneurose.

26

Die Sachverständigen haben dabei in ihren schriftlichen und mündlichen Gutachten herausgestellt, dass auch der Unfall vom 3. Juli 1992 für diese Entwicklung des Klägers maßgeblich gewesen sei. Weder der Erst noch der Zweitunfall jeweils für sich allein seien geeignet gewesen, die Konversionsneurose beim Kläger hervorzurufen. Vielmehr habe es beider Unfälle gemeinsam bedurft, um das Ausmaß einer psychiatrischen Störung beim Kläger zu erreichen. Die psychische Symptomatik des Klägers habe mit dem Erstunfall, den der Kläger psychisch zunächst gut verkraftet habe, begonnen und sei durch den folgenden Unfall verstärkt und chronifiziert worden, sodass erst im Zusammenspiel der Folgen beider Unfälle das Leben des Klägers richtungsweisend verändert und eine psychiatrische Störung mit Krankheitswert hervorgerufen worden sei. Diese Störung wäre bei unbeeinträchtigter Entwicklung des Klägers, d.h. ohne die beiden Unfallereignisse, nicht aufgetreten. In diesem Zusammenhang ist es unerheblich, ob dem Kläger vor dem Zweitunfall eine falsche Diagnose über die Möglichkeit einer Lendenwirbelfraktur mitgeteilt worden ist und dieser schon unmittelbar vor dem zweiten Unfall weiter gehende Verletzungen und unmittelbar nach dem Zweitunfall eine Querschnittslähmung fürchtete. Die psychiatrischen Sachverständigen haben sowohl im ergänzenden psychiatrischen Gutachten vom 28. September 2000 als auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat ausgeführt, dass allein maßgeblich für die psychische Entwicklung des Klägers gewesen sei, dass er zum Zeitpunkt des zweiten Unfalls am 14. September 1992 subjektiv Gewissheit gehabt habe, dass seine Wirbelsäule nicht in Ordnung sei. Diese Gewissheit habe er jedoch bereits auf Grund der feststehenden Kontusion der Lendenwirbelsäule gehabt.

27

3.

Eine Ausnahme von der Haftung der Beklagten ist im Streitfall nicht anzuerkennen. An die Grenzen der haftungsrechtlichen Zurechnung psychischer Folgeschäden sind strenge Anforderungen zu stellen. Sie kommen etwa im Fall einer Begehrensneurose oder eines Bagatellschadens in Betracht (BGH NJW 1998, 810 ff.; 813 f. [BGH 11.11.1997 - VI ZR 376/96]). Beides liegt hier nicht vor.

28

a)

Anhaltspunkte für eine Simulation oder Begehrensneurose im engeren Sinn bestehen nicht. Auf Grund der psychiatrischen Gutachten steht fest, dass es sich bei den Folgen der beiden Unfälle nicht um eine Gelegenheitsursache handelt, die der Kläger (bewusst oder unbewusst) zum Anlass genommen hat, einem neurotischen Streben nach Versorgung und Sicherheit nachzugeben und durch die Geltendmachung von Ansprüchen gegen die Beklagte den Schwierigkeiten und Belastungen des Erwerbslebens auszuweichen. Den Gutachten ist vielmehr zu entnehmen, dass die vorliegende Beschwerdesymptomatik aus den für das Leben des Klägers wesentlichen Bedingungsfaktoren abzuleiten ist.

29

b)

Bei der Frage, ob ein Bagatellschaden vorliegt, ist auf die beim Unfall erlittene Primärverletzung abzustellen. Bei der Beurteilung, ob eine Verletzung derart geringfügig ist, dass sie ausnahmsweise den Ausschluss für psychische Folgeschäden nach sich zieht, gelten die gleichen Grundsätze, die nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu der ebenfalls nur ausnahmsweise geltenden Versagung des Ersatzes von immateriellen Schäden gemäß § 847 BGB bei Bagatellverletzungen entwickelt worden sind. Danach kann bei geringfügigen Verletzungen des Körpers oder der Gesundheit ohne wesentliche Beeinträchtigung der Lebensführung und ohne Dauerfolgen eine Entschädigung versagt werden, wenn es sich nur um vorüber gehende, im Alltagsleben typische und häufig auch aus anderen Gründen als einem besonderen Schadensfall entstehende Beeinträchtigungen des Körpers oder des seelischen Wohlbefindens handelt. Damit sind also Beeinträchtigungen gemeint, die sowohl von der Intensität als auch von der Art der Primärverletzung her nur ganz geringfügig sind und üblicherweise den Verletzten nicht nachhaltig beeindrucken, weil er schon auf Grund des Zusammenlebens mit anderen Menschen daran gewöhnt ist, vergleichbaren Störungen seiner Befindlichkeit ausgesetzt zu sein (BGH NJW 1998, 810, 813) [BGH 11.11.1997 - VI ZR 376/96].

30

Um derartige leichte Bagatellverletzungen handelt es sich im Streitfall indes nicht. Die Kontusion der Lendenwirbelsäule sowie der Bruch des Daumens stellen Verletzungen dar, die geeignet sind, das körperliche und seelische Wohlbefinden des Geschädigten durchaus erheblich zu beeinträchtigen. Auch wenn der Sachverständige Prof. Dr. R. in seinem Gutachten ausgeführt hat, dass diese Verletzungen nach rund sechs Wochen ausgeheilt seien, stellen sie keine Beeinträchtigungen dar, die so geringfügig wären, dass sie üblicherweise einen derartig Verletzten nicht nachhaltig beeinträchtigen würden.

31

4.

Für die gesundheitlichen Dauerfolgen aus den Unfällen vom 3. Juli 1992 und vom 14. September 1992 hat die Beklagte gesamtschuldnerisch in vollem Umfang gemäß § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB mit der Streithelferin einzustehen. Nach dieser Vorschrift haften in Fällen, in denen zwei Beteiligte den Schadensfall selbstständig verursacht haben, es sich jedoch nicht sicher feststellen lässt, in welchem Umfang der eine oder der andere den Schaden verursacht hat (so genannte Anteilszweifel, kumulative Gesamtkausalität), beide Schädiger gesamtschuldnerisch. Dies gilt jedoch nur insoweit, als sich nicht sicher feststellen lässt, zu welchem Anteil jeder Schädiger haftet. Deshalb muss gemäß § 287 ZPO versucht werden, die Anteile der Schädiger an der Verursachung des Gesamtschadens im Wege der Schätzung zu ermitteln. Nur soweit dies nicht möglich ist, führt § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB bei Anteilszweifeln zu einer gesamtschuldnerischen Haftung (vgl. Senat, Urt. v. 2. November 2000 - 14 U 277/99 , OLG Report 2001, 71, 73 m.w.N.).

32

Im Streitfall lässt sich nicht schätzen, welchen Anteil jeder der beiden mitursächlichen Unfälle an den Dauerschäden des Klägers gehabt hat. Der Senat hat dies durch Einholung des ergänzenden psychiatrischen Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. N. und der mündlichen Erläuterung des Gutachtens durch den Sachverständigen Dr. H. versucht aufzuklären. Sowohl das schriftliche Ergänzungsgutachten als auch die mündliche Erläuterung durch den Sachverständigen Dr. H. hat jedoch zu keiner Klärung geführt. Insbesondere hat der Sachverständige Dr. H. deutlich darauf hingewiesen, dass aus seiner Sicht eine anteilsmäßige Unterscheidung beider Unfallereignisse nicht möglich sei und lediglich festgestellt werden könne, dass beide Ereignisse miteinander für die Konversionsneurose des Klägers verantwortlich seien. Es sei aus sachverständiger Sicht unmöglich, eine Gewichtung vorzunehmen. Dieses Beweisergebnis geht im Rahmen von § 830 Abs. 1 BGB zu Lasten der Beklagten.

33

5.

Unter Berücksichtigung aller für die Bemessung maßgeblichen Umstände hält der Senat ein Schmerzensgeld von insgesamt 40.000 DM für angemessen.

34

Zum Einen ist zu berücksichtigen, dass der Kläger in den Ruhestand versetzt worden ist und seinen Beruf als Lehrer nicht mehr ausüben kann. Die dauerhaften Beeinträchtigungen, insbesondere die andauernde Schmerzsymptomatik, unter denen der Kläger leidet, haben seine Lebensführung entscheidend beeinträchtigt. Der Kläger erfährt täglich krankheitsbedingt Einschränkungen, die ihm einen großen Teil seiner Lebensqualität nehmen. Eine Lebensgestaltung wie er sie vor den Unfällen praktiziert hat (Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. N. vom 9. März 1999, Seite 8 - 11, 17 - 19), ist ihm nur noch stark eingeschränkt möglich. Das Ausmaß der Lebensbeeinträchtigung rechtfertigt aus diesem Grunde ein erhebliches Schmerzensgeld.

35

Zum Anderen kann der Kläger im Wesentlichen am Leben teilnehmen und bedarf keiner Betreuung. Er ist zwar in seiner Lebensführung eingeschränkt, kann sich jedoch noch ohne Weiteres selbst versorgen. Ferner ist in diesem Zusammenhang zu beachten, dass der größte Teil der geklagten Beschwerden des Klägers auf seine psychische Prädisposition zurückzuführen ist und diese sich im Streitfall erheblich ausgewirkt hat. Dieser Faktor wirkt bei der Bemessung des Schmerzensgeldes, die nach billigem Ermessen erfolgt, anspruchsmindernd (vgl. BGH NJW 1996, 2425, 2427 [BGH 30.04.1996 - VI ZR 55/95]; 1998, 810, 813) [BGH 11.11.1997 - VI ZR 376/96].

36

Nach alledem erscheint dem Senat auch im Hinblick auf vergleichbare Fälle (vgl. Senat, Urteil vom 2. November 2000 - 14 U 277/99 , insoweit nicht abgedruckt in OLG Report 2001, 71 ff.) ein Schmerzensgeld von insgesamt weiteren 35.000 DM als angemessen. Insoweit hat die Berufung in vollem Umfang Erfolg.

37

II.

Die Feststellungsanträge des Klägers sind ebenfalls in vollem Umfang begründet.

38

Auf Grund der Beweisaufnahme steht fest, dass die Beklagte für die Hervorrufung der psychischen Störungen des Klägers und deren Folgen einzustehen hat. Insoweit reicht für die Annahme eines Feststellungsinteresses aus, dass für den Kläger bei verständiger Beurteilung Grund zu der Annahme besteht, mit ersatzpflichtigen Spätfolgen sei wenigstens zu rechnen (vgl. BGH NJW 1993, 1523, 1524). Dies ist hier der Fall.

39

1.

Bei gesundheitlichen Dauerfolgen sind an die Möglichkeit weiterer Erkrankungen des Klägers oder erforderlich werdender Behandlung, die ihrerseits weiteren immateriellen Schaden begründen können, keine hohen Anforderungen zu stellen. Es ist zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Senat nicht auszuschließen, dass dem Kläger weitere unfallbedingte immaterielle Schäden drohen, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht sicher voraussehbar sind.

40

2.

Fernerhin war auch dem Feststellungsantrag bezüglich der nicht bezifferten materiellen Schäden zu entsprechen. Es ist bereits auf Grund der psychiatrischen Gutachten nicht absehbar, ob und wann sich die psychische Erkrankung und ihre Folgeerscheinungen künftig bessern werden. Es liegt deshalb auf der Hand, dass weiter gehende materielle Aufwendungen etwa für weitere Behandlungen nicht ausgeschlossen sind. Desgleichen steht zu erwarten, dass über die für den Zeitraum vom 1. September 1995 bis zum 30. Juni 1997 bezifferten hinaus weitere Verdienstausfallschäden entstehen können, weil nach den einschlägigen versorgungsrechtlichen Bestimmungen die Ruhegehälter unter den sonst erzielten Nettoeinkünften liegen. Auch insoweit hat der Kläger demnach ein rechtliches Interesse an der Feststellung der Schadensersatzpflicht der Beklagten für materielle Ansprüche.

41

3.

Für eine Begrenzung der Feststellungsanträge nach Dauer und Höhe besteht im Streitfall kein Anlass. Eine solche Begrenzung hat die Beklagte in der Berufungsinstanz auch nicht geltend gemacht. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme lassen sich Anhaltspunkte hierfür nicht erkennen. Es steht hiernach nicht mit hinreichender Gewissheit fest, dass auf Grund der psychischen Prädisposition des Klägers zu erwarten war, dass er auch unfallunabhängig den Belastungen des Lebens - etwa denen in Familie oder Beruf - auf längere Sicht nicht gewachsen gewesen wäre und es bei ihm über kurz oder lang zu einer vergleichbaren psychiatrischen Fehlreaktion mit der daraus resultierenden Schmerzsymptomatik gekommen wäre. Im schriftlichen Gutachten von Prof. Dr. N. vom 20. März 1999 heißt es zwar, dass es ohne den Unfall beim Kläger "zu diesem Zeitpunkt" nicht zu einer psychiatrischen Störung gekommen wäre (Seite 38 des Gutachtens). Sowohl aus dem Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. N. als auch auf Grund der mündlichen Erläuterung des Sachverständigen Dr. H. im Senatstermin kann aber nicht der Schluss gezogen werden, dass beim Kläger eine Begehrens oder Rentenneurose vorgelegen hat, die in jedem Fall oder mit großer Wahrscheinlichkeit früher oder später zum Tragen gekommen wäre. Die Gutachten ergeben vielmehr, dass der Kläger bis zu den Unfällen psychisch unauffällig und gesund gewesen ist und erst das Erleben der Unfälle vom 3. Juli und 14. September 1992 mit ihren gesundheitlichen Folgen für den Kläger seine Konversionsneurose ausgelöst haben. Dieser Befund rechtfertigt jedoch weder eine zeitliche noch eine Einschränkung der Ansprüche der Höhe nach. Auch insoweit hat die Berufung des Klägers vollen Erfolg.

42

III.

Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 708 Nr. 10, 711, 108 Abs. 1 Satz 1, 546 Abs. 2 Satz 1 ZPO.