Oberlandesgericht Celle
Urt. v. 09.04.2001, Az.: 1 U 33/00

Beweislastverteilung bei Feststellung eines schweren Behandlungsfehlers; Behandlungsfehler auf Grund der Überschreitung des zulässigen Zeitraumes für einen Druckverband und Nichtanwendung einer Standardmethode zur Bekämpfung des Risikos einer Nervschädigung; Beweiserleichterung für den Patienten im Rahmen der haftungsbegründenen Kausalität

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
09.04.2001
Aktenzeichen
1 U 33/00
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2001, 30504
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2001:0409.1U33.00.0A

Verfahrensgang

vorgehend
LG Hannover - 25.05.2000 - AZ: 19 O 7/97

In dem Rechtsstreit ...
hat der 1. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle
auf die mündliche Verhandlung vom 2. April 2001
durch
den Vizepräsidenten des Oberlandesgerichts ....... und
die Richter am Oberlandesgericht ....... und .......
fürRecht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung wird das am 25. Mai 2000 verkündete Urteil der 19. Zivilkammer des Landgerichts Hannover abgeändert.

Der Beklagte wird verurteilt, der Klägerin 4.000 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 14. Mai 1996 zu zahlen.

Von den Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens trägt die Klägerin 65 % und der Beklagte 35 %.

Der Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Wert der Beschwer: unter 60.000 DM

Entscheidungsgründe

1

Die Berufung ist begründet.

2

Es ist davon auszugehen, dass die Ärzte des Beklagten die ausgedehnte Spannungsblase am proximalen li. Fußrückenübergreifend auf die dorsale Knöchelregion und die temporäre Druckschädigung an sensiblen Ästen des N. tibialis und /oder des N. peronaeus grob fehlerhaft verursacht haben. Das hat zur Folge, dass die Ursächlichkeit des Sorgfaltsmangels für den Schaden vermutet wird und der Beklagte eine fehlende Ursächlichkeit beweisen muss. Dazu ist er aber nicht in der Lage.

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Im Einzelnen:

4

1.

Schaden

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Die ausgedehnte Spannungsblase ist unstreitig. Ferner ist in dem Bericht der Orthopädischen Klinik des Beklagten vom 16. Dezember 1993 als (in dieser Klinik erhobener) Befund u. a. eine deutliche Hypästhesie im gesamten Fußrückenbereich vermerkt. Die Neurologin Dr. ....... berichtet in ihrem Schreiben vom 18. Oktober 1996 an die erstinstanzlichen Prozessbevollmächtigten der Klägerin von diskreten motorischen und sensiblen Ausfällen im Versorgungsgebiet des N. tibialis.

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2.

Behandlungsfehler

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a)

Der Kompressionsverband hatte, wie Dr. ....... in seinem Gutachten ausgeführt hat, seine Funktion spätestens am 1. postoperativen Tag erfüllt, weil dann nicht mehr mit einer vermehrten Blutungsneigung gerechnet werden musste, wenn der Verband entfernt wird. Die körpereigene Blutgerinnung, der Gewebedruck des Umgebungsgewebes und die abgeschlossene reaktive Hyperämie nach der Blutleere machen eine Spätblutung bei einem Vorfußeingriff nach dem 1. postoperativen Tag unmöglich, so dass die Notwendigkeit eines Druckverbandes nicht mehr besteht. Tatsächlich ist der Verband aber erst am 3. postoperativen Tag entfernt worden.

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b)

Klagt ein Patient über einen zu engen oder störenden Druckverband, muss der Verband unverzüglich gelockert bzw. entfernt werden und muss ggf. neu verbunden werden. Ein zu stramm angelegter Druckverband führt auf Grund des vermehrten Drucks auf das Gewebe zu einer Minderdurchblutung des "abgeschnürten" Gewebes. Aufgrund dieser Minderdurchblutung kann es zu Ernährungsstörungen sämtlicher von diesem vermehrten Druck betroffenen Strukturen kommen. Größe und Intensität von Spannungsblasen hängen dann davon ab, wie früh ein ggf. zu enger Druckverband gelockert bzw. abgenommen wird.

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Der N. tibialis befindet sich im Bereich des Sprunggelenks dicht unter der Haut. Damit kann ein Druckverband, der auf Grund der relativ oberflächlichen Lage dieses Nervs auch speziell einen Druck auf diesen ausübt, zu Ernährungsstörungen des Nervs infolge einer Durchblutungsminderung der diesen Nerv umgebenden Blutgefäße führen. Wenn ein derartiger Druck mehrere Tage, unter Umständen sogar nur mehrere Stunden, ausgeübt wird, sind bleibende Nervenschäden zu erwarten.

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In seinem Ergänzungsgutachten hat Dr. ....... weiter ausgeführt, dass infolge der Spinalanästhesie eine länger dauernde vollständige Gefühls- und Schmerzausschaltung in den Beinen verursacht wird. Anschließend steht für den Patienten der reine Operationsschmerz im Vordergrund, der durch starke morphinhaltige Medikamente herabgesetzt wird, so dass etwa vorhandene Nervenbeeinträchtigungen vom Patienten und damit auch vom behandelnden Arzt erst alarmierend längere Zeit post operationem bemerkt werden. Deshalb ist die unverzügliche Kontrolle eines Druckverbandes, wenn der Patient darüber klagt, unerlässlich.

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Nach dem Ergebnis der erstinstanzlichen Beweisaufnahme hat die Klägerin fortlaufend auch gegenüber dem Pflegepersonal über Druckschmerzen geklagt. Damit war die postoperative Behandlung jedenfalls ab dem 2. postoperativen Tag doppelt fehlerhaft: keine allemal gebotene Abnahme des Verbandes und keine Reaktion auf die geklagten Schmerzen.

12

c)

Ob ein schwerer Behandlungsfehler vorliegt, richtet sich nach den tatsächlichen Umständen des Einzelfalls. Es genügt nicht schon ein Versagen, wie es einem hinreichend befähigten und allgemein verantworungsbewußten Arzt zwar zum Verschulden gereicht, aber doch "passieren kann". Es muss vielmehr ein Fehlverhalten vorliegen, das zwar nicht notwendig aus subjektiven, in der Person des Arztes liegenden Gründen, aber aus objektiver ärztlicher Sicht bei Anlegung des für einen Arzt geltenden Ausbildungs- und Wissensmaßstabes nicht mehr verständlich und verantwortbar erscheint, weil ein solcher Fehler dem behandelnden Arzt aus dieser Sicht "schlechterdings nicht unterlaufen darf". Das kann etwa der Fall sein, wenn auf eindeutige Befunde nicht nach gefestigten Regeln der ärztlichen Kunst reagiert wird, oder wenn grundlos Standardmethoden zur Bekämpfung möglicher, bekannter Risiken nicht angewandt werden, und wenn besondere Umstände fehlen, die den Vorwurf des Behandlungsfehlers mildern können (BGH NJW 1983, 2080, 2081) [BGH 10.05.1983 - VI ZR 270/81].

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Hier haben die Ärzte des Beklagten den zulässigen Zeitraum für einen Druckverband weit überschritten und eine Standardmethode zur Bekämpfung des bekannten Risikos einer Nervschädigung nicht angewandt. Die verspätete Abnahme des Verbandes war, wie sich aus der Aussage von Dr. ....... ergibt, nicht etwa ein Ereignis, das i. S. der o. a. Definition "passieren kann", sondern entspricht einer beim Beklagten ständig geübten und nach den obigen Ausführungen unvertretbaren Praxis. Umstände, die den Vorwurf eines Behandlungsfehlers mildern können, werden vom Beklagten nicht behauptet.

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3.

Kausalität

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Bei der haftungsbegründeten Kausalität greifen - wie gesagt - für den Patienten Beweiserleichterungen ein, wenn ein grober Behandlungsfehler festgestellt ist. Das ist keine Sanktion für Arztverschulden, sondern ein Ausgleich dafür, dass das Spektrum der für die Schädigung in Betracht kommenden Ursachen gerade durch den Fehler besonders verbreitert bzw. verschoben worden ist (Steffen/Dressler, Arzthaftungsrecht, 8. Auflage, Rnr. 515 mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs). Ausnahmsweise kann allerdings die Beweiserleichterung ausgeschlossen sein, wenn der Kausalzusammenhang ganz unwahrscheinlich ist (a. a. O. Rnr. 520). Das ist hier jedoch nicht der Fall, wie sich aus den Gutachten des Orthopäden Dr. ....... und des Neurologen Dr. ....... ergibt.

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4.

Höhe des Schmerzensgeldes

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Ein Schmerzensgeld von 4.000 DM ist zum Ausgleich aller Nachteile für das körperliche und seelische Wohlbefinden der Klägerin und zu deren Genugtuung

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angemessen ( § 847 Abs. 1 BGB; vgl. auch das unter der Nr. 695 bei Hacks-Ring-Böhm, Schmerzensgeldbeträge, 19. Auflage, mitgeteilte Urteil, das der Senat bei der Bemessung des Schmerzensgeldes aus Gründen der Rechtssicherheit und der Gleichbehandlung aller Geschädigten berücksichtigen muss). Die Klägerin hat eine längere Zeit offene und sezernierende große Wunde erlitten. Die (passagere) Nervenstörung war therapierefraktär und ging ebenfalls erst nach längerer Zeit spontan zurück.

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5.

Nebenentscheidungen

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO und die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf den § 708 Nr. 10, 711 und 713 ZPO.