Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 30.06.1999, Az.: XIII 487/97 Ki

Gewährung von Kindergeld trotz Waisenrente; Ermittlung und Berücksichtigung von auf das Kindergeld anrechenbaren Bezügen; Anrechenbarkeit von dem Unterhalt oder der Berufsausbildung dienender oder dazu geeigneter Bezüge; Zum Begriffspaar Einkünfte und Bezüge im Rahmen der Kindergeldgewährung

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
30.06.1999
Aktenzeichen
XIII 487/97 Ki
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1999, 20691
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:FGNI:1999:0630.XIII487.97KI.0A

Verfahrensgegenstand

Kindergeld

Amtlicher Leitsatz

Versorgungsfreibetrag bei der Ermittlung eigener Einkünfte und Bezüge des Kindes nicht anrechenbar auf 12.000,00 DM-Grenze des§ 32 Abs. 3 Satz 3 EStG

In dem Rechtsstreit
hat der XIII. Senat des Niedersächsischen Finanzgerichts
nach mündlicher Verhandlung in der Sitzung vom 30. Juni 1999,
an der mitgewirkt haben:
1. Vorsitzender Richter ... am Finanzgericht ...
2. Richter am Finanzgericht ...
3. Richterin am Finanzgericht ...
4. ehrenamtlicher Richter ... Kaufmann
5. ehrenamtliche Richterin ... Angestellte
für Recht erkannt:

Tenor:

Unter Aufhebung der Bescheide vom 16. April 1997 und der Einspruchsbescheide vom 12. September 1997 wird der Beklagte verpflichtet, ab 1. Januar 1997 Kindergeld ingesetzlicher Höhe für die Kinder A und J zu zahlen.

Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der an die Klägerin zu erstattenden Kosten abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit leistet.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin ab Januar 1997 Anspruch auf Kindergeld für ihre Kinder A, geboren am 24. Februar 1972, und J, geboren am 3. Oktober 1974, hat oder ob das Kindergeld wegen Berücksichtigung des Versorgungsfreibetrages nach§ 19 Abs. 2 EStG bei der Waisenrente entfällt.

2

Die Klägerin ist die Witwe des am 11. April 1988 verstorbenen Realschullehrers K. Die beiden Kinder A und J beziehen seit dem Tode ihres Vaters eine Waisenrente nach den Grundsätzen des Beamtenversorgungsgesetzes.

3

Mit gleichlautenden Schreiben vom 16. April 1997 teilte der Beklagte der Klägerin mit, sie habe für das Jahr 1997 keinen Anspruch auf Kindergeld für ihre beiden Kinder, da diese die maßgebliche Einkommensgrenze von 12.000,00 DM pro Jahrüberschritten. Dem Schreiben waren Berechnungen beigefügt, die wie folgt ausgestaltet sind:

Voraussichtliches Waisengeld 01/97-12/9717.097,87 DM
./. Werbungskostenpauschbetrag2.000,00 DM
./. Versorgungsfreibetrag (40%, höchstens 6.000,00 DM)6.000,00 DM
Summe der Einkünfte9.097,87 DM
Bezüge i.S.d. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG Versorgungsfreibetrag6.000,00 DM
./. Kostenpauschale von360,00 DM
Summe der Bezüge5.640,00 DM
Summe der zu berücksichtigenden Einkünfte, Bezüge und Renten14.737,87 DM.
4

Diese Berechnung, die für beide Kinder der Klägerin gleichlautend angestellt worden ist, veranlaßte den Beklagten dazu, der Klägerin das Kindergeld wegen Überschreitens der 12.000,00 DM-Grenze für das Jahr 1997 zu versagen.

5

Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin Einspruch ein und fügte Berechnungen erhöhter Werbungskosten ihrer Kinder bei. Mit Bescheiden vom 12. September 1997 wies der Beklagte die Einsprüche zurück. Er ließ die geltend gemachten Werbungskosten nicht zum Abzug zu, da sie nicht im Zusammenhang mit den Versorgungsbezügen ständen.

6

Dagegen richtet sich die vorliegende Klage, mit der die Klägerin sich im wesentlichen auf ihr Vorbringen im Einspruchsverfahren bezieht.

7

Die Klägerin beantragt,

unter Aufhebung der Bescheide vom 16. April 1997 in der Gestalt der Einspruchsbescheide vom 12. September 1997 den Beklagten zu verpflichten, Kindergeld für die Kinder A und J in gesetzlicher Höhe ab 1. Januar 1997 zu zahlen; für den Fall des Unterliegens der Klägerin die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Streitsache zuzulassen.

8

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen; für den Fall des Unterliegens der Beklagten, die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.

9

Er hält an seiner im Einspruchsbescheid vertretenen Auffassung fest.

Entscheidungsgründe

10

Die Klage hat Erfolg.

11

Die Klägerin hat auch ab Januar 1997 Anspruch auf Kindergeld für A und J. Sie hatten Einkünfte und Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind, von nicht mehr als 12.000,00 DM (1997).

12

Gem. § 31 Satz 1 EStG i.d.F. des Jahressteuergesetzes (JStG) 1996 wird die steuerliche Freistellung eines Einkommensbetrages in Höhe des Existenzminimums eines Kindes durch den Kinderfreibetrag nach § 32 oder durch Kindergeld nach dem X. Abschnitt bewirkt. Für Kinder i.S.d. § 63 hat Anspruch auf Kindergeld nachdem EStG u.a., wer im Inland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (§ 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG). Nach § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG werden als Kinder berücksichtigt Kinder i.S.d.§ 32 Abs. 1 EStG.

13

Bei der Anwendung der vorgenannten Bestimungen gilt § 32 Abs. 3 bis 5 entsprechend (§ 63 Abs. 1 Satz 2 EStG). Nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 EStG wird ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, berücksichtigt, wenn es noch nicht das 27. Lebensjahr vollendet hat und u.a. für einen Beruf ausgebildet wird (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 a EStG) oder u.a. ein freiwilliges soziales Jahr i.S.d. Gesetzes zur Förderung eines freiwilligen sozialen Jahres leistet (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 d EStG). Gem. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG wird nach § 32 Abs. 4 Satz 1 u.a. Nr. 2 a und 2 d ein Kind nur berücksichtigt, wenn es Einkünfte und Bezüge,die zur Bestreitung des Lebensunterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind, von nicht mehr als 12.000,00 DM (1997) bzw. 12.360,00 DM (1998) im Kalenderjahr hat. Bezüge, die für besondere Ausbildungszwecke bestimmt sind, bleiben hierbei außer Ansatz; entsprechendes gilt für Einkünfte, soweit sie für solche Zwecke verwendet werden (§ 32 Abs. 4 Satz 3 Halbsätze 1 und 2 EStG).

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Das Kindergeld wird lt. § 31 Satz 3 EStG als Steuervergütung gezahlt. Als Steuervergütungsanspruch handelt es sich um einen Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 37 Abs. 1 AO), nämlich steuerrechtssystematisch um einen Einkommensteuerüberschuß oder um eine negative Einkommensteuer -ESt - (zu ähnlicher Rechtslage bei negativer Umsatzsteuer Beschluss des Bundesfinanzhofs -BFH- vom 12. April 1994 VII B 278/93, Entscheidungen des Bundesfinanzhofs - BFHE - 174, 8; BFH-Urteil vom 24. Januar 1995 VII R 144/92, Betriebsberater -BB 1995, 1277). Wie sich den Verrechnungsbestimmungen der §§ 31 Satz 5, 36 Abs. 2 Satz 1 und 2, Abs. 6 Satz 1 EStG i.d.F. des JStG 1996 entnehmen läßt, ist das Kindergeld Bestandteil der festzusetzenden EStG (Deutscher Bundestag 13. Wahlperiode, Drucksache 13/1558 vom 31. Mai 1995 Seite 152). Als Besonderheit ergibt sich, dass nach Maßgabe des § 32 Abs. 4 EStG die Besteuerungsgrundlagen Dritter, nämlich der zuberücksichtigenden Kinder (hier: A und J), in die Besteuerungsgrundlagen des Berechtigten, d.h. des Steuerpflichtigen (hier: Klägerin) eingehen. Der Umfang der Besteuerung des Berechtigten richtet sich folglich auch insoweit nach den §§ 2 ff. EStG. Danach gilt im Streitfall unter Zugrundelegung der in den Anlagen (Bl. 28 bzw. 41 FG-Akte) zu den Bescheiden vom16. April 1997 genannten Beträge für die A und J betreffenden Besteuerungsgrundlagen der Klägerin:

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Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit

16

1997

Voraussichtl. Waisengeld 01/97-12/97:17.097,87 DM
./. Arbeitnehmerpauschbetrag2.000,00 DM
./. Freibetrag für Versorgungsbezüge6.000,00 DM
Einkünfte = Summe der Einkünfte
= Gesamtbetrag der Einkünfte
(§ 2 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 3+4 EStG9.097,87 DM
17

Die vorstehend ermittelten Einkünfte überschreiten nicht die für das Streitjahr 1997 maßgebenden Beträge der eigenen Einkünfte und Bezüge von 12.000,00 DM. Denn A und J hatten in beiden Jahren nur Einkünfte, nicht auch Bezüge. Das EStG i.d.F. des JStG verwendet das Begriffspaar "Einkünfte und/oder Bezüge "an mehreren Stellen, u.a. in § 32 Abs. 4 Sätze 2, 3, 5 und 6 als "Einkünfte und Bezüge" bzw. "zustehende Einkünfte und Bezüge",in § 33 a Abs. 1 Satz 4 als "andere Einkünfte oder Bezüge" und in § 33 a Abs. 2 Satz 2 als "eigene Einkünfte und Bezüge". Dieses Begriffspaar ist im Laufe der Zeit von Rechtsprechung, Finanzverwaltungsbehörden und Steuerrechtsliteratur unterschiedlich ausgelegt worden.

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Bereits zu § 33 a Abs. 1 Satz 3 EStG 1955 hat der BFH angemerkt, die Aufführung von Einkünften und Bezügen nebeneinander sei nicht eindeutig. "Einkünfte" seien "Nettoeinkünfte" i.S.d. sieben Einkunftsarten (§ 2 EStG); als "Bezüge" kämen alle anderen nicht einkommensteuerpflichtigen "Roheinnahmen" in Betracht (BFH-Urteil vom 2. März 1957 VI n206/56 u. BStBl III,1957, 228). Im BFH-Urteil vom 31. Januar 1958 VI 207/57 u. BStBl III 1958, 108 wird einerseits erneut darauf hingewiesen, der Wortlaut des Gesetzes sei mehrdeutig und bringe nicht klar zum Ausdruck, was der Gesetzgeber in Wirklichkeit wolle. Da andererseits "Einkünfte und Bezüge" nebeneinander erwähnt wurden, und der daran anknüpfende Relativsatz sich wohl auf beide Begriffe beziehe, das Gesetz also "Einkünfte und Bezüge" gleichsetze, dürfte der Ausdruck Einkünfte nicht i.S.d. § 2 EStG zu verstehen sein. Das Begriffspaar "Einkünfte" oder "Bezüge" sei - abweichend von dem Urteil vom 2. März 1957 VI 206/56 u - ein Pleonasmus, so dass es nicht darauf ankomme, ob es sich bei den "bezogenen Mitteln" um steuerbare oder steuerbefreite Einkünfte i.S.d. EStG handele oder ob die "bezogenen Mittel" überhaupt unter eine Einkunftsart fielen.

19

Hinsichtlich Kinderermäßigung und Kinderfreibetrag i.S.d. § 32 EStG in den Fassungen vor 1965 gab es einen Betrag schädlicher Einkünfte und Bezüge eines in der Berufsausbildung befindlichen Kindes im Gesetz nicht. Das Kind mußte auf Kosten des Steuerpflichtigen unterhalten und für einen Beruf ausgebildet worden sein. In diesem Zusammenhang sollte es nach Meinung der Finanzverwaltungsbehörden und teilweise auch der Rechtsprechung aufeigene mehr oder weniger große Einkünfte und eigenes mehr oder weniger großes Vermögen des in der Berufsausbildung befindlichen Kindes ankommen. Die Finanzverwaltungsbehörden wiesen in ihren Einkommensteuerrichtlinien (EStR) und Lohnsteuerrichtlinien (LStR) teils absolute Beträge, teils "Nichtbeanstandungsgrenzen" zur Beachtung an. Die Rechtsprechung folgte dem teilweise, teilweise verweigerte sie die Anwendung solcher Richtlinien als mit dem GEsetz nicht vereinbar (u.a.m. BFH-Urteile vom 25. Juni 1953 IV 503/52 u. BStBl III 1953, 281; 11. Mai 1962 VI 231/61 u. BStBl III 1962, 340; 13. Juli 1962 VI 277/61 u. BStBl III 1962, 417; 12. Dezember 1962 VI 220/62 u. BStBl III 1963, 136). Das BFH-Urteil vom 10. Januar 1964 VI 72/63 u. BStBl III 1964, 237 lehnte die in den EStR damaliger Fassung zum Ausdruck gebrachte Auffassung ab. Vielmehr stand danach den Eltern, auch wenn ein Kind erhebliche eigene Einkünfte oder erhebliches eigenes Vermögen hatte, aus denen es die Kosten seines Unterhalts oder seiner Berufsausbildung selbst bestreiten könnte, trotzdem ein Kinderfreibetrag nach § 32 Abs. 2 Nr. 2 a bb damaliger Fassung zu, wenn sie nur die kosten des Unterhalts und der Berufsausbildung tatsächlich im wesentlichen aus ihren eigenen Mitteln bestritten hatten.

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Dies veranlaßte den Gesetzgeber, mit Wirkung ab Veranlagungszeitraum 1965 das wirtschaftliche Bedürfnis für die Gewährung eines Kinderfreibetrags in typisierender Weise von der Höhe des Jahresbetrags der "Einkünfte und Bezüge" des Kindes abhängig zu machen (seinerzeit zusammengerechnet 7.200,00 DM = § 32 Abs. 2 Nr. 2 EStG i.d.F. des Steueränderungsgesetzes - StÄndG - 1964). Nunmehr war auch in diesem Zusammenhang zu unterscheiden, was mit "Einkünften", was mit "Bezügen" gemeint sei und worauf sich der anschließende Relativsatz beziehen sollte. Dies gelang der Rechtsprechung dadurch, dass sie den Begriff "Einkünfte" mit demin§ 2 EStG verwendeten Begriff "Einkünfte" bzw. "Gesamtbetrag der Einkünfte" gleichsetzte, weil dieser Grundbegriff des ESt-Rechts in ein und demselben Gesetz nicht unterschiedlich ausgelegt werden dürfe, und dabei streng auf die einkommensteuerrechtliche Systematik abstellte. Aus letzterem ergab sich, dass die einkommensteuerrechtssystematisch zu ermittelnden Einkünfte des Kindes nicht zu dessen Ungunsten um dabei zu berücksichtigende Freibeträge, Pauschbeträge oder sonstige Steuervergünstigungen erhöht werden durften. Daraus folgt ferner zwingend, dass unter "Bezügen" solche Einnahmen verstanden werden mußten, die nicht im Rahmen der einkommensteuerrechtlichen Einkunftsermittlung erfaßt werden, nämlich nicht steuerbare oder im einzelnen für steuerfrei erklärte Einnahmen. Als dritte Konsequenz ergab sich, dass, wenn auch sprachlich nicht eindeutig, "und" -"oder" - siehe BFH-Urteil vom 8. November 1972 VI R 257/71 -,der anschließende Relativsatz allein an den Begriff "Bezüge" anknüpft (BFH-Urteile vom 8. November 1972 VI R 8/71, BStBl II 1973, 142; 8. November 1972 VI R 257/71, BStBl II 1973, 143; 8. November 1972 VI R 24/72, BStBl II 1973, 145; 10. November 1972, VI R 314/70, BStBl II 1973, 147; BFH-Beschluss vom 20. Juni 1974 VI b 29/74, BStBl II 1974, 682).

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In konsequenter Fortführung dieser Rechtsprechung hat das BFH- Urteil vom 5. August 1977 VI R 187/74, BStBl II 1977, 832 zutreffend erkannt, dass der von Versorgungsbezügen nach § 19 Abs. 3 EStG 1974 steuerfrei bleibende Betrag, der Versorgungsfreibetrag, nicht zu den Bezügen eines Kindes gehört, die bei Berechnung der Grenze von 7.200,00 DM nach § 32 Abs. 2 Nr. 2 letzter Satz EStG 1974 zu berücksichtigen sind, und diesen Grundsatz zugleich auf die Anwendung des § 33 a Abs. 1 Satz 3 sowie Abs. 2 Satz 3 EStG 1974 ausgedehnt. Wenn in diesem Zusammenhang Einkünfte solche gem. § 2 Abs. 4 EStG seien, so seien unter Bezügen solche Einnahmen zu verstehen, die nicht im Rahmen der einkommensteuerrechtlichen Einkunftsermittlung erfaßt werden, nämlich nicht steuerbare oder im einzelnen für steuerfrei erklärte Einnahmen. Der Versorgungsfreibetrag als der Teil der Versorgungsbezüge, der nach§ 19 Abs. 3 EStG 1974 steuerfrei bleibt, werde in diesem Sinne im Rahmen der einkommensteuerrechtlichen Einkunftsermittlung erfaßt. Entscheidend sei, dass Versorgungsbezüge dem Grunde nach zu den steuerpflichtigen Einnahmen gehören und dass der Versorgungsfreibetrag erst bei der Einkunftsermittlung berücksichtigt wird. Es obliege der Ent scheidung des Gesetzgebers, an welchem Punkte der Ermittlung des zu versteuernden Einkommens er Freibeträge berücksichtigt wissen will. Erklärt der Gesetzgeber eine bestimmte Einnahme für steuerfrei, so scheidet diese Einnahme bei der Einkunftsermittlung (§ 2 Abs. 4 i.V.m. z.B. § 19 EStG und, wie hinzuzufügen ist,§ 20 EStG) aus. Insoweit liegen i.S.d. § 32 Abs. 2 Nr. 2 letzter Satz EStG 1974 keine "Einkünfte", sondern "Bezüge" vor, bei denen zu prüfen ist, ob sie zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind. Der Versorgungsfreibetrag dagegen ist ebenso wie z.B. der Arbeitnehmerfreibetrag nach § 19 Abs. 2 EStG 1974 - heute Arbeitnehmerpauschbetrag gem. § 9 a Abs. 1 Nr. 1 a EStG - und - wie hinzuzufügen ist, der Sparerfreibetrag gem. § 20 Abs. 4 EStG einschließlich Werbungskostenpauschbetrag nach§ 9 Abs. 1 Nr. 1 b EStG) erst bei der Ermittlung der Einkünfte zu berücksichtigen. Dass dies eindeutig nach dem Gesetz so ist, ergibt sich daraus, dass diese Freibeträge im Zusammenhang mit der Einkunftsermittlung geregelt sind. Da es, wie dieses Urteil zutreffend besondershervorhebt, der Entscheidung des Gesetzgebers obliegt, an welchem Punkt der Ermittlung des zu versteuernden Einkommens (zvE) er Freibeträge berücksichtigt wissen will, war bereits damals einer sich aus einem Schreiben des Bundesministers der Finanzen (BdF) vom 19. November 1973 IV B 3-S2281 - 44/73 II BStBl I 1973, 690 ergebenden gegenteiligen Meinung nicht zu folgen.

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In der Zeit von 1975 bis 1982 entfiel im Rahmen der Tarifvorschrift des § 32 EStG die Berücksichtigung von Kinderfreibeträgen, an deren Stelle Kindergeld trat (Einkommensteuerreformgesetz - EStRG vom 5. August 1974 BStBl I 1974, 530). Nach Wiedereinfügung eines Kinderfreibetrages bzw. von Kinderfreibeträgen in den § 32 EStG ab Veranlagungszeitraum 1983 (Haushaltsbegleitgesetz 1983, BStBl I 1982, 972 sowie Steuersenkungsgesetz 86/88 vom 26. Juni 1985, BStBl I 1985, 391) entfiel die Berücksichtigung eigener Einkünfte und Bezüge des Kindes im Rahmen der Tarifvorschrift des § 32 EStG. Dies galt bis zum Inkrafttreten des JStG 1996 am 1. Januar 1996. Naturgemäß fehlt es für diesen Zeitraum an entsprechender Rechtsprechung. Sie fiel indes an zu den anderen bereits erwähnten und nahezu wortgleichen Tarifvorschriften des § 33 a Abs. 1 und Abs. 2 EStG. Auch insoweit hat die Rechtsprechung ständig daran festgehalten, dass unter dem dort verwendeten Begriff "Einkünfte" diejenigen der Einkunftsarten des§ 2 EStG zu verstehen sind, während unter den Begriff "Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts bestimmt oder geeignet sind", alle Einnahmen fallen, die nicht im Rahmen der einkommensteuerrechtlichen Einkunftsermittlung erfaßt werden, d.h. nicht steuerbare oder für steuerfrei erklärte Einnahmen (u.a.m. BFH-Urteile vom 23. September 1980 VI 53/79, BStBl II 1981, 92; 17. Oktober 1980 VI R 98/77, BStBl II 1981, 158; 31. Juli 1981 VI R 67/78, BStBl II 1981, 805; 7. März 1986 III R 177/80, BStBl II 1986,554; 11. Juli 1990 III R 111/86, BStBl II 1991, 62).

23

Das Finanzgericht (FG) Düsseldorf hat zu § 33 a Abs. 1 Satz 2 und 3 EStG 1990 unter Bezugnahme auf das bereits erwähnte, zum Versorgungsfreibetrag gem. § 19 Abs. 3 EStG ergangene BFH-Urteil vom 5. August 1977 VI R 187/74 erkannt, dass auch nach der Erhöhung des Sparerfreibetrags von 600/1.200,00 DM auf 6.000/12.000,00 DMab dem Veranlagungszeitraum 1993 Einnahmen der unterhaltenen Person aus Kapitalvermögen, soweit sie durch den Sparerfreibetrag von der Besteuerung freigestellt werden, nicht zu den anrechenbaren Bezügen i.S.v. § 33 a Abs. 1 Satz 3 EStG 1990 gehören (Urteil des FG Düsseldorf vom 27. Oktober 1995 14 K 2060/95 E, Entscheidungen der Finanzgerichte -EFG- 1996, 59). Einnahmen aus Kapitalvermögen gehören, wie nunmehr das FG Nürnberg im Urteil vom 10. Februar 1999 V 130/98, mit Leitsatz veröffentlicht in Steuer-Eildienst - StED 1999, 528 auch zu§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG i.d.F. des JStG 1996 ausgeführt hat, in Höhe des Sparerfreibetrags gem.§ 20 Abs. 4 EStG nicht zu den Bezügen i.S. dieser Vorschrift.

24

Die Steuerrechtsliteratur ist unter der Geltung der Tarifvorschrift des § 32 EStG i.d.F. des JStG 1996 zutreffend einhellig der Auffassung, dass die steuerfrei bleibenden Teile von Versorgungsbezügen (§ 19 Abs. 2 EStG sowie der Sparerfreibetrag (§ 20 Abs. 4 EStG) keine Bezüge i.S.d. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG sind, weil sie bereits im Rahmen der einkommensteuerrechtlichen Einkunftsermittelung erfaßt werden (Kanzler in Hermann-Heuer- Raupach § 32 EStG Anm. 135;§ 33 a EStG Anm. 113 ff.; Arndt in Kirchhoff/Söhn EStG§ 33 a Anm. B 128; Schmidt/Glanegger EStG 1997, 1998, 1999, 16., 17., 18. Auflage jeweils § 32 Anm. 28, § 33 a Anm. 32 bis 36; Bilsdorfer Die Information - Inf 1997, 519; Zeitler Deutsche Steuerzeitung - DStZ - 1998, 705).

25

Die Finanzverwaltungsbehörden wollen das ab dem Veranlagungszeitraum 1997 anders sehen. Freilich heißt es noch in dem "Amtlichen ESt-Handbuch 1993" unter R 190 zu § 33 a EStG, zu den nicht anrechenbaren eigenen Bezügen gehörten insbesondere die durch Abzug des Versorgungsfreibetrages (§ 19 Abs. 2 EStG) und des Sparerfreibetrages (§ 20 Abs. 4 EStG) steuerfrei bleibenden Einnahmen.

26

Diese Anweisung wurde wörtlich an derselben Stelle in den "Amtlichen ESt-Handbüchern 1994 und 1995" wiederholt. Erst in den "Amtlichen Handbüchern 1996, 1997 und 1998" wird unter R 190 zu§ 33 a EStG auf R 180 e verwiesen. Dort heißt es nunmehr - zuvor gab es in den "Handbüchern" bzw. Richtlinien (EStR) keine R 180e - u.a., zu den anzusetzenden Bezügen gehörten insbesondere die nach§ 19 Abs. 2, 20 Abs. 4 EStG steuerfrei bleibenden Einkünfte. Darauf scheint die "Neufassung der Dienstanweisung zur Durchführung des steuerlichen Familienleistungsausgleichs, Kindergeld-Merkblatt "des Bundesamtes für Finanzen vom9. April 1998 (BStBl I 1998, 386 ff. - dort: "DA 63.4.21 Abs. 3 Nr. 2" auf Seite 426 sowie "DA 63.4.2.3. Abs. 2 Nr. 4" auf Seite 428 zu beruhen.

27

Der Sinneswandel der Finanzverwaltungsbehörden von den "Handbüchern" 1993, 1994 und 1995 zu den "Handbüchern" 1996, 1997 und 1998 ist begrifflich und steuerrechtssystematisch nicht nachvollziehbar. Denn das Gesetz (§§ 33 a, 32, 19 und 20 EStG) ist von 1996 auf 1997/98 nicht geändert worden. Die Finanzverwaltungsbehörden scheinen ab "Handbuch" 1996 mit Wirkung ab 1997 die einschlägigen Steuerrechtsbegriffe zu verwechseln. Denn wenn die "nach § 19 Abs. 2 und § 20 Abs. 4 EStG steuerfrei bleibenden Einkünfte", d.h. der Versorgungsfreibetrag und der Sparerfreibetrag, Einkünfte sind, dann können es keine Bezüge sein. Sollen es aber Bezüge sein, dann sind es keine Einkünfte. Zutreffend ist daher in den "Handbüchern" bis 1995 unter R 190 zu § 33 a EStG die Rede davon, dass zu den nicht anrechenbareneigenen Bezügen insbesondere die durch Abzug des Versorgungsfreibetrages (§ 19 Abs. 2 EStG) und des Sparerfreibetrages (§ 20 Abs. 4 EStG) steuerfrei bleibenden Ei nnahmen gehören. Es obliegt indes der Entscheidung des G esetzgebers, an welchem Punkte der Ermittlung des zu versteuernden Einkommens er Freibeträge berücksichtigt wissen will (BFH-Urteil vom 5. August 1977 VI R 187/74). Das gilt im Hinblick auf Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz (GG) umso mehr für die Abweichung von der Terminologie und Begrifflichkeit des Gesetzes.

28

Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung (FGO). Die übrigen Nebenentscheidungen beruhen auf§ 151 Abs. 3 FGO i.V.m. den §§ 710, 711 Zivilprozessordnung. Die Revision ist wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen worden, weil die Finanzverwaltungsbehörden das von dem Gestzgeber nicht geänderte Gesetz unter Abweichung von ständiger Rechtsprechung und eigener langjähriger Auslegung handhaben.