Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 18.06.1999, Az.: IX 531/97

Neufestsetzung der Steuer unter Berücksichtigung neuen Vorbringens nach Ablauf einer behördlichen Ausschlussfrist; Zur Befugnis des Finanzgerichts, einen Klägervortrag als verspätet zurückzuweisen; Voraussetzungen und Umfang einer finanzgerichtlichen Verspätungsprüfung; Finanzgerichtliche Behandlung von verspätet vorgebrachten und zur Verzögerung führenden Erklärungen und Beweismitteln

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
18.06.1999
Aktenzeichen
IX 531/97
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1999, 20708
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:FGNI:1999:0618.IX531.97.0A

Verfahrensgegenstand

Einkommensteuer 1994

Amtlicher Leitsatz

Keine Verzögerung im gerichtlichen Verfahren trotz Fristsetzung nach § 364 b AO.

Der IX. Senat des Finanzgerichts Niedersachsen hat
nach mündlicher Verhandlung
in der Sitzung vom 18. Juni 1999,
an der mitgewirkt haben:
Vorsitzender Richter ... am Finanzgericht ... Dr.
Richter am Finanzgericht ...
Richter am Finanzgericht ... Dr.
ehrenamtliche Richterin ... Geschäftsführerin
ehrenamtliche Richterin ... Fachärztin Dr.
fürRecht erkannt:

Tenor:

Die Steuer wird unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 31. Juli 1997 und Änderung des Bescheids vom 20. Januar 1997 auf 51.190,00 DM festgesetzt.

Die Kosten des Rechtsstreits hat der Beklagte zu tragen.

Die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren war notwendig.

Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar.

Der Beklagte darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der zu erstattenden Kosten abwenden, wenn nicht die Kläger zuvor entsprechend Sicherheit leisten.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Steuer aufgrund einer nach Ablauf der Ausschlußfrist eingereichten Einkommensteuererklärung niedriger festzusetzen ist.

2

Die Kläger sind Eheleute. Sie wurden im Streitjahr 1994 zur Einkommensteuer zusammenveranlagt. Da sie trotz Aufforderung keine Steuererklärung abgaben, schätzte der Beklagte (das Finanzamt - FA -) die Besteuerungsgrundlagen und setzte die Steuer durch Bescheid vom 20. Januar 1997 auf 63.836,00 DM fest. Dagegen richtet sich nach erfolglosem Einspruchsverfahren die Klage.

3

Die Klägerin erzielt als S Einkünfte aus selbständiger Arbeit. Der Kläger ist als Angestellter nichtselbständig beschäftigt.

4

Im Rechtsbehelfsverfahren setzte das FA den Klägern durch Verfügung vom 6. Juni 1997 eine Frist nach § 364 b Abs. 1 Nr. 1 Abgabenordnung (AO) zur Abgabe der Steuererklärung bis zum 10. Juli 1997 und belehrte die Kläger über die Rechtsfolgen für den Fall, daß sie ihre Steuererklärung nicht innerhalb der gesetzten Frist einreichen würden.

5

Die Ausschlußfrist wurde nicht eingehalten. Das FA wies den Einspruch durch Bescheid vom 31. Juli 1997 als unbegründet zurück. Am 27. August 1997 ging beim FA die Steuererklärung 1994 ein. Am 25. September 1997 erhoben die Kläger Klage vor dem Finanzgericht.

6

Die Kläger beantragen,

den Einkommensteuerbescheid 1994 vom 20. Januar 1997 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 31. Juli 1997 zu ändern und die Einkommensteuer auf 51.190,00 DM festzusetzen.

7

Das FA beantragt,

die Klage abzuweisen.

8

Es bleibt bei seiner im Einspruchsverfahren vertretenen Rechtsauffassung, die Steuererklärung könne nicht mehr zu einerÄnderung des angefochtenen Steuerbescheids führen, da sie erst nach Ablauf der Ausschlußfrist eingegangen sei. Im übrigen würde die Prüfung der Steuererklärung zu einer Verzögerung des Rechtsstreits führen.

Entscheidungsgründe

9

Die Klage ist begründet.

10

Der Einkommensteuerbescheid 1994 ist rechtswidrig. Die Kläger werden dadurch in ihren Rechten verletzt. Die Steuer ist antragsgemäß unter Berücksichtigung der in der mündlichen Verhandlung berichtigten Steuererklärung 1994 herabzusetzen, denn durch die am 27. August 1997 vorgelegte Einkommensteuererklärung ist keine Verzögerung des Rechtsstreits eingetreten.

11

Gemäß § 76 Abs. 3 Satz 2 FGO gilt für die Zurückweisung von Erklärungen, die erst nach der vom FA gemäß § 364 b Abs. 1 AO gesetzten Frist eingereicht worden sind - wie im Streitfall -, § 79 b Abs. 3 FGO entsprechend. Gemäß § 79 b Abs. 3 FGO kann das Gericht Erklärungen und Beweismittel, die erst nach Ablauf der gesetzten Frist vorgebracht werden, zurückweisen und ohne weitere Ermittlungen entscheiden, wenn u.a. ihre Zulassung nach der freien Überzeugung des Gerichts die Erledigung des Rechtsstreits verzögern würde. Diese Voraussetzung (Verzögerung des Rechtsstreits) liegt zurÜberzeugung des Gerichts nicht vor.

12

Eine Verzögerung des Rechtsstreits ist nicht bereits dadurch eingetreten, daß die Kläger die Steuererklärung nicht innerhalb der vom FA gesetzten Ausschlußfrist eingereicht haben. Für eine Verzögerung des Rechtsstreits im Sinne des § 79 b Abs. 3 Nr. 1 FGO kommt es auch dann, wenn dieser durch die Verweisung in§ 76 Abs. 3 Satz 2 FGO aufgrund der vom FA gesetzten Ausschlußfrist anzuwenden ist, auf das gerichtliche Rechtsmittelverfahren an. Andernfalls wäre die Regelung in § 76 Abs. 3 FGO, wonach das Gericht die nach Ablauf der Ausschlußfrist eingereichten Erklärungen zurückweisen kann und § 79 b Abs. 3 FGO entsprechend gilt, überflüssig. Läge eine Verzögerung des Rechtsstreits bereits dann vor, wenn Erklärungen nach Ablauf der vom FA gesetzten Ausschlussfrist eingereicht werden, würde in jedem Fall des fruchtlosen Ablaufs der Ausschlussfrist eine Verzögerung eintreten und bereits die Erhebung der Klage selbst eine Verzögerung "des Rechtsstreits" (einschließlich des außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahrens) beinhalten. Der Gesetzgeber ist von einem derartigen Verständnis nicht ausgegangen und wollte den Steuerpflichtigen die Möglichkeit der Berücksichtigung ihrer nach Ablauf der Frist eingegangenen Erklärungen nicht endgültig nehmen. Das zeigt sich darin, daß er das Gericht in § 76 Abs. 3 Satz 2 FGO verpflichtet hat, gemäß § 79 b Abs. 3 FGO nach seiner freien Überzeugung zu prüfen, ob die Zulassung der Erklärung die Erledigung des Rechtsstreits verzögern würde.

13

Eine Verzögerung liegt vor, wenn im Zeitpunkt der Entscheidung durch das Gericht, d.h. im Termin zur mündlichen Verhandlung bzw. in der Sitzung, in der mit Zustimmung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden werden soll, die Zulassung des verspäteten Vorbringens weitere Ermittlungen und damit eine Vertagung erforderlich machen würde, während andernfalls die Sache entschieden werden könnte. Nur dann kann das Gericht die verspätet vorgebrachten Erklärungen und Beweismittel zurückweisen.

14

Aus der Verwendung des Begriffs "kann" in § 79 b Abs. 3 als auch in § 76 Abs. 3 Satz 1 FGO folgt, daß es sich dabei um eine Ermessensentscheidung des Gerichts handelt, so daß das Gericht nicht zwingend verpflichtet ist, stets die verspätet vorgebrachten, zur Verzögerung führenden Erklärungen und Beweismittel zurückzuweisen.

15

Unabhängig davon ist eine Verzögerung des Rechtsstreits nach der Rechtsprechung des BFH "nur denkbar, wenn dem Sachvortrag Entscheidungserheblichkeit zukommt. Die vom Finanzgericht zu treffende Entscheidung setzt deshalb zwingend voraus, daß das Gericht in die sachliche Prüfung des Klagebegehrens eingetreten ist" (vgl. BFH, Urteil vom 17. Oktober 1990 I R 118/88, BStBl II 1991, S. 242 ff., Ziff. 3 c zu dem - insoweit mit § 79 b FGO vergleichbaren - Artikel 3 § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VGFGEntlG). Das Finanzgericht muß deshalb als Teil der Sachentscheidung innerhalb der Prüfung der Begründetheit der Klage - und nicht ihrer Zulässigkeit - feststellen, ob die Zulassung verspätet eingereichter Erklärungen und Beweismittel die Erledigung des Rechtsstreits verzögern würde und - bei Vorliegen dieser Voraussetzung - sodann sein Ermessen ausüben, ob es die Erklärungen und Beweismittel zuläßt oder zurückweist.

16

Zur Vorbereitung der Verhandlung ist das Gericht verpflichtet, auch dann, wenn Erklärungen und Beweismittel erst nach Ablauf der vom FA gemäß § 364 b AO gesetzten Ausschlußfrist eingereichtworden sind, den Sachverhalt umfassend zu ermitteln, ggf. unter Setzung weiterer Fristen zur Bezeichnung des Gegenstands des Klagebegehrens gemäß § 65 Abs. 2 Satz 2 FGO und zur Angabe von Tatsachen und Beweismitteln gemäß § 79 b FGO.

17

Das Gericht folgt dem FA, daß § 364 b AO unter diesen Umständen häufig ins Leere gehen kann. Dies darf jedoch nicht dazu führen, abweichend von den gesetzlichen Bestimmungen der§§ 76 Abs. 3, 79 b Abs. 3 FGO zu entscheiden. § 364 b AO bewirkt daher in der Regel eine Arbeitserleichterung nur hinsichtlich der Fälle, in denen die Steuerpflichtigen wegen der gesetzten Ausschlußfrist nach Einspruchsentscheidung keine Klage erheben.

18

Im Streitfall führt die Berücksichtigung der zusammen mit der Klage eingereichten Steuererklärung nicht zu einer Verzögerung des Rechtsstreits. Das FA ist aufgefordert worden, im Rahmen seiner Mitwirkungspflichten sachlich zu den einzelnen lt. Erklärungen anzusetzenden Besteuerungsgrundlagen Stellung zunehmen und eine Prüfberechnung zu übermitteln. Dem hat das FA nicht entsprochen. Substantiierte Einwendungen gegen die erklärten Besteuerungsgrundlagen hat es nicht erhoben, noch sind diese bis auf die korrigierten Positionen "Kinderfreibeträge" und "Steuerberatungskosten" ersichtlich. EineÜberprüfung der Einnahme-Überschußrechnung unter Beiziehung sämtlicher Einzelbelege i.S. einer Außenprüfung hält der Senat für überzogen. Die Gewinnermittlung erscheint schlüssig.

19

Der Rechtsstreit ist kurzfristig nach Eingang der Klage terminiert worden. Die Entscheidung des Gerichts dahingehend, die Einkommensteuer nach Maßgabe der Steuererklärung entsprechend der berichtigten Prüfberechnung des Prozeßbevollmächtigte vom 19. Mai 1999 herabzusetzen, dauert nicht länger als eine Abweisung der Klage.

20

Es ergibt sich demnach ein zu versteuerndes Einkommen von 177.186,00 DM und nach der Splittingtabelle eine Steuer von 51.190,00 DM.

21

Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO, die übrigen Nebenentscheidungen beruhen auf§ 151 Abs. 3 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

22

Im übrigen wird auf §§ 115 bis 121 FGO und Art. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs verwiesen.