Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 07.05.2013, Az.: 6 K 392/12
Voraussetzungen der Nichtigkeit von Schätzungsbescheiden
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 07.05.2013
- Aktenzeichen
- 6 K 392/12
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2013, 56991
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:FGNI:2013:0507.6K392.12.0A
Rechtsgrundlage
- § 125 Abs. 1 AO
Amtlicher Leitsatz
Zu den Voraussetzungen der Nichtigkeit von Schätzungsbescheiden
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Feststellung der Nichtigkeit von Bescheiden der Veranlagungszeiträume 2003 bis 2006.
Die Klägerin, eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung, wurde durch Gesellschaftsvertrag vom 17.03.2002 gegründet. Gegenstand ihres Unternehmens war die Planung und Projektentwicklung umweltfreundlicher Energiesysteme und Technologien, die Erbringung betriebswirtschaftlicher Beratungsleistungen sowie die Erstellung betriebswirtschaftlicher Konzepte und Analysen. Am Stammkapital der Klägerin waren seit Gründung die Gesellschafter X und Y je zur Hälfte beteiligt. Zum Geschäftsführer wurde der Gesellschafter X bestellt.
Für die Veranlagungszeiträume 2002 - 2006 gab die Klägerin weder Steuererklärungen noch Jahresabschlüsse ab. Das seinerzeit zuständige Finanzamt (FA) A erließ am 16.09.2004 für 2002, am 07.03.2005 für 2003, am 22.12.2005 für 2004, am 16.11.2006 für 2005 und am 10.12.2007 für 2006 auf geschätzten Besteuerungsgrundlagen beruhende Steuerbescheide, die es dem Geschäftsführer X unter dessen Wohnanschrift bekannt gab. Darin setzte es Umsatzsteuer fest in Höhe von - 100 EUR in 2002, von 750 EUR in 2003, von 1.400 EUR in 2004, von 2.200 EUR in 2005 und in Höhe von 200 EUR in 2006 fest. Den Körperschaftsteuer- bzw. Gewerbesteuermessbetragsbescheiden legte es Gewinne in Höhe von 0 EUR in 2002 und 2003, von 2.000 EUR in 2004, von 4.000 EUR in 2005 und in Höhe von 2.950 EUR in 2006 zugrunde.
Am 04.09.2007 beantragte das FA A wegen rückständiger Steuern in Höhe von mehr als 3.000 EUR beim Amtsgericht A die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Klägerin. Nach vollständiger Tilgung der rückständigen Steuern erklärte das FA A am 17.10.2007 die Erledigung des Insolvenzantragsverfahrens.
Am 14.11.2009 beantragte der Gesellschafter Y beim Amtsgericht A die Abberufung des bisherigen Geschäftsführers X.
Am 25.04.2010 beschlossen die Gesellschafter der Klägerin deren Auflösung und bestellten Y zum Liquidator.
Bereits am 11.03.2010 hatte der Gesellschafter Y dem FA A mitgeteilt, dass die Klägerin seit ihrer Gründung weder Umsätze noch Gewinne erzielt habe. Steuerunterlagen seien nicht mehr auffindbar. Gleichzeitig legte er Einspruch gegen die Steuerbescheide der Veranlagungszeiträume 2002 - 2006 ein und beantragte am 22.03.2010, sämtliche Steuerfestsetzungen der Jahre 2002 - 2006 auf 0 EUR herabzusetzen.
Mit Ablehnungsbescheid vom 12.04.2010 lehnte das FA A eine Änderung des Steuerfestsetzungen für die Jahre 2002 - 2006 ab. Für die Jahre bis 2004 einschließlich sei Festsetzungsverjährung eingetreten. Rechtsbehelfsverfahren seien für diese Jahre auch nicht anhängig. Für 2005 und 2006 seien die Rechtsbehelfsfristen abgelaufen und Rechtsbehelfe nicht anhängig. Die Anträge auf Änderung der Steuerfestsetzungen seien daher abzulehnen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Ablehnungsbescheid vom 12.04.2012 (Bl. 14 GA 6 K 496/10) Bezug genommen.
Den Einspruch hiergegen wies der inzwischen zuständig gewordene Beklagte durch Einspruchsbescheid vom 12.11.2010 zurück. Wegen der Einzelheiten wird insofern auf die Einspruchsentscheidung (Bl. 10 - 13 GA 6 K 496/10) Bezug genommen.
Die hiergegen gerichtete Klage wies der Senat durch Senatsurteil vom 12.05.2011 - 6 K 496/10 als unbegründet zurück. Wegen der Einzelheiten wird auf das Urteil (Bl. 94 - 104 GA 6 K 496/10) Bezug genommen.
Eine zweite Klage erhob der Liquidator der Klägerin am 26.07.2011 und beantragte Wiedereinsetzung in die abgelaufenen Rechtsbehelfsfristen gegen die Steuerbescheide 2003 bis 2006, hilfsweise die erneute Bekanntgabe der Bescheide, hilfsweise die Aufhebung der Bescheide bzw. Herabsetzung der festgesetzten Steuern auf 0 EUR, hilfsweise die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Bescheide, hilfsweise die Feststellung der Nichtigkeit der Bescheide, hilfsweise den Erlass der durch die Verwaltungsakte festgesetzten und vollstreckten Steuern, Säumniszuschläge und Zwangsgelder beantragte. Das FA A habe von der Klägerin für die Jahre 2003 bis 2007 Steuern in Höhe von mehr als 8.600 EUR festgesetzt und beigetrieben, obwohl die Klägerin keine Umsätze und Gewinne erzielt habe.
Hierdurch sei die Klägerin in ihren Rechten verletzt. Aufgrund eines Hinweises des Berichterstatters auf Zweifel an der Zulässigkeit der Klage im Hinblick auf die Rechtskraft des Urteils in dem Verfahren 6 K 496/10 nahm die Klägerin die Klage 6 K 237/11 am 28.11.2011 zurück.
Mit ihrer nunmehr erhobenen Feststellungsklage vom 24.10.2012 begehrt die Klägerin die Feststellung der Nichtigkeit der Steuerbescheide 2002 bis 2006. Das FA habe durch Bescheid vom 22.05.2012 sowie die nachfolgend ergangene Einspruchsentscheidung vom 04.10.2012 die Feststellung der Nichtigkeit der Steuerbescheide 2002 bis 2006 abgelehnt. Diese Ablehnung sei zu Unrecht erfolgt.
Die Steuerbescheide seien falsch adressiert und litten daher unter schweren Fehlern.
Das FA habe beim Erlass der Steuerbescheide seine Ermittlungspflichten nicht erfüllt. Es habe mit einer Vielzahl von Schreiben an die Klägerin versucht, mit deren gesetzlichen Vertreter Kontakt aufzunehmen. Als dieses misslungen sei, habe das FA Umsätze und Gewinne geschätzt. Tatsächlich habe die Klägerin keine Geschäftsaktivitäten entfaltet, die zu Umsätzen oder Gewinnen geführt hätten. Insofern sei das FA zu weiteren Ermittlungshandlungen verpflichtet gewesen.
Die Finanzbehörde habe der Klägerin rechtliches Gehör verweigert. Im Oktober 2009 habe der damalige Geschäftsführer der Klägerin von Problemen mit dem FA berichtet. Um den Sachverhalt besser beurteilen zu können, habe der heutige Liquidator ab Oktober 2009 versucht, die Details der Steuerbescheide zu erfahren. Zunächst habe er versucht als Gesellschafter beim FA A die Bescheide in Kopie zu erhalten. Die Behörde habe ihn abgewiesen mit der Begründung, er sei hierzu nicht berechtigt. Dies sei geschehen, obwohl der Geschäftsführer das FA über eine psychische Erkrankung unterrichtet habe.
Die Verwaltungsakte seien unbegründet. Er habe das FA persönlich und schriftlich immer wieder darauf hingewiesen, dass die Klägerin in den Jahren 2002 bis 2007 keine Umsätze und Gewinne erzielt habe.
Die Schätzungen der Finanzbehörde seien rechtswidrig und willkürlich. Die Klägerin habe aus subjektiver Sicht der Finanzbehörde ihre Mitwirkungspflichten nicht erfüllt. Aufgrund der Erkrankung des Geschäftsführers sei deren Umfang jedoch objektiv auf null reduziert. Insofern habe keine Verletzung der Mitwirkungspflicht vorgelegen. Auch habe die Finanzbehörde keine zumutbaren Ermittlungsmethoden zur zeitnahen Beschaffung weiteren Informationen ergriffen. Daher seien die Schätzungen nicht gerechtfertigt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des klägerischen Vorbringens wird auf den Schriftsatz der Klägerin vom 29.10.2012 nebst Anlagen (Bl. 2 - 65 GA) Bezug genommen.
Soweit die Klägerin auch Klage auf Feststellung der Nichtigkeit der Körperschaftsteuer- und der Gewerbesteuermessbetragsbescheide 2002 - 2003 und des Umsatzsteuerbescheides 2002 erhoben, hat der Einzelrichter das Verfahren insoweit - nach Rücknahme der Klage in der mündlichen Verhandlung - abgetrennt und unter einem neu zu vergebenden Aktenzeichen eingestellt.
Die Klägerin beantragt,
die Nichtigkeit der Körperschaftsteuer- und Gewerbesteuermessbetragsbescheide 2004 - 2006 sowie der Umsatzsteuerbescheide 2003 - 2006 festzustellen,
hilfsweise die ursprünglichen Bescheide vom 07.03.2005 für 2003, vom 22.12.2005 für 2004, vom 16.11.2006 für 2005 und vom 10.12.2007 für 2006 unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 22.05.2012 sowie des nachfolgend ergangenen Einspruchsbescheides vom 04.10.2012 aufzuheben und die Klägerin neu zu bescheiden.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er nimmt zur Begründung seines Antrages auf die Einspruchsentscheidung vom 04.10.2012 (Bl. 23 - 27 GA) Bezug.
Der Senat hat den Rechtsstreit durch Beschluss vom 07.03.2013 dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
Entscheidungsgründe
Die Klage hat insgesamt keinen Erfolg.
1. Gegen die Zulässigkeit der Klage bestehen Bedenken.
a) Die Klägerin betreibt dieses Verfahren einzig und allein in der Absicht, nach einem stattgebenden Urteil gegen den Beklagten einen Erstattungsanspruch nach § 37 Abs. 2 AO auf Rückforderung rechtsgrundloser Steuern der Veranlagungszeiträume 2003 - 2006 geltend zu machen. Einem solchen Erstattungsanspruch dürfte der Ablauf der fünfjährigen Zahlungsverjährung nach § 228 AO entgegenstehen, da die streitbefangenen Steuern ausweislich einer dem Gericht übersandten und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten I-Abfrage vom 29.04.2013 in den Jahren 2006 und 2007 geleistet wurden und die Klägerin selbst nicht angegeben hat, verjährungsunterbrechende Handlungen vorgenommen zu haben.
Insofern bestehen Zweifel, ob die Klägerin über ein Rechtsschutzbedürfnis an dem Betreiben dieses Rechtsstreits verfügt. Zugunsten der Klägerin geht das Gericht gleichwohl von der Zulässigkeit der Klage aus.
b) Zweifel an der Zulässigkeit könnten sich aufgrund der Rechtskraft (§ 110 FGO) des Senatsurteils vom 12.05.2011 6 K 496/10 ergeben.
Nach § 110 Abs. 1 FGO binden rechtkräftige Urteile die Beteiligten, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist.
Gegenstand des Verfahrens 6 K 496/10 war eine Feststellungsklage der Klägerin gegen die Steuerbescheide 2002 - 2006 nach Eintritt der Unanfechtbarkeit dieser Bescheide und nach Ablehnung eines Antrages auf Aufhebung, im sich die Klägerin auf die Unwirksamkeit der Bescheide berufen hatte. Angesichts der Gesamtumstände wäre eine Auslegung der Klage Nichtigkeitsfeststellungsklage denkbar gewesen. Unter Berücksichtigung des in der mündlichen Verhandlung protokollierten Antrages ("dass festgestellt wird, dass die Steuerbescheide ... der Klägerin nicht wirksam bekannt gegeben worden sind") und der Entscheidungsgründe des Urteils lege ich das Urteil 6 K 496/10 dahingehend aus, dass hierdurch rechtskräftig entschieden wurde, dass die Körperschaftsteuer-, Gewerbesteuermessbetrags- und Umsatzsteuerbescheide 2002 - 2006 der Klägerin wirksam bekannt gegeben worden sind.
2. Die Klage ist aber unbegründet. Die Körperschaftsteuer-, und Gewerbesteuermessbetragsbescheide 2004 - 2006 und die Umsatzsteuerbescheide 2003 - 2006 sind nicht nichtig.
Nach § 125 Abs. 1 AO ist ein Verwaltungsakt -und damit auch ein Steuerbescheid - nur dann nichtig, wenn er an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offenkundig ist.
Diese Voraussetzungen sind nur ausnahmsweise gegeben; in der Regel ist ein rechtswidriger Verwaltungsakt lediglich anfechtbar. Um das Anfechtungserfordernis im Interesse der Rechtssicherheit nicht zu beeinträchtigen, hat die Rechtsprechung einen besonders schwerwiegenden Fehler nur angenommen, wenn er die an eine ordnungsgemäße Verwaltung zu stellenden Anforderungen in einem so hohen Maße verletzt, dass von niemandem erwartet werden kann, den ergangenen Verwaltungsakt als verbindlich anzuerkennen. Ob diese Voraussetzung erfüllt ist, muss anhand der jeweiligen für das Verhalten der Behörde maßgebenden Rechtsvorschriften beurteilt werden (BFH-Urteile vom 20.12.2000 I R 50/00, BStBl II 2001, 381, m.w.N.; vom 15.05.2002 X R 34/99, [...]; BFH-Beschlüsse vom 12.12.2010 VIII B 192/09, BFH/NV 2010, 833 [BFH 10.02.2010 - IX B 176/09]; und vom 20.10.2005 IV B 65/04, BFH/NV 2006, 240 [BFH 20.10.2005 - IV B 65/04]; Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 125 FGO Rz. 4).
Eine Schätzung der Besteuerungsgrundlagen, zu der die Finanzbehörden insbesondere bei Verletzung von Mitwirkungspflichten berechtigt und verpflichtet sind, verlangt die Berücksichtigung aller für die anzuwendende Steuerrechtsnorm einschlägigen Umstände. Die Vorschriften über die Schätzung erlauben es, Tatsachenfeststellungen mit einem geringeren Grad an Überzeugung zu treffen, als dies in der Regel (nach § 88 AO) geboten ist (sog. Reduzierung des Beweismaßes; vgl. BFH-Urteile vom 15.02.1989 X R 16/86, BStBl II 1989, 462; vom 14.08.1991 X R 86/88, BStBl II 1992, 128 [BFH 14.08.1991 - X R 86/88]). Der Grad der grundsätzlich erforderlichen Gewissheit ("Überzeugung") reduziert sich in der Weise, dass der Sachverhalt aufgrund von Wahrscheinlichkeitserwägungen festgestellt werden darf. Dies bedeutet, dass sich das Gericht hinsichtlich nicht feststehender Tatsachen über gegebene Zweifel hinwegsetzen kann. Stets ist freilich vorauszusetzen, dass die Besteuerungsgrundlagen nicht ermittelt oder nicht berechnet werden können (§ 162 Abs. 1 AO). Andererseits ist das gewonnene Schätzungsergebnis nur dann schlüssig, wirtschaftlich möglich und vernünftig (vgl. BFH-Beschluss vom 28.03.2001 VII B 213/00, BFH/NV 2001, 1217, m.w.N.), wenn feststehende Tatsachen berücksichtigt werden. Eine Schätzung erscheint nicht schon deswegen als rechtswidrig, weil sie von den tatsächlichen Verhältnissen abweicht; solche Abweichungen sind notwendig mit einer Schätzung verbunden, die in Unkenntnis der wahren Gegebenheiten erfolgt. Die Schätzung erweist sich vielmehr erst dann als rechtswidrig, wenn sie den durch die Umstände des Falles gezogenen Schätzungsrahmen verlässt. Wird die Schätzung erforderlich, weil der Steuerpflichtige -wie im Streitfall- seiner Erklärungspflicht nicht genügt, kann sich das FA an der oberen Grenze des Schätzungsrahmens orientieren, weil der Steuerpflichtige möglicherweise Einkünfte verheimlichen will (BFH-Beschluss vom 15.05.2002 X R 34/99, [...]; Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 162 AO Rz. 45). Verlässt eine überzogene Schätzung diesen Rahmen, hat dies im Allgemeinen nur die Rechtswidrigkeit der Schätzung, nicht aber bereits ihre Nichtigkeit zur Folge. Nichtigkeit ist selbst bei groben Schätzungsfehlern, die auf der Verkennung der tatsächlichen Gegebenheiten oder der wirtschaftlichen Zusammenhänge beruhen, regelmäßig nicht anzunehmen (BFH-Urteile vom 20.12.2000 I R 50/00, BStBl II 2001, 381; vom 15.05.2002 X R 34/99, [...]). Nichtigkeit ist jedoch anzunehmen, wenn sich das FA nicht nach dem Auftrag des § 162 Abs. 1 AO an den wahrscheinlichen Besteuerungsgrundlagen orientiert, sondern bewusst zum Nachteil des Steuerpflichtigen geschätzt hat. Willkürmaßnahmen, die mit den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Verwaltung schlechterdings nicht zu vereinbaren sind, können einen besonders schweren Fehler i.S. von § 125 Abs. 1 AO abgeben (vgl. BFH-Urteil vom 15.05.2002 X R 34/99, [...]; BFH-Beschluss vom 20.102005 IV B 65/04, BFH/NV 2006, 240 [BFH 20.10.2005 - IV B 65/04]).
Willkürlich und damit nichtig i.S. von § 125 Abs. 1 AO ist ein Schätzungsbescheid nicht nur bei subjektiver Willkür des handelnden Bediensteten. Auch wenn das Schätzungsergebnis trotz vorhandener Möglichkeiten, den Sachverhalt aufzuklären und Schätzungsgrundlagen zu ermitteln, krass von den tatsächlichen Gegebenheiten abweicht und in keiner Weise erkennbar ist, dass überhaupt und ggf. welche Schätzungserwägungen angestellt wurden, wenn somit ein "objektiv willkürlicher" Hoheitsakt vorliegt, ist Nichtigkeit i.S. von § 125 Abs. 1 AO gegeben. Es ist dann davon auszugehen, dass die Schätzung nicht mehr mit der Rechtsordnung und den diese Ordnung tragenden Prinzipien in Einklang steht, da das Finanzamt grundsätzlich gehalten ist, diejenigen Erkenntnismittel, deren Beschaffung und Verwertung ihm zumutbar und möglich gewesen wäre, auszuschöpfen (BFH-Urteil vom 20.12.2000 I R 50/00, BStBl II 2001, 381). Selbst wenn derartige Erkenntnismöglichkeiten und auch andere geeignete Anhaltspunkte für die Schätzung fehlen, muss es Ziel der Schätzung sein, die Besteuerungsgrundlagen annähernd zutreffend zu ermitteln. Die Schätzung darf nicht dazu verwendet werden, "die Steuererklärungspflichtverletzung zu sanktionieren und den Kläger zur Abgabe der Erklärungen anzuhalten" (BFH vom 20.12.2000 I R 50/00, BStBl II 2001, 381); "Strafschätzungen" eher enteignungsgleichen Charakters gilt es zu vermeiden. Jedoch führen auch mehrere grobe Schätzungsfehler bei der Feststellung der Besteuerungsgrundlagen regelmäßig nicht zu der Annahme, das FA habe bewusst zum Nachteil des Steuerpflichtigen geschätzt. Der Schätzungsbescheid ist dann zwar rechtswidrig und anfechtbar, nicht aber nichtig (BFH-Beschluss vom 20.10.2005 IV B 65/04, BFH/NV 2006, 240).
Bei Anwendung dieser Rechtsgrundsätze sind die - wie der Senat durch rechtskräftiges Urteil vom 12.05.2011 in dem Verfahren 6 K 496/10 entschieden hat - wirksam bekanntgegeben Körperschaftsteuer- und Gewerbesteuermessbetragsbescheide 2004 - 2006 und die Umsatzsteuerbescheide 2003 - 2006 nicht nichtig. Denn sie weisen keine so schwerwiegenden Fehler auf, die eine Nichtigkeit der Bescheide zu begründen vermögen.
Der Beklagte war zum Erlass der Schätzungsbescheide berechtigt, weil die Klägerin keine Steuererklärungen und keine Jahresabschlüsse für die Streitjahre abgegeben hat und dadurch ihre steuerliche Mitwirkungspflichten (§ 90 AO) verletzt hat.
Soweit sich der Liquidator der Klägerin in diesem Zusammenhang sinngemäß darauf berufen hat, dass der seinerzeitige Geschäftsführer der Klägerin psychisch krank gewesen sei und daher die ihm obliegenden Steuererklärungspflichten und übrigen Mitwirkungspflichten nicht habe erfüllen, kann das Gericht dieses nicht feststellen. Insofern hat der Liquidator in der mündlichen Verhandlung auch ausdrücklich auf einen Beweisantrag verzichtet und angegeben, dass dieser Umstand einer Beweiserhebung heute nicht mehr zugänglich sei.
Der Höhe nach sind die Schätzungen des Beklagten nicht zu beanstanden; sie sind unter Berücksichtigung der Gesamtumstände durchaus moderat ausgefallen.
Anhaltpunkte für die Versäumung zwingend gebotener Ermittlungspflichten ergeben sich zur Überzeugung des Gerichts weder aus dem Vortrag der Klägerin noch aus den Akten.
Soweit der Liquidator der Klägerin eine Verletzung rechtlichen Gehörs rügt, weil das ursprünglich zuständige FA A ab Oktober 2009 ihm Auskunft und Einsicht in die Akten verweigert habe, weil es ihm an einer Vertretungsberechtigung gefehlt habe, ist dieses schon deshalb nicht entscheidungserheblich, weil die zuletzt bekannt gegeben Bescheide, die streitgegenständlich sind, unter dem 10.12.2007 und damit vor Oktober 2009 ergangen sind.
Nach allem bleibt unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Streitfalls festzuhalten, dass die Bescheide nicht nichtig sind.
3. Die Klage hat auch mit dem Hilfsantrag keinen Erfolg.
Weder aus dem Vortrag der Klägerin noch aus den Akten ergeben sich Anhaltspunkte für eine Berechtigung des Beklagten zu einer Aufhebung oder Änderung der bestandkräftigen Körperschaftsteuer- und Gewerbesteuermessbetragsbescheide 2004 - 2006 und der Umsatzsteuerbescheide 2003 - 2006. Insofern hat der Beklagte eine Änderung der Bescheide bereits mit zutreffenden Erwägungen durch den Ablehnungsbescheid vom 12.04.2010 und den hierzu ergangenen Einspruchsbescheid vom 12.11.2010 abgelehnt.
4. Die Kosten des Rechtsstreits hat die Klägerin als unterlegene Beteiligte zu tragen, § 135 Abs. 1 FGO.