Amtsgericht Göttingen
Beschl. v. 02.10.2007, Az.: 71 IN 227/03

Zuständigkeit des Insolvenzgerichts bei Unzulässigkeit der Zwangsvollstreckung im Hinblick auf ein über ein Vermögen eröffnetes Insolvenzverfahren; Möglichkeit der Hinderung eines Neugläubigers an der Vollstreckung in das Vermögen des Schuldners gem. § 89 Abs. 1 Insolvenzordnung (InsO)

Bibliographie

Gericht
AG Göttingen
Datum
02.10.2007
Aktenzeichen
71 IN 227/03
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2007, 49848
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:AGGOETT:2007:1002.71IN227.03.0A

Fundstellen

  • DGVZ 2008, 27-28
  • DZWIR 2008, 260-261 (Volltext mit amtl. LS)
  • FoVo 2008, 65-67 (Volltext mit red. LS)
  • NJW-Spezial 2008, 23 (Kurzinformation)
  • NZI 2007, VII Heft 12 (amtl. Leitsatz)
  • NZI 2008, 21
  • NZI 2008, 22
  • NZI (Beilage) 2008, 21 (amtl. Leitsatz)
  • ZInsO 2007, 1165-1166 (Volltext mit amtl. LS)
  • ZVI 2007, 573-574 (Volltext mit amtl. LS)

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Beruft sich ein Schuldner auf die Unzulässigkeit der Zwangsvollstreckung im Hinblick auf ein über sein Vermögen eröffnetes Insolvenzverfahren, so ist das Insolvenzgericht zur Entscheidung gem. § 89 Abs. 3 InsO zuständig unabhängig davon, ob der Vollstreckungsgläubiger Insolvenzgläubiger oder Neugläubiger ist.

  2. 2.

    Zu überprüfen sind nicht nur "insolvenzspezifische" Einwendungen, sondern alle Voraussetzungen der Zwangsvollstreckung.

  3. 3.

    Neugläubiger sind gem. § 89 Abs. 1 InsO nicht in jedem Fall an der Vollstreckung in das Vermögen des Schuldners gehindert, sie können in das insolvenzfreie pfändbare Vermögen des Schuldners vollstrecken.

  4. 4.

    Nähere Angaben können von den Neugläubigern nicht verlangt werden, da diese anderenfalls unbillig benachteiligt würden. Vielmehr ist es Aufgabe des Insolvenzverwalters bzw. Schuldners, sich im Wege der Vollstreckungserinnerung gem. § 766 ZPO zu wehren.

  5. 5.

    Neugläubiger können daher

    • den Gerichtsvollzieher in das bewegliche Vermögen des Schuldners vollstrecken lassen und die Abgabe der eidesstattlichen Versicherung verlangen

    • durch die Vollstreckungsrechtspfleger Pfändungs- und Überweisungsbeschlüsse erwirken.

Tenor:

Der Widerspruch des Schuldners vom 20.07.2007 wird zurückgewiesen.

Gründe

1

I.

Über das Vermögen des Schuldners ist mit Beschluss vom 29.03.2004 das Insolvenzverfahren eröffnet worden. Eine Aufhebung des Verfahrens ist bislang nicht erfolgt. Mit Beschluss vom 19.01.2006 verurteilte das Amtsgericht Northeim den Schuldner zur Zahlung eines Betrages vom 1.009,85 EUR an die Vollstreckungsgläubigerin, eine Wohnungseigentümergemeinschaft. Der Verurteilung zugrunde liegen Hauskosten für den Zeitraum 01.01.2004 bis 31.10.2004 aufgrund einer am 16.07.2005 erstellten Abrechnung. Auf die Forderungsanmeldung vom 03.05.2006 teilte der Insolvenzverwalter mit, dass er am 11.05.2004 alle Grundstücke aus dem Insolvenzbeschlag freigegeben habe, so dass entstehende Forderungen grundsätzlich an den Schuldner selbst zu richten seien und nicht zur Tabelle angemeldet werden könnten. Die Forderung der Vollstreckungsgläubigerin wurde (auch nicht teilweise) in die Tabelle aufgenommen.

2

Aufgrund dieser Forderung und eines Kostenfestsetzungsbeschlusses des Amtsgerichtes Northeim vom 03.04.2006 betreibt die Vollstreckungsgläubigerin die Zwangsvollstreckung gegen den Schuldner und hat Antrag auf Bestimmung eines Termines zur Abgabe der eidesstattlichen Versicherung gestellt. Im Termin vom 20.07.2007 hat der Schuldner gem. § 900 Abs. 4 ZPO Widerspruch gegen die Abgabe der eidesstattlichen Versicherung eingelegt mit der Begründung, er habe bereits eine eidesstattliche Versicherung abgegeben, seitdem hätten sich keine wesentlichen Neuerungen ergeben, zudem sei über sein Vermögen ein Insolvenzverfahren eröffnet worden.

3

Die Rechtspflegerin des Vollstreckungsgerichtes Northeim hat die Akten dem Insolvenzgericht Göttingen vorgelegt.

4

II.

Das Insolvenzgericht Göttingen ist zur Entscheidung über den Rechtsbehelf des Schuldners zuständig (1). Die Entscheidung hat der Richter an sich gezogen (2). In der Sache hat der Rechtsbehelf keinen Erfolg (3,4).

5

1)

Zuständig zur Entscheidung über den Rechtsbehelf ist gem. § 89 Abs. 3 Satz 1 InsO das Insolvenzgericht. Das Insolvenzverfahren ist eröffnet und noch nicht aufgehoben worden. In der Sache beruft sich der Schuldner darauf, dass das Vollstreckungsverbot des § 89 Abs. 1 InsO eingreift. Dies genügt bereits, um die Zuständigkeit des Insolvenzgerichtes zu begründen unabhängig von der Frage, ob es sich tatsächlich um Vollstreckung eines Insolvenzgläubigers oder eines Neugläubigers handelt. Im Übrigen wird die Auffassung vertreten, dass das Vollstreckungsverbot des § 89 Abs. 1 InsO auch für Insolvenzgläubiger gelte (siehe unten 3 b). Auch aus diesem Gesichtspunkt folgt die Zuständigkeit des Insolvenzgerichtes.

6

2)

Zuständig zur Entscheidung über den Widerspruch gem. § 900 Abs. 4 ZPO ist der Rechtspfleger gem. § 20 Nr. 17 RpflG. Die Richterzuständigkeit greift nicht ein, da es sich nicht um eine Entscheidung nach § 766 ZPO handelt. Allerdings hat der Insolvenzrichter wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache gem. § 18 Abs. 2 Satz 3 RPflG die Entscheidung an sich gezogen.

7

3)

In der Sache ist der Rechtsbehelf unbegründet.

8

Der Schuldner kann sich nicht darauf berufen, dass er bereits die eidesstattliche Versicherung abgegeben habe und seitdem keine wesentlichen Neuerungen sich ergeben hätten. Die Regelung des § 903 ZPO greift nicht ein. Ausweislich der Mitteilung des Gerichtsvollziehers hat der Schuldner innerhalb der letzten drei Jahre keine eidesstattliche Versicherung abgegeben.

9

Auch wenn es sich dabei nicht um eine "insolvenzspezifische" Einwendung handelt, ist zur Entscheidung darüber das Insolvenzgericht berufen. Andernfalls würden sich gespaltene Zuständigkeiten ergeben, eine verfahrensökonomische Abwickelung wäre nicht mehr gewährleistet (AG Göttingen ZVI 2002, 25, 26 = Rpfleger 2002, 170; FK-InsO/Schmerbach § 6 Rz. 57; a. A. MK-InsO/Ganter § 6 Rz. 63; MK-InsO/Breuer § 89 Rz. 38; Kübler/Prütting/Lüke § 89 Rz. 34).

10

4)

Der Widerspruch gem. § 900 Abs. 4 ZPO ist auch nicht deshalb begründet, da über das Vermögen des Schuldners das Insolvenzverfahren eröffnet und bislang nicht aufgehoben worden ist.

11

a)

Soweit dem Antrag der Vollstreckungsgläubigerin allerdings Ansprüche zugrunde liegen, die vor Verfahrenseröffnung entstanden sind, greift das Vollstreckungsverbot des § 89 Abs. 1 InsO ein. Die Vollstreckungsgläubigerin ist Insolvenzgläubigerin, auch wenn ihre Forderung nicht in die Tabelle eingetragen ist.

12

b)

Anders verhält es sich für die nach der Verfahrenseröffnung am 29.03.2004 angefallenen Forderungen und die Forderung aus dem Kostenfestsetzungsbeschluss des Amtsgerichtes Northeim. Insoweit ist die Vollstreckungsgläubigerin nicht Insolvenzgläubigerin, sondern sogenannte Neugläubigerin.

13

Für Neugläubiger besteht nach Aufhebung des Verfahrerns in der sog. Wohlverhaltensperiode kein Vollstreckungsverbot, die Vorschrift des § 294 Abs. 1 InsO gilt für sie nicht (FK-InsO/Ahrens § 294 Rz. 9). Für den vorherigen Zeitraum zwischen Eröffnung und Aufhebung des Verfahrens werden hingegen auch Neugläubiger dem Vollstreckungsverbot des § 89 Abs. 1 InsO unterworfen. Nach dem Wortlaut sind zwar nur Insolvenzgläubiger an der Vollsteckung gehindert. Das Vollstreckungsverbot wird allerdings auch auf Neugläubiger ausgedehnt mit der Begründung, dass die Insolvenzmasse nur der Befriedigung der Insolvenzgläubiger diene (FK-InsO/App § 89 Rz. 5). Allerdings wird die Einschränkung gemacht, dass die Zwangsvollstreckung in das insolvenzfreie pfändbare Vermögen des Schuldners zulässig ist (MK-InsO/Breuer § 89 Rz. 26). Denkbar ist dies beispielsweise, wenn ein Geschäftsbetrieb des Schuldners (gem. §§ 35 Abs. 2, Abs. 3 InsO) freigegeben wird (PK-HWF-Ries § 89 Rz. 11) Durch eine Freigabe wird der Gegenstand aus dem Insolvenzbeschlag überführt in das insolvenzfreie Vermögen des Schuldners (MK-InsO/Lwowski/Peters § 35 Rz. 115), in das Neugläubiger vollstrecken können (HambK-Lüdtke § 35 Rz. 75), da kein Neuerwerb i.S.d. § 35 Abs. 1 InsO vorliegt (a. A. Uhlenbruck § 89 Rz. 15; Kübler/Prütting/Lüke § 89 Rz. 14). Weiter kommt in Betracht eine Vollstreckung gem. § 89 Abs. 2 Satz 2 InsO in den pfändbaren Differenzbetrag gem. §§ 850d, 850f Abs. 2 ZPO erfolgt (HK-InsO/Eickmann § 89 Rz. 14). Eine Vollstreckungsmöglichkeit liegt zudem auch im Interesse von nach Verfahrenseröffnung (weiter) selbständig tätigen Schuldnern, die ansonsten mit Nichtbelieferung oder anderen Methoden der Forderungsbeitreibung rechnen müssen.

14

c)

Ob die o. g. Voraussetzungen für eine Vollstreckung vorliegen, kann der Gerichtsvollzieher nicht feststellen. Auch für das Vollstreckungs-/Insolvenzgericht ist eine Feststellung jedenfalls ex ante nicht möglich. Im vorliegenden Fall ist der Schuldner ist zur Abgabe der eidesstattlichen Versicherung verpflichtet. Hinzu kommt, dass der Insolvenzverwalter die Eigentumswohnung, aus der die Verpflichtungen herrühren, zeitnah nach Eröffnung am 11.05.2004 sogar freigegeben hat.

15

d)

Insgesamt ist festzuhalten, dass § 89 InsO uneingeschränkt nur die Vollstreckung von Insolvenzgläubigern hindert, von Nachinsolvenz- bzw. Neugläubigern nur eingeschränkt. Für Vollstreckungen von Neugläubiger bedeutet dies, dass

  • der Schuldner zur Abgabe zur eidesstattlichen Versicherung verpflichtet ist

  • der Gerichtsvollzieher in das Vermögen des Schuldners vollstrecken kann

  • Pfändungs- und Überweisungsbeschlüsse erwirkt werden können.

16

Weder Gerichtsvollzieher noch Vollstreckungsrechtspfleger können feststellen, ob die Vollstreckung von den Neugläubigern die Insolvenzmasse (§ 35 Abs. 1 InsO) oder insolvenzfreies, pfändbares Vermögen des Schuldners betrifft (z.B. gem. § 35 Abs. 2, Abs. 3 InsO). Die Neugläubiger dürfen nicht rechtlos gestellt werden. Sie können einen entsprechenden Nachweis nicht führen. Dies ist eher möglich und zumutbar dem Insolvenzverwalter bzw. dem Schuldner, die gegen eine Vollstreckungsmaßnahme Erinnerung gem. § 766 ZPO einlegen können.

Schmerbach, Richter am Amtsgericht